Die Wirtschaft beschwert sich über Jugendliche, die nicht ausbildungsreif sind, und Familien finden in Innenstädten keinen Wohnraum. Beide Probleme haben dieselbe Ursache.
Neulich in der Zeitung: Im Wirtschaftsteil schlägt Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer Alarm angesichts der Tatsache, dass jeder fünfte Schulabgänger nicht ausbildungsreif ist – nicht nur eine soziale, sondern auch eine wirtschaftliche Katastrophe, weil Bildung zugleich Fundament und Treibsatz der Wirtschaft ist. Im Immobilienteil derselben Ausgabe dann zwei Berichte über die Preisexplosionen am deutschen Wohnungsmarkt und dessen regionale Verzerrungen. Zwei fatale Befunde. Aber was ist die Ursache?
Die verblüffende Diagnose: Ausgerechnet unser Sozialstaat.
Wie bitte? Ja, beide Fehlentwicklungen wurzeln vor allem in der asozialen Verteilung von Lasten und Leistungen unserer Sozialsysteme. Und beide stehen in Wechselwirkung. Ein Teufelskreis.
Die Gutverdiener profitieren
Sozialbeiträge werden nur auf Löhne erhoben, treffen also nur Arbeitnehmer, nicht hingegen Parlamentarier, Beamte, Richter und auch keine Freiberufler. Sie werden nicht nach einem progressiven, sondern nach einem linear-proportionalen Tarif erhoben; wer 1000 Euro verdient, zahlt denselben Beitragssatz wie derjenige mit 4000 Euro. Und sie werden – drittens – nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze erhoben. Sie liegt ziemlich genau dort, wo in der Einkommensteuer der Spitzensatz höchste Leistungsfähigkeit signalisiert. Die Konsequenz: Je höher die Einkommen, desto geringer die soziale Ver-antwortung. Und umgekehrt. Man nennt diese Wirkung der Sozialbeiträge „regressiv“. Der Sozialstaat steht Kopf.
Dieselbe regressive Wirkung haben auch Verbrauchsteuern (z.B. Mehrwertsteuer), weil der besteuerte Verbrauchsanteil stets umso höher ist, je kleiner die Einkommen sind. Sie machen den Löwenanteil der fiskalischen Einnahmen aus. Familien werden so zwangsläufig am härtesten belastet: Das Einkommen verteilt sich auf mehr Köpfe, gleichzeitig steigt der Verbrauch.
Senioren verschärfen die Wohnungsnot
Wer ein Durchschnittseinkommen und mehr als ein Kind hat, landet netto unter dem Existenzminimum. Ganz anders ist es bei Personen ohne Unterhaltspflichten. Schon weil der Anteil der Senioren, deren Kinder aus dem Haus sind, seit Jahrzehnten ständig zunimmt, steigt ihr Anteil unaufhörlich.
Bei ihnen sorgen die fehlenden Unterhaltsverpflichtungen für Einkommensüberhänge. Weil Senioren zudem in ihren Wohnungen bleiben, sind größere Wohnungen rar. Obendrein ist der Wohnungsmarkt „nicht-elastisch“, Nachfrage und Angebot stehen im strukturellen Ungleichgewicht. Das lässt die Preise aus dem Ruder laufen- und in der Tat wachsen die Wohnkosten seit Jahrzehnten schneller als die sonstigen Güterpreise und Löhne.
Armut untergräbt die Bildungsfähigkeit
Wen trifft das wieder am härtesten? Richtig, die Familien. Familien mit ihrem hohen Wohnbedarf haben im Kampf auf dem Wohnungsmarkt gegen Singles keine Chance, werden an die Peripherie katapultiert, oft in Problemquartiere. Dort kämpfen sie dann auch noch mit hohen Mobilitätskosten, für die wiederum die Hartz IV-Regelsatz-bemessung total unterbelichtet ist. Zudem ist jeder Energieverbrauch durch Mehrwert- und Ökosteuern mehrfach belastet. In der Bertelsmann-Studie „Arm durch Wohnen“ wurde kürzlich nachgewiesen, dass die Armutsquote bei Familien infolge der exorbitanten Wohnkosten in Wahrheit noch weit über den Zahlen der offiziellen Statistik liegt. Da capo al fine. Ein Teufelskreis.
Die Armut in den Familien aber, das ist das übereinstimmende Ergebnis aller einschlägigen Untersuchungen, untergräbt die Bildungsfähigkeit des Nachwuchses und ist damit die Hauptursache des von Ingo Kramer beklagten Notstandes; jedes fünfte Kind wächst im Sozialleistungsbezug auf. Seine Rezepte der Krippenvermehrung und -verbesserung sind wichtig und gut gemeint, verfehlen indes die Ursache.
Für eine rigorose Neuordnung
Was zuerst nottut, ist vielmehr eine rigorose Neuordnung der sozialen Verantwortlich-keiten: Eine familienpolitische Strukturreform des Sozialstaats, die Ernst macht mit der vielbeschworenen, aber nicht realisierten Beitragsfreiheit für Kinder. Solange nicht mindestens das Existenzminimum der Kinder von der Bemessungsgrundlage der Sozialbeiträge abgezogen wird und Eltern mit Durchschnittsverdienst die Chance haben, ihre Kinder aus eigener Kraft großzuziehen, wird das Unheil weiterwachsen. Wer keine Kinder (mehr) hat- und das sind rund 75 Prozent der Haushalte-, muss mehr Verantwortung für den Sozialstaat übernehmen.
Nur das wird Einkommen und Bedarf einander wieder näher bringen. Anders ist weder der Armut der Familien, noch der Fehlverteilung des Wohnraums beizukommen. Übrigens: Eine solche Reform hat das Bundesverfassungsgericht im „Beitragskinderurteil“ zur Pflegeversicherung 2001 schon gefordert. Der Gesetzgeber aber stellt sich taub. Das ist der eigentliche Skandal.
Der Autor Jürgen Borchert ist Sozialrichter in Hessen; zuletzt erschien von ihm das Buch „Sozialstaatsdämmerung“ (2014).
Quellen: dpa/tagesspiegel.de vom 18.11.2014
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