Seit mehr als 400 Jahren werfen Leser Journalisten vor, zu lügen. In der Frühphase der gedruckten Zeitung war Vorsicht geboten. Das wussten die Autoren selbst am besten.
Gelogen haben Zeitungen schon immer. Diese Unterstellung ist weder sonderlich neu noch originell. Doch während der Vorwurf heute diskutabel ist, gab es im 17. Jahrhundert berechtigte Gründe, den Wahrheitsgehalt des geschriebenen und gedruckten Wortes zu bezweifeln. Das wussten die damaligen Journalisten selbst, und scheuten sich nicht, es zuzugeben – eine Entscheidung, die bis heute Folgen hat.
(Bild: Ausgerechnet die Nazis (im Bild Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda Joseph Goebbels), Meister der Lüge und hetzerischen Propaganda, machten das Wort «Lügenpresse» endgültig populär. Als Kampfbegriff denunzierte «Lügenpresse» die gesamte mediale Kritik am NS-Regime und stellte sie als durch den «Bolschewismus» und das «Weltjudentum» gesteuert dar. Auch wenn sich im modernen Journalismus Qualitätsstandards durchgesetzt haben, die Falschmeldungen eigentlich verhindern sollen, werden aber immer noch erstaunliche Zeitungsenten publiziert)
So beginnt die Geschichte der gedruckten Zeitung in Europa mit einer Bitte um Nachsicht: Dass «bissweilen Errata und ungleichheiten» auftauchen, möge der «grossgünstige Leser» bitte verzeihen, schrieb Johann Carolus, der Herausgeber des weltweit ersten gedruckten Zeitungsperiodikums, vor rund 400 Jahren. Der Strassburger Drucker verkaufte seit 1605 eine wöchentliche Ausgabe mit dem Titel Relation. Des Weiteren riet Carolus seinen Lesern, doch bitte «unbeschwert selbsten zu Corrigiren», wenn man eine Fehlmeldung als solche erkenne.
Derart offensive Haltung zu fehlerhafter Berichterstattung war Anfang des 17. Jahrhunderts für viele Zeitungsmacher geboten. Zum einen waren die wenigsten Nachrichten redaktionell auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Weder verfügten die damaligen Zeitungsverleger über eigene Korrespondenten noch bestanden Möglichkeiten zur Überprüfung der Meldungen. Zum anderen bestand dazu überhaupt keine Zeit – schon damals sollten die Nachrichten so aktuell wie möglich sein. Die Zeitungsmacher druckten also nahezu jede verfügbare sowie eingekaufte Nachricht.
Ein anfälliges System
Über Boten- und Postsysteme kauften sie Informationen ein. Die kamen zumeist als handschriftliche Nachrichtenbriefe daher, von Absendern aus europäischen Handelsknotenpunkten, die wiederum auch nur per Post oder Boten einkommende Nachrichten aus anderen Regionen halb professionell sammelten und dann weiterverkauften. Ein anfälliges System.
Es konnten kleine Truppenverbände durch einen Zahlendreher zu grossen Armeen mutieren – die schwedische Armee erschien so beizeiten im Dreissigjährigen Krieg (1618–1648) «auff einige 1000 vergrössert», wie zeitgenössische Journalisten später verwundert feststellten. Osmanische Sultane trugen in europäischen Zeitungen häufig zunächst den Korrespondenzort der Nachricht als Namen, und fern gelegene Städte wurden oftmals erst richtig geschrieben, wenn sie belagert wurden und sich mediale Aufmerksamkeit auf sie richtete.
Gebunden an den Rhythmus der Post sammelten Carolus und Kollegen so lange «neue» brauchbare Nachrichten, bis ihre eigene Zeitung gefüllt war oder der Redaktionsschluss nahte. Oftmals sammelten sie bis zum Morgen des Erscheinungstages Meldungen zusammen. Wie viele seiner Kollegen war sich Carolus sicher, dass die Hauptursache von Fehlern darin liege, dass jede Zeitungsausgabe hauptsächlich «bey der Nacht vor Redaktionsschluss eylend gefertigt werden muss». Dagegen liess sich jedoch nichts unternehmen, nur ehrlich darauf hinweisen.
(Der schwarze Kormoran: Ende Januar 1991 zeigten Fernsehsender weltweit schockierende Bilder von in Öl getränkten Kormoranen, nachdem Saddam Hussein Rohöl in den Persischen Golf strömen liess. Die Bilder erwiesen sich später als plumpe Fälschung (Symbolbild))
Viele Meldungen waren spekulativ formuliert
In den damaligen Flugblättern finden sich zuhauf spielerische Kommentare über die unsichere Meldungsqualität. So heisst es beispielsweise in einem Flugblatt von 1632 zugespitzt: «Von Zeitungsschreibern kömpt Bericht / Soll gar war seyn / vnd kein Gedicht». Das Wahre an den präsentierten Neuigkeiten und Meldungen musste stets individuell kritisch ermittelt werden. Denn «Partheylichkeit», also einseitige und opportune Bewertungen, vermutete man zeitgenössisch in jeder Zeile, auch wenn die Zeitungsmacher sich als nüchterne Kompilatoren von «Nachrichten» verstanden, die Nachricht um Nachricht sachlich unverbunden aneinanderreihten.
Viele Meldungen waren tatsächlich spekulativ formuliert. Als Ausgleich versahen die Verfasser sie mit einem sichtbaren Vermerk, der zur Vorsicht aufrief und zugleich die Fantasie anregte: «N.T.», die lateinische Abkürzung für non testatum, nicht belegt. Der heute noch geläufige Begriff der Zeitungsente hat hier vermutlich seinen Ursprung. Wer regelmässig Zeitungen las, konnte viele dieser Zeitungsenten beobachten. Widersprüchliche und korrigierte Meldungen hielten die Leser permanent zu skeptischer Lektüre an – Zeitungslesen war ein mentales Training zur kritischen Weltwahrnehmung. Zu früh vermeldete Ergebnisse von Friedensverhandlungen oder nie stattgefundene Siege bei militärischen Seeschlachten beförderten eine gesunde Grundskepsis gegenüber der Zuverlässigkeit von Nachrichtenmeldungen im Allgemeinen.
«Die neuen Zeitungen verbreiten nicht nur blosse Torheiten»
Bis zu konkreten Lügenvorwürfen dauerte es nicht lange. Der Jurist Christoph Besold rät in seinem Werk Thesaurus Practicus schlicht generell davon ab, Zeitungen zu lesen: «Leichtfertige Männer pflegen sich um neue Sachen zu kümmern. Ernste Männer pflegen sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu bemühen», schrieb er 1629. Um diesen Ratschlag zu rechtfertigen, erinnert er an die Gefahr, die von Zeitungen ausgehe. Denn: «Die neuen Zeitungen verbreiten aber nicht nur blosse Torheiten, sondern bisweilen auch pseudopolitische Geheimnisse.» Wenige Zeilen später bezeichnet er solche «Torheiten» und «pseudopolitischen Geheimnisse» konkret als «Lüge».
Der Vorwurf ist erstmals klar ausgesprochen, die Medienschelte beginnt – und verfestigt sich in den kommenden Jahrzehnten noch. 1676 betont der Jurist Ahasver Fritsch in einem eigens zum Thema verfassten Beitrag mit dem Titel Diskurs über den heutigen Gebrauch und Missbrauch der ‚Neuen Nachrichten‘, die man ‚Neue Zeitunge‘ nennt: «Lügen und falsches Gerede» seien stets Teil der Berichterstattung und Journalisten gingen einem «Lügen-Handwerck» nach. Wer in «wahren Geschichten oft Märchen oder Falsches» einbaue, so urteilte übereinstimmend Tobias Peucer im Jahr 1690 in seinem Traktat Über Zeitungsberichte, der würde den Nachrichten «Lüge(n) hinzufügen».
Andere zeitgenössische Stimmen versuchten zu differenzieren zwischen Lüge und Falschmeldung. So verteidigte im Jahr 1688 der Zeitungsverleger Daniel Hartmann seine Zunft wie folgt: «Ein anderes ist etwas falsches reden / ein anderes lügen. Denn nicht ein jeder lueget also fort wenn er falsch redet.» Ähnlich klang es bei Kaspar von Stieler, der Zeitungsmeldungen in seiner Publikation Zeitungs Lust und Nutz (1695) in unterschiedliche Wahrheitsgrade kategorisierte: «wahr oder scheinwahr und vermeintlich wahr». Auch für von Stieler waren Meldungen der Kategorien «scheinwahr» und «vermeintlich wahr» keine Lügen – wenn auch ein «erdichtetes wesen».
Im 19. Jahrhundert formt sich der moderne Journalismus
Um sich vor solchen erdichteten Wesen zu schützen, empfahl er den Lesern als auch den Journalisten eine artverwandte Medizin. Diese lautete wie folgt: «nicht jedwedem Geschrey» zu trauen (Leser), und nicht «allzuleichtgleubig sein» (Journalisten). Während der Leser kritischer mit dem präsentierten Nachrichtenangebot umgehen sollte, also stets mehrere Informationsquellen zu nutzen habe, sollten die Journalisten sorgfältiger ihre Informationsquellen abwägen und wenn möglich mit alternativen Quellen abgleichen. Das Problem: Die eingekauften oder woanders abgeschriebenen Nachricht liessen sich für die meisten nur bedingt verifizieren.
(Falsche Bilder in Medien zum Ukraine-Konflikt: Propagandatricks – oder Pannen in Serie)
Bis zur Etablierung dieses redaktionellen Standards – des unabhängigen Überprüfens von Meldungen in mehreren glaubhaften Quellenbelegen – sollten noch etliche Jahrzehnte vergehen. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts jedoch begann sich der moderne Journalismus mit seiner Quellenkritik, wie wir ihn heute kennen, durchzusetzen. Der Lügenvorwurf aber ist geblieben.
Der Autor ist Juniorprofessor für Buchwissenschaft, insbesondere Historische Kommunikationsforschung, an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
Literatur:
Die Unbelangbaren: Wie politische Journalisten mitregieren (edition suhrkamp)
Gekaufte Journalisten von Udo Ulfkotte
Das Medienmonopol: Gedankenkontrolle und Manipulation der Dunkelmächte von M. A. Verick
Quellen: PublicDomain/bluewin.ch vom 04.09.2015
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