Es war eine überraschende Wende. In der Nacht am Sonntag machte der türkische Regierungschef in Brüssel Ahmet Davutoglu den Vorschlag, der ganz Europa verduzte – und viele europäische Staatschefs gegen Bundeskanzlerin Angela Merkel aufbrachte.
Die Türkei erklärte sich bereit, syrische Flüchtlinge aus Griechenland zurückzunehmen, wenn umgekehrt die EU die gleiche Zahl über legale Kontingente einreisen lässt. Die Türkei verlangte dafür Zugeständnisse – sechs statt drei Milliarden Euro Hilfe und Visafreiheit für Türken.
Dabei hatte man vor dem Gipfel allgemein mit einer bitteren Niederlage für Merkel gerechnet. Im Einladungsschreiben war bereits davon die Rede, dass „die Balkanroute geschlossen“ sei. Österreich und die Visegrád-Staaten Polen, Slowakei, Tschechien und Ungarn, die eine Schließung nationaler Grenzen fordern, rechneten mit einem Erfolg ihrer Politik auf dem Gipfel.
Komische Zufälle in Brüssel
In dem Moment, in dem Österreich und die Balkan-Staaten mit ihren Grenzschließungen Tatsachen schafften und Merkel die Initiative in der Flüchtlingskrise aus der Hand zu gleiten schien, kommt aus der Türkei ein Angebot, dass Merkels „europäische Lösung“ durch ein Abkommen mit Ankara wieder in den Mittelpunkt stellt. Das Ganze kurz vor den entscheidenden Landtagswahlen.
Komischer Zufall.
Einer der Ersten, der den Verdacht äußerte, dass der türkische Vorschlag in Wirklichkeit ein merkelscher ist, war ARD-Korrespondent Rolf-Dieter Krause. Er berichtete aus Brüssel: „Man hat den Verdacht, dass das Papier der Türken gar nicht so sehr in der Türkei entstanden ist, sondern es heißt, dass es möglicherweise im Kanzleramt gewissermaßen vorformuliert worden sei.“
Ohne Kenntnis der europäischen Partner sei das Papier in der Nacht mit dem türkischen Ministerpräsidenten zu einem türkischen Papier gemacht worden, so Krause.
„Das war praktisch von Merkel orchestriert“
Auch aus Kreisen der EU-Mitgliedstaaten hört man diese Vermutung. „Das war praktisch von Merkel orchestriert“, sagte ein Diplomat über die Gipfelnacht gegenüber der „Welt“. Der türkische Vorschlag von Deutschland massiv unterstützt worden. EU-Ratspräsident Tusk hingegen wurde „umgangen“.
Merkel selbst weist diesen Vorwurf von sich. In der Pressekonferenz nach dem Gipfel wurde ihr folgende Frage gestellt: „In vielen Delegationen ist nicht von einem türkischen, sondern von einem deutsch-türkischen Vorschlag die Rede gewesen. Inwiefern entspricht der türkische Vorschlag Ihren Vorstellungen? Inwiefern ist er vielleicht sozusagen Ihr Werk?“
Sie antwortete: „Ich bin ja sehr dabei, wenn es darum geht, mich sozusagen kreativ und geistig einzubringen … Aber dies hier war wirklich so, dass der türkische Ministerpräsident gestern Abend mit einem Zettel kam, auf dem er genau diese Dinge zusammengefasst hat. “
Misstrauen herrscht in Brüssel trotzdem.
Schließlich hatte Merkel sich vor dem Gipfel alleine mit dem türkischen Regierungschef getroffen. Dabei war nur niederländische Regierungschef Mark Rutte in seiner Funktion als EU-Ratspräsident. Donald Tusk, der polnische Präsident des Europäischen Rats, hingegen nicht.
„Die Bundesregierung hat ihre Partner verprellt“
Tusk war am Montag genauso überrascht wie der Rest Europas. Aber warum? Schon am Donnerstag hätte Davutoglu den Ratspräsidenten mit seinen Vorschlägen konfrontieren können. Dann hätten die EU-Mitgliedsstaaten die Möglichkeit gehabt, sich mit seinen Idee vertraut zu machen – aber eben auch, Gegenvorschläge zu entwerfen (Den Schießbefehl outsourcen: Merkels heuchlerische Flüchtlingspolitik).
Alexander Graf Lambsdorff, der Vizepräsident des Europäischen Parlaments, befürchtet, dass Merkel die restlichen Staaten überrumpelt und verärgert haben könnte: „Mit ihren nationalen Alleingängen hat die Bundesregierung die Partner verprellt und eine europäische Lösung abermals erschwert.“ Auch die Osteuropäer, die ablehnend auf den neuen Türkei-Deal reagierten, würden für eine Lösung gebraucht.
„Widerlicher Anblick“: EU-Spitzen verneigen sich vor Erdoğan
Die EU braucht die Türkei als Helfer in der Flüchtlingskrise und als Garant für Stabilität inmitten des sich rasend ausbreitenden Krisenfeuers. Dafür ist der Europäischen Union jedes Mittel recht, wie das britische Magazin „The Guardian“ schreibt.
Ob Unterdrückung, Zensur oder grausame Verbrechen – die Europäische Gemeinschaft drückt bei allem beide Augen zu und verspricht der Türkei den Beitritt zur EU. Die europäischen Staats- und Regierungschefs, die sich beim EU-Türkei-Gipfel vor dem türkischen Präsidenten verneigten, seien ein „widerlicher Anblick“ gewesen, schreibt Paul Mason vom britischen Journal (60 Millionen Menschen auf der Flucht – „Herrschaft des Unrechts“ – Türkei hat EU erpresst (Videos)).
Die Europäische Union suche Hilfe in der Flüchtlingskrise bei einem Land, in dem Unterdrückung und Zensur zusehends zunehmen würden: „Die Türkei führt Krieg gegen eine ethnische Minderheit auf eigenem Boden, türkische Spezialeinheiten stürmen das Büro der regierungskritischen Zeitung ‚Zaman‘, die Geheimdienste des Landes werden verdächtigt, den IS mit Waffen zu versorgen, die türkische Luftwaffe schießt ein russisches Kampfflugzeug ab. Und dennoch rechne Ankara mit der EU-Mitgliedschaft“, betont der Kommentator.
Vor drei Jahren habe noch der Anschein geherrscht, als habe Recep Tayyip Erdoğan es geschafft, ein innenpolitisches Gleichgewicht zu erzielen: „Es hat so ausgesehen, als könnten die progressiven und die reaktionären Bevölkerungsgruppen des Landes friedlich koexistieren, als könnten die Kurden aus dem Untergrund heraustreten und sich an der parlamentarischen Opposition beteiligen, als würde Erdoğan die Türkei auf eine EU-Mitgliedschaft vorbereiten – wenn auch langsam genug, damit der offensichtliche Mangel an Rechtstaatlichkeit unbemerkt bleiben konnte“, schreibt der britische Journalist.
Jetzt sei alles anders. Der türkische Präsident schlage Proteste brutal nieder. Er habe das Ende des Waffenstilstands mit der kurdischen Arbeiterpartei PKK provoziert und einige Städte im Süden des Landes, in denen sich Kurden befunden haben, niedergebrannt. Die EU verschließe derweil die Augen vor dem Kollaps der Demokratie in der Türkei wie auch vor den türkischen Militäroperationen gegen die Zivilbevölkerung, schreibt der britische Experte.
Doch: „Das sind nur Kleinigkeiten, verglichen mit dem Trumpf, den Erdoğan noch ausspielen kann. Vor dem Hintergrund des Staatenzerfalls im Nahen Osten ist der Westen umso mehr gezwungen, die Türkei zu unterstützen – trotz der Rückschläge, die die dortige Demokratie einstecken muss. Je mehr die Europäische Kommission auf den türkischen EU-Beitritt drängt, desto stärker werden in Europa die Kräfte, die die Gemeinschaft verlassen wollen“, schreibt The Guardian.
Die EU-Bürger – so das britische Magazin – hätten das Recht, die Wahrheit über die Türkei zu erfahren. Noch im November hätten die EU-Spitzen Ankara für wirtschaftliche Erfolge gelobt – ungeachtet dessen, dass damals bereits die Anzeichen der Tyrannei deutlich gewesen seien (Wie die Türkei die Dschihadisten unterstützt (Videos)).
Die wichtigste Frage bleibe, ob ein Staat, der ganz offensichtlich alle EU-Beitrittskriterien verletze, eine Aussicht auf den Beitritt haben könne: „Die Antwort ist ganz eindeutig: nein! Und die europäischen Machthaber müssen es Erdoğan wissen lassen“, resümiert Paul Mason vom britischen Magazin.
Literatur:
Zerstörung der Hoffnung (Killing Hope): Bewaffnete Interventionen der USA und des CIA seit dem 2. Weltkrieg von William Blum
Die Weltbeherrscher: Militärische und geheimdienstliche Operationen der USA von Armin Wertz
Countdown Weltkrieg 3.0 von Stephan Berndt
Wer den Wind sät: Was westliche Politik im Orient anrichtet von Michael Lüders
Quellen: PublicDomain/huffingtonpost.de/de.sputniknews.com am 09.03.2016
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