Die diversen Establishments der europäischen Staaten – von Eliten möchte man da nicht sprechen – sind derzeit mit einer ganzen Serie von Eindrücken konfrontiert, die sie ganz offensichtlich bisher nicht verarbeitet haben. Auf den Punkt gebracht:
Die Europäer, die im alten eurozentristischen Denken verhaftet sind, erleben gerade das Aufeinanderprallen ihrer Ideologie mit der Realität. Politiker und Medien des sogenannten „Mainstreams“ lamentieren über die wachsende Anzahl von Krisen – Brexit, EU- und Eurokrise, Bankenkrise, Flüchtlingsströme, Terrorismus, Anti-Globalisierungsbewegungen –, ohne daß die Fähigkeit oder Bereitschaft zu erkennen wäre, die falschen Annahmen des eigenen Denkens, das zu diesen Krisen beigetragen hat, zu hinterfragen oder gar zu korrigieren (Projekt der Eliten: EU als angelsächsisches Projekt zur Kontrolle über Europa).
In der Tat erleben wir augenblicklich den Prozeß einer völlig neuen strategischen Ausrichtung, bei dem sich das Gravitationszentrum längst auf Asien verschoben hat, in dem sich ein Geflecht von neuen Allianzen ausbildet, die durch eine gemeinsame Zukunftsvision miteinander verbunden sind.
Mit reichlicher Verspätung von fast drei Jahren haben einige Finanzmedien entdeckt, daß China dabei ist, mit seinem Programm der Neuen Seidenstraße eine 64 Staaten und 4,4 Milliarden Menschen einbeziehende Entwicklungsperspektive zu verwirklichen, die in absoluten Dollarzahlen mit 1,4 Billionen 12mal so groß ist wie der Marshallplan (nach heutiger Kaufkraft) und bereits 40 Prozent der Weltwirtschaft umfaßt.
„Die Tatsache, daß dies ein auf 30-40 Jahre angelegter Plan ist, ist außerordentlich, denn China ist das einzige Land mit einem Langzeit-Entwicklungsplan, und dies unterstreicht die langfristige politische Orientierung in China, im völligen Gegensatz zu dem politischen Kurzzeit-Denken, das im Westen größtenteils vorherrscht“, schrieb der ehemalige IWF-Ökonom Stephen L. Jen soeben in Bloomberg.
In völligem Gegensatz dazu stehen die Ergebnisse einer Studie der Unternehmensberatung McKinsey, daß der Lebensstandard für 70% der Bevölkerung in den 25 wichtigsten Industriestaaten von 2005 bis 2014 geschrumpft ist und als Zukunftsperspektive für die kommenden Generationen eine zunehmende Verarmung droht. Während des gleichen Zeitraums hat China 600 Millionen seiner Bevölkerung aus der Armut befreit und zu einem sehr guten Lebensstandard verholfen.
Trotz dieses eklatanten Unterschieds ignorieren Politik und Medien in Europa diese völlig auseinanderstrebende Dynamik. Der britische Historiker Peter Frankopan, Autor des Buchs The Silk Roads: A New History of the World, kommentierte die Indifferenz Europas nach seiner Teilnahme an der Konferenz der Shanghai Corporation Organisation (SCO) in Taschkent, die in den westlichen Medien nicht einmal erwähnt wurde, folgendermaßen: „Unser Fokus auf Europa hat zur Folge, daß wir die Gesamtrealität verpassen. Wir liegen mit unserer Wahrnehmung vollkommen daneben und haben den Bezug zur Realität verloren.“
Diese zukunftsweisende Dynamik, Chinas Politik der Neuen Seidenstraße, das auf die Realwirtschaft ausgerichtete neue Finanzsystem von AIIB, New Development Bank, Silk Road Fund etc., neue strategische Allianzen wie BRICS und SCO, das strategische Bündnis zwischen China und Rußland: all diese Elemente sind die Kulisse, vor der sich die Annäherung zwischen Putin und Erdogan – bereits in den Monaten vor dem Putschversuch – angebahnt hat. Schon 2013 bemerkte der türkische Premierminister, daß die Türkei, frustriert von den vergeblichen Aufnahmegesuchen bei der EU, sich um Mitgliedschaft bei der SCO bemühen werde, denn die SCO sei „besser, mächtiger, und es gebe mehr gemeinsame Werte“ (China deckt den Tisch der Welt-Finanz-Ordnung).
Die Einmütigkeit, mit der sich der Westen auf die Seite der Putschisten in der Türkei gestellt hat, während Putin sofort die immerhin demokratisch gewählte Regierung Erdogan unterstützt hat, tat ein übriges. Nicht nur wurden wichtige wirtschaftliche Kooperationsabkommen zwischen Rußland und der Türkei beim jüngsten Besuch Erdogans in St. Petersburg geschlossen, wie der Ausbau der Pipeline Turkish Stream, Agrarexporte der Türkei, Tourismus, Ausbau der Kernkraft etc., strategisch entscheidend ist die Vereinbarung, gemeinsam in Syrien gegen den IS und andere terroristische Organisationen vorzugehen.
Alle intelligenten Europäer haben diese Zusammenarbeit als conditio sine qua non sofort begrüßt. Gleichzeitig arbeitete Putin an einem Grand Design zur Stabilisierung der gesamten Region Zentralasien durch eine Reihe von Gipfeltreffen mit den Staatschefs von Iran, Aserbeidschan und Armenien sowie Abkommen für den Nord-Süd-Transportkorridor von Rußland bis Iran.
Während die asiatischen Staaten am Ausbau eines völlig neuen Modells der wirtschaftlichen Kooperation arbeiten, insistieren die europäischen Regierungen und Institutionen auf einem ebenso nutzlosen wie arroganten „Weiter so!“, d.h. weitere „unkonventionelle monetäre Maßnahmen“, wie Quantitative Easing (Gelddrucken), negative Zinsraten und „Helikoptergeld“, mehr Austerität und mehr Globalisierung, obwohl alle diese Politikvarianten hoffnungslos diskreditiert sind.
Um so interessanter ist es, daß einzelne Repräsentanten des Establishments wie z.B. Paul Goldschmidt, ehemaliger Banker von Goldman Sachs, mit dringenden Warnungen hervortreten, das System der Universalbanken umgehend durch ein Trennbankensystem zu ersetzen, weil der andernfalls drohende Bankenkollaps nicht nur gravierendste wirtschaftliche und soziale Folgen hätte, sondern die Fundamente der europäischen Demokratien zu erschüttern drohe. In den Universalbanken pralle der fundamentale Konflikt zwischen den Interessen der Kontoinhaber und der Schuldner inzwischen unauflösbar aufeinander. Nur die sofortige Einführung des Glass-Steagall-Trennbankensystems könne die explosive Situation entschärfen. Und dies von einem ehemaligen Goldman-Sachs-Banker!
Ebenfalls in den Chor jener, auf die das Zitat „Spät kommt ihr, doch ihr kommt“ aus Schillers Drama Wallensteins Tod zutrifft, gehört Joseph Stiglitz, der in seinem neuen Buch zu der Erkenntnis kommt, daß der Euro mit einem Geburtsfehler geschaffen wurde und dessen Kollaps prädestiniert sei. Daß der Euro nicht funktionieren könne, konnte man bei dieser Autorin schon vor der Einführung des Euro nachlesen. Richtig ist trotzdem Stiglitz’ Beurteilung, daß der Euro weder zu Wohlstand noch zur Integration der Eurozone geführt habe, und die EU sich nur werde retten können, wenn sie den Euro aufgebe. Offensichtlich liegt jedoch sein Vorschlag, einen „flexiblen Euro“ einzuführen, weit hinter der Zeitkurve der Entwicklung.
Symptomatisch für die Endphase des transatlantischen Finanzsystems sind auch die verschiedenen Prognosen, daß die Deutsche Bank letztlich „nationalisiert“ werden müsse, wobei es aber nur darum geht, einen systemischen Kollaps aufzuschieben, der nicht zu verhindern ist, nicht jedoch darum, die Politik der Deutschen Bank zu ändern, d.h. sie wieder auf die Realwirtschaft auszurichten und aus der Derivatspekulation herauszuführen. Man kann sich die Freude des deutschen Steuerzahlers, angesichts von 55 Billionen € ausstehender Derivatkontrakte für 19 Milliarden Euro zur kurzfristigen Rettung der Deutschen Bank aufzukommen, schon lebhaft ausmalen.
Der ehemalige italienische Premierminister, Enrico Letta, ahnt offensichtlich den Ernst der Lage und wandte sich mit dem Appell „Die EU muß von vorn anfangen oder untergehen“ an die Öffentlichkeit, in dem er sein Entsetzen über die Uneinigkeit und Passivität der EU-Staatschefs angesichts der existentiellen Krise der EU äußert. Staatskunst statt Bürokratie sei jetzt gefordert, Europa könne nicht nur das Europa der Gewinner der Globalisierung sein, sondern Europa müsse seine Bürger schützen. Hört, hört!
In den kommenden Wochen wird sich entscheiden, ob Europa überlebensfähig ist. Europas Nationen sind zum Glück nicht identisch mit dem gescheiterten Modell der Maastricht-EU und dem ebenso gescheiterten Modell der europäischen Währungsunion, die Deutschland aus geopolitischen Motiven als Preis für die Wiedervereinigung aufgezwungen wurde.
Die kommende Serie von Konferenzen – vom G20-Gipfel in Hangzhou unter dem Vorsitz Chinas Anfang September über den Wirtschaftsgipfel in Wladiwostok Mitte September (bei dem es um die Integration der Eurasischen Wirtschaftsunion mit der Neuen Seidenstraße geht, also die potentielle Schaffung eines gemeinsamen Wirtschaftsraums vom Atlantik bis zum Pazifik) bis zum Gipfel der BRICS-Staaten in Indien im Oktober – bietet den Rahmen, in dem eine ordentliche Reorganisation des Weltwirtschafts- und Finanzsystems erfolgen kann.
Die Alternative ist also vorhanden; Deutschland und die anderen europäischen Nationen müssen ihr marodes Finanz- und Bankensystem reorganisieren und dann mit der Perspektive der Neuen Seidenstraße am Aufbau der Welt kooperieren.
Damit dies gelingt, müssen wir alle unseren Blick über den europäischen Tellerrand weiten, uns ehrlich mit der Frage auseinandersetzen, warum wir in diese Krise geraten sind, und uns für die Vision öffnen, die in der Kooperation mit der Neuen Seidenstraße liegt. Im Sinne Friedrich Schillers: Etwas dazu beitragen können Sie alle!
Literatur:
Die Plünderung der Welt: Wie die Finanz-Eliten unsere Enteignung planen von Michael Maier
„Neue Weltordnung“ – Zukunftsplan oder Verschwörungstheorie? (Kaplaken) von Manfred Kleine-Hartlage
Die Nazi-Wurzeln der „Brüsseler EU“ von August Kowalczyk
Quellen: PublicDomain/solidaritaet.com am 18.08.2016
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