Ein Waldspaziergang stärkt unser Immunsystem und soll Krebs vorbeugen. Therapien mit Bäumen finden in der westlichen Welt immer mehr Anklang. Auch weil es mehr Studien gibt.
Schon während des Studiums war der Wald für den Biologen Clemens Arvay ein wichtiger Aufenthaltsort. Mit regelmäßigen Waldspaziergängen lud der Biologiestudent damals seine geistigen Reserven auf – und holte sich vor Prüfungen dort Inspiration.
„Ein Aufenthalt im Wald kann die Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit wieder herstellen und erhöhen sowie die Kreativität fördern“, sagt Arvay heute. Das, was der gebürtige Grazer als Student schon vermutete, hat die Umweltpsychologie inzwischen bestätigt.
Waldspaziergänge, so die These, stärken unser Immunsystem und dienen der Krebsprävention. Möglich machen das bioaktive Substanzen, darunter auch Terpene, die wir über die Atmung und Haut aufnehmen.
Terpene sind sekundäre Pflanzenstoffe und ätherische Öle, die aus Blättern, Nadeln und anderen Pflanzenteilen stammen. Sie sind in der Lage, unsere körpereigenen Killerzellen zu aktivieren. Jene Zellen also, die unter anderem Krebszellen erkennen und zerstören.
„Bereits ein einziger Tag in einem Waldgebiet steigert die Zahl unserer natürlichen Killerzellen im Blut um fast 40 Prozent“, schreibt Biologe und mittlerweile Autor Arvay in seinem Buch „Der Biophilia-Effekt. Heilung aus dem Wald“ (Der Biophilia-Effekt — Heilung aus dem Wald (Videos)).
Diese erhöhte Aktivität halte – je nachdem, wie lange wir im Wald sind – sieben bis 30 Tage an. Das haben unter anderem Wissenschaftler der Nippon Medical School, einer medizinischen Universität in Tokio, bereits vor 30 Jahren nachgewiesen. Dort hat der Umweltimmunologe Qing Li zudem in zahlreichen Studien herausgefunden, dass Spaziergänge unter Bäumen auch Depressionen und Ängste lindern können.
Antikrebs-Mittel der Zukunft. Mittlerweile finden die asiatischen Erkenntnisse auch in der westlichen Hemisphäre zunehmend Anklang. Viele sehen in den Terpenen jetzt schon ein wichtiges Antikrebs-Arzneimittel der Zukunft – weltweit wird daran geforscht.
Der 36-jährige Clemens Arvay, der die Waldluft gern als „hoch wirksamen medizinischen Cocktail“ bezeichnet, untersucht momentan, welche Waldform die meisten gesundheitsschützenden Terpene liefert. Das Ergebnis seiner Studie möchte er 2017 vorlegen.
Die medizinische Universität Wien und die Universität für Bodenkultur wiederum haben eine Studie zur „Gesundheitswirkung von Waldlandschaften“ gemacht (http://bfw.ac.at/greencarewald).
Eine Schlussfolgerung aus dem Bericht: Der Wald könnte ein vielversprechendes Setting für medizinische Therapien sein, unter anderem bei Herzkreislauf- und Suchterkrankungen, Übergewicht, Burnout oder bei Hyperaktivitätsstörungen (ADHS).
Ein Spaziergang im Wald hebt die Stimmung, steigert positive Emotionen und senkt die Gewaltbereitschaft, lautet die Erkenntnis aus einer anderen Studie. Denn der Wald „bietet Erlebnis- und Bewegungsraum und kann damit dazu beitragen, Aggressionen zu mildern“, heißt es in einem Bericht des Bundesforschungszentrums für Wald.
Axel Schmid, Inhaber einer Bildungseinrichtung für Sozialberufe in Oberösterreich, kann das nur bestätigen. „Wir haben einige Projekte der Gewaltprävention im Wald und damit sehr positive Erfahrungen, vor allem bei Kindern und Jugendlichen.“
Schmid liefert auch eine Erklärung dafür: „Gewaltbereite Menschen können ihre Gefühle entweder nicht einordnen oder nicht wahrnehmen und aus dieser Hilflosigkeit schlagen sie oft zu.“ Im Wald aber, so Schmid, können sich auch solche Menschen mehr auf sich selbst fokussieren und ihre Gefühle einordnen.
„Der Wald ist ein Ort, wo man leichter zu sich selbst findet“, heißt es auch sinngemäß in der vorher erwähnten Studie der beiden Wiener Universitäten. „Gewaltbereite Jugendliche lernen dadurch, achtsamer mit sich zu sein, und das senkt die Gewaltbereitschaft“, sagt Schmid.
Therapie in Warmbad. Auch Orthopäde Johannes Kirchheimer arbeitet mit seinen Patienten im Wald. Als Primar der Sonderkrankenanstalt für Medizinische Rehabilitation Thermenhof in Warmbad-Villach haben er und sein Ärzte-, Psychologen- und Pflegepersonalteam einmal eine Waldtherapie ausprobiert.
„Wir wollten das in unser Therapieangebot aufnehmen und vorher testen“, erzählt Kirchheimer. Es sei ein verregneter, nebliger Herbsttag, gewesen: „Keiner hatte Lust, in den Wald zu gehen.“ Aber niemand habe später bereut, es doch getan zu haben. „Wir waren regelrecht ergriffen, fast jedem ist das Herz aufgegangen, und wir kamen allesamt viel besser gelaunt, ausgeglichener und vitaler wieder in den Thermenhof.“
Dort wird nun seit rund einem Jahr in Zusammenarbeit mit der forstlichen Ausbildungsstätte Ossiach einmal wöchentlich Waldtherapie für Patienten angeboten. „Für jene, die es möchten“, betont der Primar. Die Waldtherapie sei Teil eines multimodalen Therapiespektrums, mit der vor allem Patienten mit Stress, mit psychischen Belastungen sowie chronische Schmerzpatienten behandelt werden.
Das betreute und begleitete Walderlebnis könne negative Erlebnisse und Gedanken in den Hintergrund verdrängen und sich positiv auf das Schmerzgedächtnis auswirken. Das sei zwar noch nicht wissenschaftlich bewiesen, „aber deswegen ist es noch lange nicht schlecht. Und es gibt keinerlei negative Nebenwirkungen“, erklärt Kirchheimer.
Patientin Hermine K. hatte bei ihrer ersten Waldtherapie jedenfalls nur Positives erlebt. „Ich habe die letzen zwei Stunden komplett auf meine Schmerzen vergessen“, sagt sie. Die 60-Jährige leidet seit vielen Jahren an starken Rückenschmerzen. „Freilich können wir die Schmerzen mit einer einzigen Therapie nicht wegzaubern“, sagt Waldtherapeutin Christine Dewath, während wir langsam über knorrige Wurzeln und später über weiches Moos marschieren, erklärt sie, was der Wald alles für einen tun kann. Dann schweigen wir.
Nur das Rascheln der Blätter und der Gesang der Vögel ist zu hören. Wir riechen den Duft von Tannennadeln, Erde und Moos und genießen das Lichterspiel der Sonnenstrahlen im Blätterdach. Wir spüren, was die Wissenschaft herausgefunden hat: Ein Waldspaziergang macht fröhlich, entstresst.
Wissenschaftlich lässt sich das so erklären: Das Stresshormon Cortisol (gemessen im Speichel) verringert sich im Wald, die signifikante Reduzierung hält über Tage hinweg an. Auch Blutzuckerspiegel und Blutdruck werden gesenkt. Dafür muss man sich nicht einmal bewegen: Waldluft wirkt auch, wenn man sitzt.
Übrigens: Der Blutdruck wird schon deutlich niedriger, wenn wir Holz nur berühren. Der Kontakt mit künstlichen Materialien hingegen verursacht einen gewissen Stress-Effekt. „Spüren Sie die Unterschiede beim Holz?“, fragt unsere Waldtherapeutin, reicht uns eine Menge kleiner verschiedener Hölzer und verspricht: „Heute werden Sie gut schlafen, denn ein Aufenthalt im Wald verbessert die Schlafqualität nachweislich.“
Die Zirbe hilft dem Herzen. Wer beispielsweise in einem Zirbenbett schläft, erspart seinem Herzen laut Studien Nacht für Nacht rund eine Stunde Arbeit, weil das Herz langsamer schlägt. „Diesen tollen Effekt haben aber nicht nur Zirben, das können auch andere Nadelholzarten wie Fichte, Tanne oder Lärche“, sagt Johann Zöscher, Leiter der forstlichen Ausbildungsstätte Ossiach, eines Instituts des Bundesforschungszentrums für Wald.
„Bäume tun uns also auch als Bett oder Büromöbel gut“, setzt der Forstwirt nach. Bäume seien damit also nicht nur im Wald Medizin.
So sieht das auch Biologe Arvay. Er hat bereits mehrere Bücher zu dem Thema geschrieben. Unter anderem: „Der Heilungscode der Natur – die verborgenen Kräfte von Pflanzen und Tieren entdecken.“ (Der Heilungscode der Natur: Die verborgenen Kräfte von Pflanzen und Tieren entdecken (Video))
Hier heißt es unter anderem: „Bereits zehn Bäume mehr rund um einen Wohnblock eines Großstadtbewohners entsprechen einer biologischen Verjüngungskur um sieben Jahre und senken das Risiko für Herzkreislauferkrankungen, Diabetes, Bluthochdruck und sogar Krebs.“
Das dürfen auch Stadtbewohner unbewusst bemerkt haben. Deren Bereitschaft, sich für die Rettung von Bäumen in der Stadt einzusetzen, ist jedenfalls in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen.
Baum statt Schmerzmittel
Heilender Blick auf Bäume. Allein der Blick auf Bäume beschleunigt die Heilung. Das wies der Gesundheitswissenschaftler Roger Ulrich bereits 1984 nach. Er beobachtete zwei Patientengruppen, an denen man identische Operationen durchgeführt hatte.
Die Krankenzimmer, in denen die Probanden untergebracht waren, waren völlig gleich, mit einer wichtigen Ausnahme: Die eine Gruppe blickte auf eine öde Ziegelmauer, die andere auf Bäume (Die Kraft der Bäume und das „Waldbaden“ (Videos)).
Das Ergebnis: Die Patienten mit Blick ins Grüne konnten das Krankenhaus früher verlassen, ihre Wunden heilten schneller, sie hatten auch weniger postoperative Komplikationen und Schmerzen und litten seltener unter Depressionen.
Interview: „Waldluft ist Doping für unser Immunsystem“
Herr Arvay, wir haben uns hier im Leechwald in Graz getroffen und spazieren durch die Blätterlandschaft: Warum tun wir uns damit etwas Gutes?
ARVAY: Wir Menschen sind Naturwesen. In einem Millionen Jahre langen Evolutionsprozess sind wir aus der Natur hervorgegangen. Die logische Konsequenz ist, dass wir in einem Funktionskreislauf mit der Natur stehen. Wir sind angepasst an die Natur und wir sind auf unsere natürlichen Lebensräume angewiesen – auch wenn diese immer mehr zerstört werden.
Ihr aktuelles Buch heißt „Der Heilungscode der Natur“. Wie kann der Kontakt zur Natur heilend sein?
ARVAY: Das kann man zum Beispiel daran sehen, dass Substanzen im Wald, die wir einatmen, eine pharmazeutische Wirkung auf uns haben. Die Mensch-Natur-Medizin ist keine, wo Natursubstanzen in Form von Arzneistoffen eingenommen werden, sondern eine, die dadurch wirkt, dass wir in der Natur sind. Es geht um den Aufenthalt in der Natur. Ohne etwas zu schlucken oder uns einzucremen wirkt die Natur heilend auf uns.
Wie macht die Natur oder im Speziellen der Wald das?
ARVAY: Der Wald ist ein riesiger kommunizierender Organismus, Pflanzen tauschen Botschaften aus, um sich über Angreifer wie Insekten zu informieren. Diese Kommunikation passiert über chemische Substanzen, sogenannte Terpene. Im Prinzip sind das Duftmoleküle, die wir teilweise auch riechen können.
Das bedeutet, wir sind gerade umgeben von diesen Terpenen?
ARVAY: Genau, hier im Wald ist alles voll mit diesen bioaktiven Substanzen.
Was tun diese Stoffe mit uns?
ARVAY: Man hat in zahlreichen wissenschaftlichen Studien gesehen, dass das Einatmen dieser Terpene positiv auf unser Immunsystem wirkt. Die Anzahl der natürlichen Killerzellen im Blut steigt. Diese Zellen sind dafür verantwortlich, Viren, aber auch Frühformen von Krebszellen in unserem Körper zu zerstören. Auch die drei wichtigsten Krebsproteine werden gestärkt. Diese werden benötigt, um bereits bestehende Tumore zu eliminieren. Somit ist Waldluft ein umfassendes Doping für unser Immunsystem.
Aber wie stark kann dieses Doping wirken – gerade im Fall von Krebs?
ARVAY: Es geht natürlich nicht darum, Chemotherapie zu ersetzen und zu sagen, geh nicht zum Arzt, geh nur in den Wald. Das ist es nicht! Es geht darum, den Körper auf allen möglichen Wegen zu unterstützen. Der Kontakt zur Natur kann den Körper im Krankheitsfall unterstützen, aber vor allem kann er Krankheiten vorbeugen. Das wurde durch Studien bewiesen.
Sie beschreiben Studien, die gezeigt haben, dass Menschen umso gesünder sind, je mehr Bäume in ihrem Viertel stehen. Nun könnte man argumentieren, dass mehr Grün auch zu Bewegung anregt und die Menschen deshalb gesünder sind.
ARVAY: Die Mensch-Natur-Medizin ist immer eine ganzheitliche: Ich kann mich nicht jeden Tag ungesund ernähren, dann in den Wald gehen und glauben, ich bleibe deshalb gesund. Es ist ein Gesamtpaket. Prinzipiell aber gilt: Die Trennung von der Natur macht uns krank.
Bäume haben auch einen psychologischen Effekt auf uns, beschreiben Sie. Wie funktioniert das?
ARVAY: Das funktioniert über den Parasympathikus, ein Nervennetzwerk, das unseren ganzen Körper durchzieht und der als Nerv der Ruhe gilt. Bäume aktivieren den Parasympathikus. Das führt dazu, dass weniger Stresshormone ausgeschüttet werden und das Immunsystem wieder besser arbeitet, das ja unter Stress heruntergefahren wird. Auch die Verdauung funktioniert besser, mehr Insulin wird produziert – es passieren viele Dinge, die Heilung fördern, im Gegensatz zur Stresssituation.
Der Wald wirkt also gegen Stress, er stärkt das Immunsystem und schützt auch das Herz: Sollte es Waldluft dann nicht auf Rezept geben?
ARVAY: Durch die Technisierung und Industrialisierung haben wir die Illusion bekommen, dass wir unabhängig von der Natur seien. Wir glauben, wir beherrschen mit unserer Technologie und Pharmazie alles, aber so ist es nicht. Wir sind nach wie vor in die Natur eingebettet, und wenn wir uns von ihr entfernen, werden wir krank. Es sollte zumindest keine Krankenhäuser mitten in der Stadt geben, sondern Pavillonkrankenhäuser wie früher, wo aus jedem Fenster Grün zu sehen ist.
Die Dosis macht die Medizin: Wie viel Wald brauchen wir?
ARVAY: Es gibt nicht zu viel Wald, und schon ein ausgedehnter Waldspaziergang wirkt. Um das Immunsystem dauerhaft zu stärken, sollte man zwei bis drei volle Tage pro Monat in einem Waldgebiet verbringen. Selbst wenn man in einer Großstadt lebt, haben schon Grünflächen mit einzelnen Bäumen eine positive Wirkung. Ich persönlich bin jeden Tag im Wald.
Literatur:
Das geheime Leben der Bäume: Was sie fühlen, wie sie kommunizieren – die Entdeckung einer verborgenen Welt von Peter Wohlleben
Hildegard-Heilkunde von A-Z: Kerngesund von Kopf bis Fuß von Wighard Strehlow
Wohllebens Waldführer: Tiere und Pflanzen bestimmen – das Ökosystem entdecken von Peter Wohlleben
Video:
Quellen: PublicDomain/diepresse.com/kleinezeitung.at am 13.12.2016
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