Von Schwärmen und Schwämmen: Zur Ekstase des Sozialen, über die Macht sozialer Netzwerke, und warum Glück im Schatten der schweigenden Mehrheiten ansteckend ist.
Sind Sie Mitglied in einem Verein, pflegen Kontakte zu alten Klassenkameraden oder engagieren sich politisch oder ehrenamtlich für eine gute Sache? Haben Sie Familie, Freunde und Kollegen, und vielleicht auch einen Facebook-Account? Oder sind Sie in einer anderen Internetplattform registriert und tauschen dort Informationen und Privates aus?
Wie und wo auch immer Sie agieren: Sie sind in mindestens ein soziales Netzwerk eingebettet. Alles, was durch dieses Netzwerk fließt, betrifft Sie deshalb auch mehr oder weniger persönlich. Die Macht sozialer Netzwerke ist kaum zu überschätzen. Das be-haupten zumindest die amerikanischen Wissenschaftler Nicholas Christakis und James Fowler, die sich der Netzwerkforschung widmen und die Zentren von Beziehungs-geflechten und einflussreichen Menschen erforschen.
Wir leben zwar seit Jahrtausenden in Netzwerken, doch haben sich Struktur, Quantität und Qualität dieser Netzwerke erheblich gewandelt. Eine extrem enge Vernetzung im Familienclan, in der Informationen stark zirkulieren, ist hierbei einer Vernetzung gewichen, die einem Fischschwarm gleicht. Nicht der einzelne Fisch entscheidet, wohin die Reise geht, sondern der Schwarm trifft diese Entscheidung, glauben Christakis und Fowler.
Es ist die Theorie vom sozialen Gehirn, von einer sozialen und kulturellen Intelligenz, die diesem Gedanken zugrunde liegt. Denn wir Menschen sind weder Inseln noch Monaden, sondern vorrangig soziale Wesen und Netzwerkmenschen. Der Homo dictyous, den beide Wissenschaftler heraufbeschwören, hieß einst zoon politikon: Aristoteles ist in dieser Sichtweise lediglich zum Aquarianer mutiert.
Fragt man nun nach dem Wie und Warum der Vernetzung, so stößt man in erster Linie auf die scheinbar so zahlreichen Vorteile, die uns unsere Verbindungen bringen. Unser Aktionsradius ist größer, die Wahrscheinlichkeit höher, dass wir besser verdienen, wenn wir gut vernetzt sind, und vieles lässt sich leichter und effizienter erledigen. Wir brauchen soziale Anerkennung, um überleben zu können.
Interessant an diesem urmenschlichen Phänomen ist die Tatsache, dass wir scheinbar nicht nur von unseren unmittelbaren Angehörigen und Freunden in unserem Handeln beeinflusst werden, sondern auch von Menschen, denen wir bis dato noch nie begegnet sind. Das allerdings hat nicht nur positive Auswirkungen.
Christakis und Fowler zeigen in Connected, dass auch Massenhysterien wie SARS oder Stigmatisierungen und Diskriminierungen über soziale Netzwerke unkontrolliert ver-breitet werden. Es kommt unter Umständen gar zu einer Epidemie der Einstellungen, die von bestimmten Knotenpunkten innerhalb des Netzwerkes in Umlauf gebracht werden. Da innerhalb des Schwarms jedoch keine sozialen Kontrollstützpunkte errichtet sind, die Informationen und Einstellungen zensieren, ist die Verbreitung kaum gezielt aufzuhalten. Nicht selten werden Wirkungen hervorgerufen, die über die Absichten und Ziele der beteiligten Individuen hinausgehen. So hinge zum Beispiel unsere Gesundheit mit den Handlungen und Entscheidungen der Menschen in unserer Umgebung untrennbar zusammen, da diese unsere Freunde und damit auch uns selbst indirekt beeinflussen würden. Krankheiten, Krisen und Katastrophen sind also nicht zuletzt von der Richtung abhängig, in die sich der Schwarm, dem wir angehören, bewegt.
Ein Beispiel der Autoren: „Amy hat eine Freundin namens Maria, und diese hat eine Freundin namens Heather, die Amy nicht kennt. Heather treibt keinen Sport mehr und nimmt zu. Da Maria Heather mag, verändert dies ihre Vorstellungen von einem über-gewichtigen Menschen und sie kommt zu dem Schluss, dass es doch eigentlich gar nicht so schlimm ist, dick zu sein. Maria verändert ihr Verhalten zwar nicht, doch sie wird toleranter gegenüber Menschen, die viel essen und keinen Sport treiben. Als nun Amy, die einmal pro Woche mit Maria joggen geht, plötzlich keinen Sport mehr treibt, drängt Maria Amy nicht, mit dem Jogging weiterzumachen. Selbst wenn Maria ihr eigenes Verhalten nicht verändert, wirkt sich ihre neue Einstellung auf das Verhalten von Amy aus.“
Unklar in diesem Fall bleibt, warum Amy „plötzlich“ keinen Sport mehr treibt. Solche Fragen scheinen Christakis und Fowler auch nicht wirklich zu interessieren. Ohnehin hinterlassen die meisten Fallbeispiele offene Fragen. Warum in Deutschland über 60% der Bevölkerung an Rückenschmerzen leiden, in den USA aber nur jeder Zehnte deswegen den Arzt konsultiert, wird nicht etwa den völlig unterschiedlichen Gesundheitssystemen angelastet, sondern als kulturelles Phänomen des Schwarmverhaltens gedeutet.
Dieses sei dafür verantwortlich, dass sich Krankheiten in bestimmten Regionen schneller verbreiten als anderswo. In ihren Experimenten suchen Christakis und Fowler nach dem Epizentrum solcher Massenbewegungen und zeigen, wie solche Netzwerkbewegungen an den Rändern ausfransen. Was sie nicht klären können, sind all die Beispiele von Menschen, die etwa inmitten einer politischen Hysterie nicht wie tote Fische mit, sondern wie wirklich lebendige gegen den Strom schwimmen: Ich denke hier an Sophie Scholl oder – meinetwegen – auch an Don Quijote. Eine Sache ist der Schwarm, die andere der Charme der Opposition, des Protests, des Komplotts, der Rebellion, der Empörung, der Auflehnung und Verweigerung.
Doch diese Zeiten scheinen in der Tat unwiederbringlich vorüber zu sein. Die Angst, den Anderen zu gleichen und sich in der Menge zu verlieren, die Angst vor Konformität und Anpassung, der Wille zum Ungehorsam sind verschwunden.
Verflüchtigung ist das Schicksal unseres Selbst in der Gegenwart
„Heute“, kommentiert Jean Baudrillard diesen Zustand, „geht es darum, lediglich sich selbst zu gleichen. Sich überall wieder finden, vervielfältigt, aber unserer eigenen Formel treu – überall der gleiche Schlag.“ Keine Differenz mehr, keine Differenzierung. Dort, wo sich alles ähnlich ist, ist nichts mehr. Also nicht Entfremdung, wie bei Scholl und Cervantes, sondern Verflüchtigung ist das Schicksal unseres Selbst in der Gegenwart.
Denn alles folgt viel zu schnell aufeinander. Die Dinge werden bloß noch zusammenhang-los dargeboten. Douglas Coupland sprach einst vom Historical underdosing: Wir leben in einer Zeit, in der nichts mehr passiert und sind allenthalben süchtig nach Zeitungen, Zeitschriften und Nachrichten, egal welche.
Der 1929 geborene Baudrillard, ehemals Assistent des marxistischen Soziologen Henri Lefebvre, fragte sich bereits Mitte der 1970er Jahre, was man gegen ein solches System überhaupt noch tun könne und gab die hoffnungsfrohe Antwort: nichts.
Vielleicht, so glaubte er jedoch, ließe sich dieses System überlisten, indem man das Spiel einfach mitspielt, also doch mit den Schwärmen schwimmt und alles begierig und wie ein Schwamm aufsaugt, was angeboten wird. Die Eigenlogiken des Systems so ad absurdum führen, ihren Untergang zelebrieren. Das Spiel der Katastrophe pushen, um es schneller zu beenden. Bedingungslose Auslieferung an ein willkürliches, sinnentleertes Zeichensystem.
Wahrscheinlich ist der Begriff System für eine solch sinnentleerte Welt, eine Welt, die nur noch unfassbarer Schwarm ist, nicht zutreffend. Denn es gibt überhaupt kein System mehr. Wir haben, so Baudrillard bereits in seiner Dissertation aus den 1960er Jahren, ein referenzloses Zeichensystem erzeugt, in dem der Konsum lediglich noch idealistische Praxis und unbegrenzt wiederholbar ist. Deshalb triumphierten auch die Dinge über uns und wucherten unaufhörlich fort. Jeder Versuch der Kontrolle sei zwecklos, da wir uns von den Objekten verführen ließen.
Die Sinnlosigkeit unseres Lebens, die Folge des Triumphes der Dinge über uns ist, stellt Baudrillard in der „Transparenz des Bösen“ von 1990 so dar: Verfolgen Sie einen Passanten in der Fußgängerzone, verdoppeln Sie den Un-Sinn durch diese Verfolgung, nehmen Sie ihm das Ziel durch diese Verdopplung. Endet das Spiel mit der Kehrtwende des Verfolgten und der Frage, was Sie eigentlich wollen, so antworten Sie: Nichts. Das Spiel ist aus, die Welt ist, wie sie ist.
Genau diese Sinnlosigkeit drückt sich auch in den von Christakis und Fowler analysierten Schwärmen aus. Das soziale Gehirn ist im Grunde genommen asozial. Denn wir vernetzen die Dinge als ob sie noch Sinn hätten. Dabei ist alles nur noch künstliche Montage und durch puren Unsinn organisiert. Das Wesen der Welt, so Baudrillard, ist Simulation. Wir sind keine Originale mehr, sondern der Sonderfall einer absoluten Synchronisation: „Unsere Gesellschaft hat den Grenzpunkt der Information und der Transparenz überschritten: Ekstase des Sozialen (die Masse), des Körpers (die Fettleibigkeit), des Geschlechts (die Obszönität), der Gewalt (der Terror), der Information (die Simulation), des Schönen (die Mode), des Sexuellen (der Porno). Das ist die Ära der Anomalie. Die Anomalie hat keine Folgen für das System.“
Die Ekstase des Sozialen ist zugleich Baudrillards Thema des bei Matthes und Seitz in der Reihe „Fröhliche Wissenschaft“ erschienenen Bandes mit dem Titel „Im Schatten der schweigenden Mehrheiten“ (1978), in dem er gleich zu Beginn ein schwarzes, alles Soziale verschluckendes Loch entdeckt, das eine Ansammlung von Abfällen des Sozialen in sich aufsaugt. Er nennt dieses Loch „Masse“. Die Masse sei allerdings nur noch eine „schwammige, eine klebrige … Vorstellung“, das, was bleibt, wenn das Soziale ver-schwunden ist.
Sie ist sinnentleert und bedarf nicht der Teilhabe an Idealen, deren blinden Bodensatz sie darstellt. Der einzige noch funktionierende Referent dort sei die schweigende Mehrheit. Deren Existenz aber ist nicht länger als sozial, sondern als statisch/statistisch zu charakterisieren. Es ist die Simulation am Horizont des Sozialen, der sich vollends verflüchtigende Schwarm. Die Massen „drücken sich nicht aus, sie werden befragt, sie werden getestet“ in einem totalen, ja totalitären „Kreislauf ohne Kennzeichen“ und „bombardiert mit Stimuli und Botschaften.“
Auch der Wunsch, all dem noch einen Sinn zu verleihen, ist verloren gegangen. Wir brauchen keine Sinnsucher mehr. Wir benötigen auch keine Manipulationen mehr. Denn auch diese werden von der Masse bloß absorbiert oder herumgewirbelt. Die Masse akzeptiert einfach alles und kehrt es sogleich ins Spektakuläre; sie selbst manipuliert in alle erdenklichen Richtungen. Für die Masse ist das Soziale längst eine Ware, mit der nicht gehandelt wird. Die Masse ist das Negativ des Sozialen, das bloß noch als Simulation aus dem Meer sozialer Netzwerke auftaucht, das, wie ein Schwamm, alles aufsaugt und auf den blinden Bodensatz der Beziehungen drückt. Ebendort beginnen all unsere „sozialen“ Beziehungen zu wuchern.
Baudrillard schreibt: „Wie naiv sind doch die Sozialisten und Humanisten aller Schattierungen, wenn sie fordern, der ganze Reichtum müsse wieder verteilt werden, es dürfe keine unnützen Ausgaben geben. Der Sozialismus, der sich den Gebrauchswert, namentlich den des Sozialen, auf die Fahnen geschrieben hat, offenbart hinsichtlich des Sozialen ein absolutes Missverständnis. Er glaubt, das Soziale könne eines Tages die optimale Kollektivverwaltung des Gebrauchswerts der Menschen und der Dinge sein.“
Doch das Soziale ist bestenfalls noch Lockmittel, Hypothese und zu verwaltender Rest; der Mensch dessen Abfallprodukt, gehalten in einem „zufälligen Gravitationsfeld“ – seinem „sozialen“ Netzwerk, nicht gewillt, anzuerkennen, dass eben das Soziale dieses Netzwerks im Raum der totalen Simulation wegstirbt.
Verweise:
Nicholas A. Christakis + James H. Fowler Connected!
Die Macht sozialer Netzwerke und warum Glück ansteckend ist
Aus dem Amerikanischen von Jürgen Neubauer
S. Fischer Verlag
Preis € (D) 22,95 | € (A) 23,60 | SFR 39,90
ISBN: 978-3-10-011350-4
Jean Baudrillard
Im Schatten der schweigenden Mehrheiten
Aus dem Französischen von Grete Osterwald
Matthes & Seitz Berlin
160 Seiten, Klappenbroschur
ISBN 978-3-88221-693-6
€ 14,80 / CHF 27,50
Quelle: glanzundelend.de vom 17.03.2013
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