Das Mittelmeer war weg, so, als hätte jemand den Stöpsel gezogen. An Stränden, auf die zuvor die Wellen brachen, fiel die Küste 2000 Meter steil ab. Tiefe Canyons durchschnitten die schroffen Hänge, in den Kerben stürzten Flüsse zu Tal. Auf Felsterrassen an den Flanken krallten sich Nadelbäume fest.
Eine karge Tiefebene erstreckte sich, wo zuvor Wasser schwappte. Am Grund schimmerte eine grauweiße Salzwüste, in der einzelne Seen glitzerten. Wie platte Kegel ragten Hochplateaus hervor – die Inseln Mallorca, Korsika, Sardinien und all die anderen heutigen Urlaubsparadiese (Bild: 2000 Meter tiefe Senke: Bald blieben Salz, Schlick und Seen am Meeresgrund zurück).
Auf der Jahrestagung der European Geosciences Union (EGU) in Wien legten Forscher nun neue Erklärungen vor, wie es zu dem Verschwinden des Mittelmeers gekommen ist.
Dass etwas Kolossales passiert sein musste, dämmerte Naturkundlern bereits im 19. Jahrhundert: In Südfrankreich waren Arbeiter beim Bohren von Brunnen auf eine unterirdische Schlucht gestoßen, die mit Erde zugedeckt war.
Das Erstaunen wollte kein Ende nehmen
Weitere Bohrungen zeigten, dass der Graben sich wie ein Untergeschoss unter dem gesamten Rhône-Tal entlangzog. Der Fluss, so viel schien klar, musste sich also einst tief in den Boden geschliffen haben.
Es blieb eigentlich nur eine Folgerung, die aber noch kaum ein Forscher auszusprechen wagte: Der Pegel des Mittelmeers musste extrem niedrig gelegen haben.
Vor knapp 60 Jahren dann entdeckten Geoforscher im Boden des Mittelmeers Merkwürdiges: Bei der Erkundung des Untergrunds mittels Schallwellen, zeichnete sich auf den Monitoren ihres Forschungsschiffes eine Linie ab: Etwa hundert Meter tief im Schlick wurden Schallwellen reflektiert.
Das Erstaunen wollte kein Ende nehmen: Die Linie war überall, sie verlief im gesamten Meeresgrund. Eine Schicht musste sich ozeanweit abgelagert haben. Um was handelte es sich?
Es dauerte mehr als zehn Jahre, bis Bohrungen enthüllten, dass die Schicht aus Salz bestand. Jetzt fragten sich die verdutzten Forscher: Warum hatte es sich gleichmäßig über den gesamten Grund verteilt?
Die Analyse ergab, dass es sich wesentlich um Anhydrit handelte – ein Salz, das zurückbleibt, wenn Meerwasser verdunstet.
(Isoliertes Meer: Als hätte jemand den Stöpsel gezogen)
Flussmündung am Meeresgrund
Weitere Bohrungen lieferten die nächste Überraschung: In dem Salz erspähten die Forscher versteinerte Bakterienmatten, sogenannte Stromatolithen. Diese seit Urzeiten die Erde bevölkernden Wesen gedeihen im Flachwasser.
Jetzt sprachen die Wissenschaftler aus, was kaum noch zu ignorieren war: Der Grund des Mittelmeers muss einst nahezu trockengefallen sein.
Alles passte zusammen: Große Flüsse wie Nil und Rhône hatten bis zu 2400 Meter tiefe Schneisen in die Küsten geschnitten, wie Erkundungen ergaben.
Eine Bohrung vor Sardinien brachte den finalen Beweis: Dort lagen im Meeresgrund große Mengen Kies. Es handelte sich um Schotter aus dem Schwemmfächer einer urzeitlichen Flussmündung. Wasser musste sich aus dem Fluss direkt auf den Meeresboden ergossen haben.
Aber wie lange war das her?
Mit Spannung warteten die Gelehrten auf das Resultat ihrer Altersbestimmung des Salzes. Atome darin zerfallen in gleichbleibender Menge. Indem man die Menge der zerfallenen Teilchen mit der Menge der Ursprungsteilchen vergleicht, lässt sich das Alter der Substanz bestimmen.
Was war geschehen?
Das Ergebnis war eine riesige Überraschung: Das Salz hatte sich vor knapp sechs Millionen Jahren abgelagert, also in geologisch gesehen jüngster Vergangenheit. Zu jener Zeit muss das Mittelmeer verdampft sein und das Salz hinterlassen haben, folgerten die Wissenschaftler.
Seither debattieren Forscher über die Ursachen des Erdgeschichtsdramas. Klar scheint, dass sich die Straße von Gibraltar einst geschlossen haben muss, jene 14 Kilometer schmale Meerenge zwischen Europa und Afrika, durch die das Mittelmeer mit Wasser aus dem Atlantik versorgt wird (Wie sähe ein Tsunami im Mittelmeer aus?).
Aber wie könnte das geschehen sein? Auf der EGU-Tagung in Wien favorisierten Geoforscher zwei Theorien:
Eine Erdplatte, der sogenannte Gibraltar-Bogen, habe sich gedreht – und den Seeweg schließlich blockiert, meint eine Gruppe um Ana Crespo-Blanc von der Universidad de Granada in Spanien.
Vulkane hätten den Zugang zum Mittelmeer verstopft, meinten Guillermo Booth-Rea und seine Kollegen vom selben Forschungsinstitut.
Ana Crespo-Blanc und ihre Kollegen haben die Bewegungen der Erdplatten rekonstruiert, die bei Gibraltar ein kompliziertes Puzzle vieler Platten sind: Die Region geriet einst in den Sog der Alpenentstehung: Die Afrikanische Erdplatte schiebt sich wie ein Sporn in die Europäische, wobei sich in der Knautschzone die Alpen türmen.
Video:
Verbogene Platte
Auch westlich und östlich verbiegen sich seither die Platten. Vor neun Millionen Jahren, so berichteten es Ana Crespo-Blanc und ihre Kollegen auf der Wiener Tagung, begann sich dabei ein knapp 200 Kilometer breiter Block entgegen dem Uhrzeigersinn in die Straße von Gibraltar zu drehen – bis die sich schließlich vor knapp sechs Millionen Jahren geschlossen hatte.
Die Gruppe um Guillermo Booth-Rea hingegen präsentierte Bilder des Untergrunds, die sie vor Gibraltar mit Schallwellen gewonnen hatten. Dort taucht eine Erdplatte unter eine andere. Die Bilder zeigen die kilometerdicken Ablagerungen von Vulkanen, die vor zehn bis sechs Millionen Jahren dort am Meeresgrund ausgebrochen waren. Sie könnten den Seeweg schließlich blockiert haben, meinen die Forscher (Verbreitung der Flache-Erde-Theorie als Strategie der Diskreditierung kritischer Meinungsäußerung (Videos)).
War der Wasserzufluss ausgedünnt, könnte eine Kettenreaktion eingesetzt haben, meint Rob Govers von der Universität Utrecht in den Niederlanden: Eine leichte Absenkung des Wasserpegels reiche aus, um die Austrocknung des Mittelmeers unumkehrbar zu machen.
Das Meer lief wieder voll
Als sich nämlich der Wasserspiegel senkte, wurde der Meeresgrund entlastet – er hob sich. Die Hebung verkleinerte die Straße von Gibraltar weiter. Folglich verringerte sich der Wasserzustrom aus dem Atlantik noch mehr – und damit wiederum die Wasserlast auf dem Meeresgrund. Die Hebung des Bodens setzte sich fort.
Dass das Mittelmeer überhaupt wieder volllief, verdankt sich nach Meinung der Forscher der abtauchenden Erdplatte: Sie zerrt den Grund des Mittelmeers unterhalb der Straße von Gibraltar mittlerweile mit in die Tiefe. Vor 5,3 Millionen Jahren hatte sich das Land so weit gesenkt, dass wieder Wasser vom Atlantik ins Mittelmeer strömte.
Literatur:
Die seltsamsten Orte der Welt: Geheime Städte, Wilde Plätze, Verlorene Räume, Vergessene Inseln von Alastair Bonnett
Das erfundene Mittelalter von Heribert Illig
Quellen: PublicDomain/SPON/Daniel Garcia-Castellanos/Spanish National Research Council am 25.04.2016
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