Whistleblower liefern oft wichtige Informationen, dennoch riskieren sie damit ihren Job oder ihre Freiheit / Das EU-Parlament hat am Donnerstag der umstrittenen Fluggastdatenspeicherung (Passenger Name Record, PNR) zugestimmt.
Die Richtlinie sieht vor, dass alle Daten, die man bei der Buchung eines Fluges aus der und in die EU angibt, automatisch von den Fluglinien und Reisebuchungssystemanbietern an staatliche Stellen weitergeleitet werden.
Dort werden sie zunächst für sechs Monate gespeichert, danach unter Pseudonym bis zu fünf weitere Jahre. Dabei handelt es sich unter anderem um Name, Adresse und Kreditkartennummer – aber auch die Menüauswahl an Bord und Angaben über Mitreisende können inkludiert sein.
Freiwillige Überwachung
Bei außereuropäischen Flügen ist die Speicherung verpflichtend, innereuropäische sollen die Mitgliedsländer auf „freiwilliger Basis“ überwachen. Befürworter sprechen von einem wichtigen Mittel im Kampf gegen Terrorismus, Kritiker befürchten einen massiven Eingriff in die Privatsphäre unbescholtener Bürger.
Aktivisten äußern die Sorge, dass die Datenspeicherung später auf Zug- und Busreisen ausgedehnt werden könnte. Zusammen mit einer Überwachung von Autofahrern durch die elektronische Sim-Karte, die ab 2017 bei Neuwagen Pflicht ist, könnte dann theoretisch jede Reisebewegung erfasst werden.
Bereits im Jahr 2013 wurde die EU-Richtlinie diskutiert und vom Komitee für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres im EU-Parlament unter anderem wegen Datenschutzbedenken abgelehnt. Nach den Anschlägen in Paris im vergangenen Jahr sowie zuletzt den Anschlägen in Brüssel änderten sich die Lage und das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten jedoch.
Nach der Zustimmung des Parlaments muss nun noch der Rat die Richtlinie absegnen, was in Kürze geschehen dürfte. Die EU-Staaten haben anschließend zwei Jahre Zeit, um die Vorschriften in nationales Recht umzusetzen. Regelung mit Kanada vor Gericht Bereits vergangene Woche war die Fluggastdatenspeicherung mit Kanada, das als Vorbild für die neue EU-weite Regelung gilt, vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) gelandet.
Richter Thomas von Danwitz äußerte bei der Befragung von Vertretern der Kommission und von Mitgliedsstaaten heftige Zweifel. „Selbst die integerste Person – wie der Präsident des Gerichtshofs – muss sich diese Speicherung gefallen lassen. Kann das mit den EU-Grundrechten vereinbar sein?“, fragte von Danwitz.
Insgesamt standen diese Woche fast alle heiklen datenschutzpolitischen Gesetze der aktuellen Legislaturperiode auf der Agenda europäischer Institutionen. Auch über die Datenschutzreform und eine Verschärfung der sogenannten Whistleblower-Richtlinie wurde abgestimmt.
Die drei Themen hängen durchaus miteinander zusammen. So hatte einige sozialdemokratische EU-Abgeordnete darauf bestanden, die Fluggastdatenspeicherung nur zusammen mit der Datenschutzreform abzustimmen. Damit sollte eine Einschränkung der Bürgerrechte durch Überwachungsmethoden durch mehr Datenschutz bei kommerziellen Anwendungen gedämpft werden.
Konzerne warnen vor Bürokratisierung
Die Datenschutzreform bietet Nutzern einige Verbesserungen. So wird das sogenannte Recht auf Vergessen gesetzlich fixiert, außerdem sollen Daten leichter von einem Portal zum anderen transferiert werden können. Daten sollen nur zu „angemessenen, relevanten und auf das Nötigste begrenzten Zwecken“ verarbeitet werden.
Konzerne klagten bei der Einigung im Dezember über hohe Hürden und bürokratischen Aufwand. US-Präsident Barack Obama unterstellte im Herbst sogar, die EU-Pläne zielten auf eine Schwächung von US-Diensten wie Facebook und Google ab.
Laut dem Berichterstatter Jan Albrecht (Grüne) hat die nahezu einstimmige Annahme der Vorschläge in den Ausschüssen gezeigt, dass die Verhandler die „richtige Balance“ getroffen hätten (Whistleblower: Neues Buch von Jan van Helsing schlägt ein wie eine Bombe!).
Whistleblowern wird Leben schwergemacht
Freuen dürften sich Unternehmen allerdings über eine radikale Verschärfung der sogenannten Whistleblower-Richtlinie. Firmen dürfen künftig selbst bestimmen, was für sie als Geschäftsgeheimnis gilt.
Whistleblower, die Missstände aufdecken, müssen dann beweisen, dass sie eine Straftat aufgedeckt und im Schutz des öffentlichen Interesses gehandelt haben. Teilweise wäre das etwa bei den aktuell diskutierten Panama-Papers oder den Luxleaks über Steuervorteile in Luxemburg schwierig, sagt die EU-Abgeordnete Julia Reda.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat ebenso wie zahlreiche Medien gegen die Richtlinie protestiert. Die Sozialdemokratische Fraktion im EU-Parlament hat also für ein Gesetz gestimmt, das Gewerkschaften europaweit scharf kritisieren. Zuvor hatten die Grünen versucht, eine Abstimmung des Gesetzes zu verschieben. Sie würden erst zustimmen, wenn durch eine andere Regelung Whistleblowern mehr Schutz zugestanden würde.
Staaten könnten EuGH-Urteil missachten
Am Mittwoch stand mit der Vorratsdatenspeicherung (VDS) der nächste heikle Punkt auf der Agenda des EuGH. Der Gerichtshof hatte die Speicherlinie vor mehr als einem Jahr gekippt, woraufhin manche Mitgliedsstaaten neue Gesetze erließen. Schweden und Großbritannien wollen nun erfahren, ob ihre Gesetze mit der EU-Grundrechtecharta vereinbar sind. Die Richter zeigten sich ebenfalls skeptisch.
Fraglich ist, ob die Mitgliedsländer einem Spruch aus Luxemburg diesmal Folge leisten würden. Vertreter Frankreichs und Irlands argumentierten etwa, dass die EU und der EuGH für die Vorratsdatenspeicherung nicht zuständig seien, da dieses Thema eine Frage der nationalen Sicherheit darstelle. Urteile zu PNR und VDS werden in den kommenden Wochen erwartet.
Datenbeauftragte kritisieren Privacy Shield
Skeptisch zeigten sich auch die Datenschutzbeauftragten der Mitgliedsländer, die als Artikel-29-Gruppe mit den Nachwehen eines EuGH-Urteils zu tun hatten: dem sogenannten Privacy Shield. Er soll die Safe Harbor-Regelung zum kommerziellen Datentransfer Richtung USA ersetzen, die vom EuGH etwa wegen der NSA-Spionage gekippt worden war.
Auslöser der Klage war der österreichische Datenschützer Max Schrems. Er bezeichnet das skeptische Statement der Artikel-29-Gruppe als „sehr stark“. Da sich die Vertreter der einzelnen Behörden auf ein gemeinsames Statement einigen müssten und dieses so kritisch ausgefallen sei, könne man sich vorstellen, wie stark manche Behörden gegen den Privacy Shield seien, so Schrems (Überwachungsbericht: 99,73 Prozent der Schnüffeleien nachrichtendienstlich „nicht relevant“).
EU-Richtlinie „brandgefährlich
Das könne dazu führen, fürchtet DJU-Geschäftsführerin (Deutschen Journalisten Union) Cornelia Haß, dass Whistleblower oder investigativ arbeitende Journalisten von wichtigen Aufdeckungen lieber absehen, um sich solchen – auch finanziellen – Risiken nicht auszusetzen.
Zumal im investigativen Journalismus vor allem freie Mitarbeiter aktiv sind – die keinen juristischen Beistand im Rücken hätten. Auch Whistleblower müssten sich bei ihrem Tun über die zusätzlichen Risiken klar sein. Haß hält die neue EU-Richtlinie daher für „brandgefährlich„: Der Informationsfluss von Whistleblowern zu Journalisten werde ins Stocken kommen, fürchtet sie. Es sei zu erwarten, dass Unternehmen in Zukunft „mehr Schmutz unter den Teppich kehren können, als dass Dinge transparent gemacht werden“. Der Tag des EU-Beschlusses sei „kein guter Tag für die Pressefreiheit in Europa gewesen“, sagt die Journalistin. Kurios: Nur einen Tag vorher hatte derEU-Rat eine Initiative zur Stärkung der Pressefreiheit gestartet. Die Richtlinie laufe dem „genau zuwider“.
Informanten von Enthüllungen abraten
Er werde künftig jedem potentiellen Informanten, der sich in der Pflicht sieht, Unrechtszustände bei seinem Arbeitgeber aufzudecken, davon abraten müssen, sagt auch Markus Neuhaus, Anwalt für Arbeitsrecht in Essen.
Während Unternehmen, die ihre Geschäftsgeheimnisse verraten sehen, bislang selber beweisen mussten, dass sie ein berechtigtes Interesse an Geheimhaltung hatten, wird die Beweislast nach der neuen EU-Richtlinie umgekehrt: Dann müssen Journalisten und Informanten nachweisen, dass ihre Informationen von öffentlichem Interesse sind. Was aber ein „öffentliches Interesse“ ist, definiert die Richtlinie nicht. Je nach Thema und Unternehmen könne der Schadenersatz, den ein Unternehmen dann einfordert, „theoretisch in die Millionenhöhe“gehen. Sogar Gefängnisstrafe von bis zu einem Jahr sieht das Gesetz vor. Den EU-Beschluss hält der Anwalt daher für „katastrophal“.
Stecken Lobbyisten dahinter?
Vor allem empört ist Neuhaus über die „Doppelzüngigkeit“ auch von SPD-Politikern wie NRW-Wirtschaftsminister Walter-Borjans. „Bei seinen CD-Käufen hat er das Recht solcher Informanten immer aktiv vertreten und auch sehr davon profitiert“, sagt er, „jetzt unterstützt seine Partei plötzlich diese neue Richtlinie“.
Bei der Abstimmung im EU-Parlament hatten die Sozialdemokraten dafür gestimmt. Zudem sei der EU-Beschluss juristisch „völlig überflüssig“, sagt Neuhaus, da der Verrat von Betriebsgeheimnissen im deutschen Strafgesetzbuch mit Paragraf 203 längst klar geregelt sei. „Soll damit eine ohnehin vorhandene Unsicherheit verstärkt werden – möglicherweise im Vorgriff auf TTIP„, fragt er, „oder steckt Lobbyarbeit dahinter?“. Eine schlüssige Begründung für diese weitere EU-Richtlinie gibt es seiner Ansicht nach nicht (Flüchtlinge, Terror, Öl, TTIP und die totale Kontrolle – in Riesenschritten zur Neuen Weltordnung).
Vielen Unternehmen dürfte der EU-Beschluss sehr entgegenkommen. So erklärte beispielsweise die International Fragrance Association, ein Zusammenschluss von Parfümproduzenten, die Richtlinie werde Dufthersteller besser vor illegalen Kopierern ihrer Produkte schützen.
„Die Gesellschaft profitiert von Whistleblowing“
Massiver politischer Protest kommt bisher eigentlich nur von den Piraten und Grünen. Es sei „ein Skandal, dass sich die Mehrheit der Abgeordneten im EU-Parlament auch von den jüngsten Enthüllungen zu Briefkastenfirmen in Panama nicht davon abbringen ließen, die Geheimniskrämerei von Firmen auszuweiten“, sagte Julia Reda, die für die Piraten im Europaparlament sitzt.
„Das passt überhaupt nicht zusammen“, sagt auch der NRW-Landtagsabgeordnete Dietmar Schulz, „die Gesellschaft profitiert von Whistleblowing„. Ob Hintergründe wie beim Abgasskandal, bei den „Lux-Leaks“ oder den Panama-Papers: Mit der neuen Richtlinie könnten Unternehmen praktisch sämtliche Betriebsinterna zu Geschäftsgeheimnissen erklären, sagt Schulz, „und daraus selbstverständlich auch Schadenersatzforderungen ableiten“.
Literatur:
Die globale Überwachung: Der Fall Snowden, die amerikanischen Geheimdienste und die Folgen von Glenn Greenwald
Bürger im Visier der Geheimdienste
Die Akte Wikipedia: Falsche Informationen und Propaganda in der Online-EnzyklopädievonMichael Brückner
NSA, BND & Co.: Die Möglichkeiten der Geheimdienste: Technik, Auswertung, Gegenmaßnahmen von Gilbert Brands
Quellen: PublicDomain/derstandard.at/wdr.de am 24.04.2016
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