Die Bilder des Frührentners Jürgen, der in einem bayrischen Pflegeheim sein Essen fotografierte, verbreiteten sich viral im Internet. Ein Einzelfall, oder befindet sich die Pflege in Deutschland generell in einem desolaten Zustand? RT Deutsch traf sich mit dem Pflegehelfer Stefan* und der Physiotherapeutin Louisa* zum Interview. Das Fazit der beiden ist ernüchternd.
(Foto: Die Initiative Pflege am Boden protestiert öffentlichkeitswirksam gegen den Pflegenotstand)
Stefan ist 36 Jahre alt und arbeitet seit elf Jahren als Pflegehelfer in verschiedenen Seniorenheimen, Krankenhäusern, Dementen-WGs und Psychiatrien in Berlin. Bei einer Zeitarbeitsfirma angestellt, liegt seine Wochenarbeitszeit bei 30 bis 35 Stunden – abhängig von der Auftragslage. Meist bleiben ihm am Monatsende zwischen 1000 und 1200 Euro netto übrig.
Louisa, 32, ist gelernte Physiotherapeutin mit sieben Jahren Arbeitserfahrung. Zuletzt war sie für eine Firma tätig, die Personal in Pflegeheime entsendet. In dem privat betriebenen Pflegewohnheim, in das Louisa geschickt wurde, leben Demenzkranke, Wachkoma-Patienten und andere schwere Pflegefälle. Die Wochenarbeitszeit der Therapeutin lag bei 35 Stunden, ihr Nettogehalt bei 1100 Euro. Aufgrund der hohen Arbeitsbelastung und grundsätzlicher Unzufriedenheit ist sie vor kurzem aus dem Beruf ausgestiegen.
Im RT Deutsch-Interview erzählen beide von ihrem Arbeitsalltag.
Louisa und Stefan, ihr seid – beziehungsweise wart bis vor kurzem – als Pflegehelfer und Physiotherapeutin in Berlin tätig.
Derzeit finden die Bilder von Frührentner Jürgen, der das wenig appetitliche Essen aus seiner Seniorenresidenz fotografierte, große Verbreitung im Internet. Ihr selbst habt Arbeitserfahrungen in ähnlichen Einrichtungen gesammelt. Haben die Bilder euch an euren Arbeitsalltag erinnert?
Stefan: Auf jeden Fall haben mich die Bilder an meinen Alltag erinnert. Natürlich hat das aber auch mit dem enormen Zeitdruck zu tun, unter dem wir stehen. Als Personal haben wir auch kaum Zeit, das Essen schön zuzubereiten. Was man auf den Fotos von Jürgen nicht sieht: Das Essen ist auch meistens zerkocht und gar nicht oder nur schlecht gewürzt.
Louisa: Ja, natürlich hat mich das an meinen Arbeitsalltag erinnert. In der Einrichtung, in der ich bis vor kurzem gearbeitet habe, durften wir auch selbst das Essen „genießen“. Das habe ich am Anfang auch ein- bis zweimal pro Woche gemacht, aber dann schnell wieder aufgegeben. Die Zutaten waren schlecht, der Geschmack meistens gleich und teilweise hat man auch Durchfall von dem Essen bekommen. Außerdem bin ich Vegetarierin und fleischloses Essen gab es nur sehr selten, meist nur als Süßspeise.
Dem Frührentner Jürgen ging es bei seiner Foto-Aktion, die er mittlerweile wegen drohender Konsequenzen aufgeben musste, ausdrücklich nicht darum, das Heim, in dem er lebt, oder gar die Angestellten dort anzuprangern. Vielmehr ist von strukturellen Problemen im Pflegebereich die Rede. Wie würdet ihr generell den Umgang mit Bewohnern in einem solchen Pflegeheim beschreiben? Welche Faktoren spielen bei eurer Arbeit die größte Rolle?
Louisa: Den generellen Umgang empfinde ich als möglichst herzliche Fließbandarbeit. Ein Satz einer Pflegekraft hat sich mir ins Gehirn gebrannt: „Ich steh‘ hier zwischen Stullen schmieren und Arsch abwischen“.
Was heißt das im Einzelnen?
Louisa: Ich sehe sehr viel frustriertes Personal, Menschen die sich eigentlich sehr gerne um andere Menschen kümmern würden, aber am Ende belanglose Dokumentationen schreiben müssen und deshalb am Bewohner fehlen. Manche werden durch die doppelte Belastung empathielos, auch um sich selbst zu schützen, oder sie fangen an, Fehler zu machen, was besonders in der Medikamentenausgabe gravierend ist. Ich sehe auch schlecht geschultes Personal, bedingt durch den ständigen Personalwechsel. Viele Pfleger und Pflegehelfer beherrschen den Umgang mit Demenzkranken nicht, weil ihnen auch das Interesse fehlt. Ich sehe auch Personal, das Demenzkranke anschreit, weil sich die Leute nicht anders zu helfen wissen. Da werden auch Aggressionen an Bewohnern ausgelassen.
Auf der anderen Seite zeigen die Bewohner auch sehr viel Verständnis für die schlechten Arbeitsbedingungen des Personals und lassen deshalb sehr viel zu. Oft wird sich auch erst gar nicht beschwert, weil die Bewohner wissen, dass das Personal eigentlich nichts für die Situation kann.
Stefan, hast du ähnliche Erfahrungen gemacht?
Stefan: Ja. Ein Problem ist sicherlich, dass es den Pflegenotstand gibt. Also zu wenig Personal, weil der Beruf auch schlecht bezahlt ist. Es ist natürlich auch makaber, dass man schon um 6 Uhr früh anfangen muss, Leute zu waschen, die eigentlich ihren Lebensabend genießen wollen und auch noch lieber länger schlafen würden. Das sind dann oft die Fälle, die sich nicht mehr artikulieren können. Die werden dann vorgeschoben, weil denen das angeblich egal ist. Es heißt dann, die bekommen nichts mehr mit, was ich ziemlich grauenvoll finde und selbst so auch nicht glaube. In einigen Häusern müssen die Leute dann um 8 Uhr am Frühstückstisch sitzen. Auf 25 bis 30 Bewohner kommen da meistens nur drei Pfleger, die gar nicht genug Zeit haben, ihre Arbeit richtig zu machen.
Wie sieht der weitere typische Tagesverlauf im Pflegeheim aus?
Stefan: Nach dem Frühstück geht es dann meistens weiter mit Waschen und Toilettengang. Zwischendurch klingeln Leute, die etwas Bestimmtes wollen. So zieht sich das dann bis kurz vorm Mittagessen hin. Immer, wenn es zu einem Notfall kommt, stürzt der ganze Schichtplan zusammen und die Bewohner werden dann noch schlechter versorgt als dies ohnehin schon der Fall ist. Aber auch im Regelbetrieb ist man eigentlich die ganze Zeit voll beschäftigt und kommt kaum zur Pause.
Ab 11.30 Uhr oder 12 Uhr fangen wir an, das Mittagessen vorzubereiten. Einigen Leuten muss man auch Essen reichen. Danach wieder Toilettengang und dann werden die Leute aufs Bett gelegt – ob sie wollen oder nicht. Das dauert so bis 13 Uhr, manchmal auch bis 13.30 Uhr. Danach muss ich dann noch alles dokumentieren. Diese Dokumentationen sind aber eine große Lüge, weil vieles dokumentiert und abgerechnet wird, was nicht zwingend gemacht wurde. Danach endet meine Schicht und am nächsten Tag geht es dann von vorne los.
Stichwort: Ökonomisierung der Pflege. Oft ist davon die Rede, dass das Gesundheitssystem in Deutschland eigentlich nur noch nach Profitinteressen ausgerichtet ist. Louisa, welche Erfahrungen hast du als Physiotherapeutin dahingehend gemacht? Zählen für die Heimbetreiber nur die Zahlen oder gibt es in den Betreiber-Statuten auch so etwas wie eine Pflegeethik?
Louisa: Ich empfinde den heutigen Pflegestandard als ethisch sehr fragwürdig. Eine richtige Pflege halte ich für sehr aufwändig und ich frage mich auch, ob dies in einem solchen System überhaupt möglich ist. Überall wird gespart und gemauschelt, vertuscht und verdreht – aus allem wird versucht, Profit zu schlagen. Wir werden wohl den Kapitalismus überwinden müssen, um eine menschenwürdige Pflege zu ermöglichen. Der Mensch sollte wieder im Vordergrund stehen, nicht das Geld.
Alles was in den heutigen Pflegeheimen geleistet werden kann, sehe ich als Notversorgung an. In der täglichen Arbeit geht es eigentlich nur darum, die Körper der Bewohner am Leben zu halten. Es gibt harte finanzielle Auflagen, etwa die Versorgungspauschale, die viel zu gering ist, um ein gesundes und nahrhaftes Essen zuzubereiten. Die Auflagen vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) betreffen zwar die Schriftgröße des Speiseplans, aber nicht die Qualität des Essens. Die Verträge, die mit den Angestellten in der Pflege gemacht werden, sind auf kurze Laufzeiten angelegt, damit die Beschäftigten möglichst wenige Ansprüche stellen können und aus Angst um ihren Arbeitsplatz viel mit sich machen lassen. Es gibt auch großen Druck gegen die Gründung von Betriebsräten. Strukturelle Verbesserungsvorschläge werden schon gerne gesehen, werden aber im Team nicht umgesetzt, da niemand gerne festgefahrene Strukturen ändert.
Stefan: Viele Pflegehelfer werden auch einfach in Theorie-Basiskurse mit 200 bis 300 Unterrichtsstunden gesteckt. Die werden danach in den Beruf geschickt, ohne davor auch nur ein Praktikum gemacht zu haben. Viele sind einfach in der Pflege gelandet, weil es da noch Jobs gibt. Diese Leute, die kurz zuvor vielleicht noch an einer Supermarktkasse gearbeitet haben, müssen sich dann um einen schizophrenen Patienten im Rollstuhl kümmern. Das geht natürlich schief.
Louisa, worin siehst du die schwerwiegendsten Defizite im Pflegebereich?
Louisa: Wegen der fehlenden Zeit können keine persönlichen Gespräche mit den Bewohnern geführt werden, was ich persönlich ganz schlimm finde, da die Bewohner dann auch keinen Anschluss an andere Menschen mehr finden. Es bilden sich selten Freundschaften. Die meisten Bewohner bleiben alleine. Oft muss auch aus Zeitgründen darüber hinweg gesehen werden, dass ein Bewohner schon vor einer Stunde ins Bett gemacht hat, was unter anderem dann auch meine Arbeit als Therapeutin extrem erschwert.
Ich kann mir schwer vorstellen, wieviel tatsächlich die Aufrechterhaltung von einem solchen Betrieb kostet, aber rein von dem, was die Angehörigen pro Monat in einem privaten Heim zu dem Kassensatz hinzuzahlen müssen, denke ich, dass da noch viel Potenzial nach oben sein müsste, um Geld in die Pflege zu stecken. Allerdings stoßen auch Heime, die auf Vereinsbasis organisiert sind, zunehmend an ihre Grenzen.
Ganz klar ist die Personallage das, wo am meisten passieren muss. Zum einen, um den Beruf attraktiver zu machen, um die Motivation zu steigern, und weil es einfach eine unheimlich schwere Arbeit ist. Das geht auf den Körper, das geht auf die Psyche, das geht auf das ganze Leben.
Stefan, du arbeitest nun schon seit elf Jahren im Pflegebereich. Wenn man sich eure Ausführungen anhört, fragt man sich, warum du noch nicht die Flucht ergriffen hast. Was hält dich trotz all dieser Probleme in deinem Beruf?
Stefan: Ich arbeite für eine Zeitarbeitsfirma und bin Springer in sehr vielen Einrichtungen. Man zieht also seinen Dienst durch und geht dann. Da bin ich ganz ehrlich. Aber mir macht der Beruf auch Spaß. Man kann den Leuten etwas geben und sie brauchen ja Pflege und Zuneigung. Mein Arbeitsmotto lautet: „Was du nicht willst, das man dir tut, das füg‘ auch keinen andern zu.“ Damit fahre ich sehr gut. Die Bewohner mögen mich auch. Der Beruf ist schon schön und hat auch viel mit Mitgefühl und Emotionen zu tun. Die Umstände sind halt nur bescheiden.
Zum Abschluss, ein Gedankenexperiment: Stellen wir uns vor, ihr seid nicht mehr 32 und 36, sondern 72 und 76 Jahre alt. Ihr wärt nun selbst gebrechlich und müsstet in ein solches Pflegeheim. Was wäre eure Reaktion darauf?
Stefan: Suizid.
Louisa: Tatsächlich haben wir das schon mehrmals zusammen besprochen. Auch mit anderen Bekannten und Freunden, die in dem Beruf tätig sind und der Grundtenor ist: „Bitte erschieß‘ mich bzw. gib mir eine Überdosis Morphium.“ Keiner von uns landet in so einem Heim, wenn wir es irgendwie verhindern können.
Vielen Dank für das Interview.
Die Fragen stellte RT Deutsch-Redakteur Florian Hauschild
*Namen von der Redaktion geändert
Anmerkung: Die Initiative Pflege in Not bietet unter der Telefonnummer 030/69 59 89 89 eine Beratungshotline für Betroffene an.
Litertur:
Eine Polin für Oma: Der Pflege-Notstand in unseren Familien von Ingeborg Haffert
Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität: Wie die Pharmaindustrie unser Gesundheitswesen korrumpiert von Peter C. Gøtzsche
Heilen verboten – töten erlaubt: Die organisierte Kriminalität im Gesundheitswesen von Kurt G Blüchel
Quellen: verdi.de/rtdeutsch.com vom 03.07.2015
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