30 Jahre beträgt die Halbwertszeit von radioaktivem Cäsium-137, das im Frühjahr 1986 quer über Europa herabregnete. Im bayerischen Wald und in Teilen Österreichs und Tschechiens sind Wildschweine, Beeren und Pilze bis heute so stark verstrahlt, dass ihr Verzehr das Krebsrisiko relevant steigern würde. Viel gravierender jedoch ist die Situation in der Sperrzone rund um Tschernobyl.
Über ein rund 100.000 Hektar großes Areal verteilt rotten bis heute große Mengen an hoch- und mittelgradig radioaktivem Schutt von der Explosion und den wochenlangen Bränden in behelfsmäßig gesicherten Lagerstätten vor sich hin. In unmittelbarer Nähe zum Sarkophag, der den havarierten Reaktor 4 umgibt, lagern zudem die ausgebrannten Brennstäbe der Reaktoren 1-3 in oberirdischen Abklingbecken.
Die Waldbrände der letzten drei Wochen wirbeln radioaktive Partikel im Waldboden auf, bedrohen die Stromversorgung der Reaktorgebäuden und Abklingbecken und hüllen die nahe gelegene Hauptstadt Kiew bereits seit Tagen in schwere Rauchschwaden (Fukushima: 4.700 Brennstäbe ungesichert – und könnten schmelzen).
Noch wurden keine relevant erhöhten Strahlenwerte außerhalb der Sperrzone gemessen, lediglich eine etwa hundertfache Erhöhung der Konzentration von radioaktivem Cäsium-137 in der Luft von Kiew (Daten des Zentralen Geophysischen Observatorium in Kiew zeigen einen Anstieg der Cäsium-137 Konzentration von rund 6 μBq/m3 auf 700 μBq/m3 am 10.-11. April), die damit jedoch weiter deutlich unter den gesetzlichen Grenzwerten liegt.
„Strahlenbiologisch gibt es keinen Schwellenwert, unterhalb dessen Radioaktivität harmlos wäre,“ gibt Rosen zu bedenken: „Jede noch so geringe zusätzliche Strahlendosis erhöht das Risiko, an Krankheiten wie Krebs, Schlaganfällen oder Herzinfarkten zu versterben.
Noch mag die Gefahr für die Menschen in der Ukraine und Weißrussland verhältnismäßig gering sein, doch das gilt nur so lange die Waldbrände sich nicht auf hoch-kontaminierte Teile der Sperrzone ausbreiten. Es ist ein Ritt auf Messers Schneide und eine ganz und gar unwillkommene Erinnerung an die Zeit des Super-GAU vor genau 34 Jahren. Schon damals konnte man nur hoffen, dass die Löscharbeiten Erfolge zeigen und der Wind sich nicht dreht.“
Für Deutschland besteht – anders als noch 1986 – trotz der aktuellen Waldbrände noch keine Gefährdung durch radioaktive Wolken aus Tschernobyl. Windverteilungsmuster der französischen Strahlenschutzbehörde IRSN zeigen zwar eine Ausbreitung der Rauchwolken quer über Europa, doch noch sind die Konzentrationen von Rauch- und Strahlungspartikeln so gering, dass eine relevante Erhöhung der Strahlendosis außerhalb der Sperrzone noch nicht gemessen wurde. Wie sich die Situation in den kommenden Wochen entwickeln wird, hängt stark davon ab, ob es gelingt, die Brände rechtzeitig zu löschen, bevor sie hoch radioaktive Areale erreichen.
Nach zwei Wochen erfolgloser Löschversuche hat die ukrainische Regierung in den letzten Tagen internationale Unterstützung erhalten – auch aus Deutschland. Nun wurden die Löscharbeiten verstärkt und Tausende zusätzliche Feuerwehrleute in die Sperrzone beordert.
„Sie sind für diesen Einsatz aber nicht ausreichend geschützt vor den stark erhöhten Strahlenwerten vor Ort und wir machen uns daher Sorgen, dass sie ihren mutige Einsatz mittelfristig mit ihrer Gesundheit bezahlen werden,“ so Rosen. Die Staatliche Sperrzonen-Agentur der Ukraine veröffentlichte vergangene Woche Luftmesswerte vom Reaktorgelände in Tschernobyl, die stark erhöhte Cäsium-137 Konzentrationen von 180.000 μBq/m3 zeigten, also Werte die mehr als 250 Mal höher lagen als zum gleichen Zeitpunkt in Kiew, wo den Anwohnern schon geraten wurde, in ihren Wohnungen zu bleiben und die Fenster geschlossen zu halten.
Auch 1986 wurden junge Menschen ohne adäquate Schutzausrüstung für Aufräum- und Löscharbeiten nach Tschernobyl geschickt. Damals wurden mehr als 800.000 sogenannte Liquidator*innen aus der gesamten Sowjetunion in die Sperrzone gebracht, um dort teilweise mit bloßen Händen verstrahlte Grafitbrocken umzuwuchten und die Feuer im Inneren des Reaktorkerns zu bekämpfen (Geheime Superwaffen im Einsatz: Der wahre Grund von Tschernobyl (Video)).
Die Mehrheit von ihnen bezahlte einen hohen gesundheitlichen Preis für ihren Einsatz: Eine starke Häufung von Schlaganfällen, Herzinfarkten, Krebserkrankungen, Erblindung und anderen strahlenassoziierten Krankheiten bereits in jungem Alter wurden bei den Liquidator*innen festgestellt. Die männlichen ukrainischen Liquidatoren sterben etwa fünf Mal so häufig wie ihre Altersgenossen.
„Statistisch gesehen gab es in den letzten vier Jahrzehnten eine Atomkatastrophe mit Kernschmelze alle 10,7 Jahre. Fukushima ist gerade 9 Jahre her. Bis zur nächsten Atomkatastrophe ist es nur eine Frage der Zeit. Das nächste Tschernobyl, das nächste Fukushima, könnte überall geschehen – auch hier in Europa (Fukushima und die Erdbeben-Lüge: Das japanische 9/11 heißt 3/11).
Die Pannenmeiler von Doel, Tihange, Temelin, Beznau oder Fessenheim lägen allesamt in unmittelbarer Nähe zu Deutschland, aber auch hierzulande sollen noch bis 2022 Atommeiler weiter betrieben werden. Das nächste Tschernobyl kann auch Gundremmmingen heißen,“ so Rosen.
Literatur:
Reaktor 1F – Ein Bericht aus Fukushima 1
Fukushima: Vom Erdbeben zur atomaren Katastrophe
Video:
Quellen: PublicDomain/ippnw.de am 02.05.2020