Sanktionen verursachen beträchtlichen Schaden für die Wirtschaft der Russischen Föderation. Regierung schaltet in den Spar- und Autarkiemodus-
Im August sollte ein gemeinsames russisch-amerikanisches Ölbohrprojekt in der arktischen Karasee starten. Wenige Wochen danach zwangen neue US-Sanktionen den amerikanischen Partner Exxon Mobil zum Rückzug aus dem Vorhaben. Und ein Vertreter des Moskauer Energieministeriums räumte ein, dass die Bohrarbeiten im Nordmeer von russischer Seite wohl nicht mehr vor 2020 angegangen werden könnten. Die Folge ist, dass das erste Öl aus dem betreffenden Vorkommen erst zwischen 2025 und 2030 auf den Markt kommen wird.
Der Russischen Föderation wird bis dahin vielleicht nicht das Öl ausgehen. Aber in der Zwischenzeit wird das Land einigen Aufwand treiben müssen, das Rad ein zweites Mal zu erfinden und jene Technologie für Tiefseebohrungen im hohen Norden, die es ursprünglich über die Jointventures gegen die Verpfändung eines Teils seiner Ressourcen an westliche Investoren eintauschen wollte, selbst zu entwickeln. Das dürfte letztlich genauso gelingen wie die Entwicklung von Sputnik und Wasserstoffbombe. Es bedeutet aber, dass mehr Kapital vorgeschossen werden muss, bevor Erträge fließen. Auch die Beschaffung dieser Mittel wird durch die Finanzmarktsanktionen gegen führende russische Unternehmen des Rohstoffsektors immer schwieriger.
So konnte die Fortführung des Baus einer Gasverflüssigungsanlage auf der Jamal-Halbinsel, an der die russische Firma Novatek mit 60, die französische Total und die China National Petroleum Company (CNPC) mit je 20 Prozent beteiligt sind, nur dadurch gesichert werden, dass die russische Seite ihren Anteil auf 50,1 Prozent senkte und die Chinesen zusätzliche 9,9 Prozent übernahmen. Auch der Bau der geplanten Pipelines von Sibirien in Richtung Volksrepublik ist in Schwierigkeiten geraten, weil China sich weigert, in höherem Umfang Vorauszahlungen zu leisten, aus denen Gasprom den Leitungsbau finanzieren wollte. Abgesehen davon, dass die niedrigen Energiepreise den potentiellen Erlös – ob vorausgezahlt oder nicht – ohnehin schmälern.
In dieser Situation ist es nicht erstaunlich, wenn russische Medien unlängst meldeten, dass der Sicherheitsrat des Landes einen Worst-Case-Plan für die Entwicklung der Wirtschaft aufgestellt und durchgerechnet habe. Das Vorhaben für die Jahre 2016–2020 geht von der Annahme aus, dass die Finanzmarktsanktionen noch weiter verschärft werden und Russland am Ende völlig von Kapitalzufuhr aus dem Westen abgeschnitten sein könnte.
Für diesen Fall sieht der Plan offenbar vor, dass russische Unternehmen politisch verpflichtet werden, ihre Schulden im Westen nicht mehr zu bedienen, also gegenüber dem internationalen Kapitalmarkt ihre Insolvenz zu erklären. Wenn man bedenkt, dass es in den 2000er Jahren eine der ersten Prioritäten der Regierung Putin war, alle Auslandsschulden vorzeitig zurückzuzahlen, um die westlichen Gläubiger vom Hals zu haben, kann man einschätzen, welchen Einschnitt es bedeuten würde, wenn das Land auf diese Weise sein bisher recht gutes Kreditrating aufs Spiel setzen würde.
Einstweilen versuchen russische Unternehmen, ihre Auslandsverschuldung konventionell zu verringern. Sie zahlen ihre Verbindlichkeiten fristgemäß und teilweise sogar vorzeitig zurück, so dass sich paradoxerweise die Schuldenquote Russlands unter dem Sanktionsregime sogar verbessert hat. Doch Zahlen der österreichischen Raiffeisenbank International zeigen andererseits den hohen Grad an Abhängigkeit vom westlichen Kapitalmarkt, den die russische Volkswirtschaft im Zeichen ihrer Kapitalisierung erreicht hat.
Wurden 2013 noch internationale Kredite in Höhe von mehr als 50 Milliarden US-Dollar nach Russland vergeben, sank diese Zahl 2014 auf knapp über zehn Milliarden und lag im ersten Quartal dieses Jahres bei bis dahin zwei bis drei Milliarden Dollar, hochgerechnet auf das Gesamtjahr also in etwa gleicher Höhe. Da gleichzeitig die Kapitalflucht aus Russland anhält – geschätzt wird ein Schwund von mindestens 90 Milliarden Dollar pro Jahr –, liegt die Vermutung nahe, dass der innerrussische Kapitalmarkt nicht in der Lage sein wird, diese Verluste auszugleichen. Eine erhebliche Verlangsamung der Investitionen ist die unausweichliche Folge, und dieser Effekt ist natürlich von den Verursachern der Sanktionen auch gewollt.
Der Kotau vor den »objektiven Marktgesetzen«, den Präsident Wladimir Putin vor der UNO absolvierte, als er deren Verletzung durch die westlichen Sanktionen beklagte, spiegelt also ein objektives Dilemma wider: Eine nachholende Modernisierung ist unter den Bedingungen eines freien Kapitalverkehrs stets politisch angreifbar. Dass China auf diesem Weg erfolgreich gewesen ist, liegt genau daran, dass es sich insofern nicht an das kapitalistische Lehrbuch gehalten hat und bis heute Kapitalverkehrskontrollen beibehält.
Der andere Weg: Die Kapitalflucht aus Russland auf administrativem Wege zu stoppen würde für Putin allerdings nicht nur Ärger mit der Welthandelsorganisation WTO bedeuten, was angesichts der Sanktionen halb so schlimm wäre; es würde ihn vor allem in Konflikt mit seiner herrschenden Klasse bringen.
Denn der Deal, den er zu Beginn seiner Amtszeit mit den Oligarchen einging, lautete: Ich lasse euch Geld machen, und ihr haltet euch aus der Politik heraus. Diese Toleranz im Hinblick auf die Kapitalflucht wird sich der Staat nicht mehr lange leisten können.
Literatur:
Russland verstehen: Der Kampf um die Ukraine und die Arroganz des Westens von Gabriele Krone-Schmalz
Die Eroberung Europas durch die USA von Wolfgang Bittner
Krieg in der Ukraine von F. William Engdahl
Wir sind die Guten.: Ansichten eines Putinverstehers oder wie uns die Medien manipulierenvon Mathias Broeckers
Quellen: PublicDomain/jungewelt.de vom 01.10.2015
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