Vier Monate vor seinem Tod sprach Jiddu Krishnamurti letztmalig vor einem öffentlichen Publikum. In leidenschaftlicher Sorge um die Zukunft der Menschen sprach er über die Tatsachen des täglichen Lebens und erklärte dabei mit Nachdruck, „dass die Menschen trotz der erstaunlichen technologischen Vorschritte psychologisch die Barbaren geblieben seien, der sie waren, als sie auf der Erde erschienen“.
Jeder von uns, erklärte er, sei für die Brutalität, die Untaten und die gesellschaftlichen Widersprüche verantwortlich, denn sie seien nur eine Widerspiegelung unserer inneren Haltung, und die Welt könne nur durch eine „Mutation“ in jeder menschlichen Psyche vor dem Chaos gerettet werden. Die Veränderung müsse jetzt geschehen, denn was wir heute sind, würden wir auch morgen sein.
Krishnamurti versuchte besonders dringlich in seiner letzten Rede seine Zuhörer davon zu überzeugen, dass es höchste Zeit für jeden einzelnen sei, sich jetzt, in diesem Augenblick, zu ändern, um die Menschheit vor Vernichtung zu bewahren. Die bessere Zukunft, wenn es denn eine geben sollte, beginnt jetzt.
Den scheinbaren Widerspruch zwischen dem Mann, der spirituelle Organisationen ablehnt und der sich am Ende seines Lebens als das Haupt von mehreren sieht, hatte er bereits 1929 gelöst, als er am Ende seiner berühmten Rede anlässlich der Auflösung des „Orden des Sterns im Osten“ sagte:
„Diejenigen aber, die es danach verlangt, die danach streben zu finden, was ewig, ohne Anfang und Ende ist, werden mit größter Intensität ihren Weg miteinander gehen, sie werden eine Gefahr sein für alles, was wirklich wesentlich ist, für Unwirklichkeiten, für Schatten.
Und sie werden enger zusammenwachsen, sie werden zur Flamme werden, weil sie verstehen. Einen solchen Kern müssen wir schaffen, das ist mein Ziel. Aufgrund dieser wahren Freundschaft wird wirkliche Kooperation seitens jedes einzelnen sein. Und dies nicht aufgrund von Autorität.“
Im Weltall herrscht eine erstaunliche Ordnung. Wo immer der Mensch hinzukommt, schafft er Unordnung. Deshalb frage ich: kann ich, als ein Mensch, der die übrige Menschheit ist, zuerst in mir selbst Ordnung schaffen?
Die letzten Worte, die Jiddu Krishnamurti in seiner letzten Rede hielt waren: Solange das alles nicht vorbereitet, das alles nicht Ordnung ist, können Sie nicht in diese (neue) Welt, die Welt der Schöpfung, eintreten. Es endet. (Diese beiden Worte sind kaum hörbar gewesen, mehr gehaucht als gesprochen).
Jiddu Krishnamurti: Ein spiritueller Rebell
Religionen, organisierter Glauben, Dogmen, Rituale sind für Krishnamurti „absurder Unsinn“. All das spalte die Menschen, führe zu Kriegen, dem „ganzen Schrecken dieser Welt“.
„Wahrheit ist ein Land ohne vorgegebene Wege“ – der indische Philosoph und Weisheitslehrer Krishnamurti (1895 – 1986) weigerte sich Zeit seines Lebens, den Erwartungen an einen typischen spirituellen Lehrer zu entsprechen. Nur vollständig frei könne es gelingen, friedlich und gewaltlos miteinander zu leben.
Im Jahre 1909, als 14-Jähriger, war Krishnamurti als „Weltlehrer“ angekündigt worden, als Messias, der die Menschheit in einer neuen Religion eint. Die Theosophische Gesellschaft, ein um das Jahr 1900 mächtiger, finanzkräftiger Verein mit vielen einflussreichen Mitgliedern weltweit, hatte in Krishnamurti investiert – Geld und Hoffnung.
Sie hatte ihn aus seiner Familie im südindischen Adyar geholt, ihn in ihre Geheimlehren eingeweiht, ihn ausgebildet in Indien, England, Australien, den USA und für ihn einen Orden gegründet. Die Theosophen hatten ihn als jungen Mann komfortabel reisen lassen, ihm große Autos zur Verfügung gestellt, ihn mit teurer Kleidung ausstaffiert, sie hatten eindrucksvolle Auftritte für ihn inszeniert. Sogar zwölf Apostel standen für ihn bereit.
Bye bye, Bühne
Doch am 3. August 1929, während seiner feierlichen Inszenierung als „Weltlehrer“, lehnte Krishnamurti ab – freundlich, aber entschieden:
„Meiner Ansicht nach ist die Wahrheit ein pfadloses Land, die Sie auf keinem Weg erreichen können, weder über eine Religion noch über eine Sekte. Das ist meine Meinung, die ich absolut und bedingungslos vertrete. Die Wahrheit, die keine Grenzen und Bedingungen kennt und zu der kein Weg führt, lässt sich nicht organisieren.“
Ein Eklat. Krishnamurti weigerte sich, ein spirituelles System zu vertreten, eine religiöse Botschaft zu proklamieren. Das hält Anhänger bis heute nicht davon ab, aus seinen Reden und Schriften genau das zu machen.
Jetzt hören Sie doch auf!
Er weigerte sich hartnäckig, ein Guru, ein spiritueller Meister zu sein. Trotzdem brachten Anhänger seiner Person eine Verehrung entgegen, die Krishnamurti in seinen Reden durch Provokationen und Warnungen immer wieder zu irritieren versuchte:
„Hören Sie auf niemanden – vor allem nicht auf den Redner.“
Doch er hält weltweit Reden, publiziert Bücher, zieht sich oft lange zurück, gründet Schulen in England, den USA und Indien, trifft sich mit Schriftstellern, Naturwissenschaftlern, Politikern, zeigt sich entsetzt über Krieg, Gewalt und soziale Ungleichheit und macht jeden Einzelnen dafür verantwortlich.
Krishnamurti belastet damit den einzelnen Menschen. Erst wenn er sich ändert, ändert sich die Gesellschaft, die Wirtschaft, das globale Gewaltsystem.
Schwere Nüsse zu knacken
Doch dieses „sich selbst kennen“ kann auch zu der Erkenntnis führen, dass dieses Selbst, was es zu kennen gilt, nichts ist, was der Mensch finden, nichts ist, was er festhalten oder womit er glücklich werden kann. Das zu sich selbst gefundene Selbst, das Ich, die Ich-Identität ist eine Falle, eine Illusion.
Insofern ist Krishnamurtis Lehre für viele Menschen psychologisch schwer zu ertragen. Weil alles das, was sich der Mensch an Wissen, an Erinnerung, an Überzeugungen, an innerer Haltung, an Gefühlen und Erlebnissen angeeignet hat, ihn daran hindert, sich zu öffnen für die Stille des Augenblicks, für das Hier und Jetzt, für das, was letztlich nicht in Worte zu fassen ist.
Konditionierungen machen unfrei, produzieren Leid, Unruhe, Unglück und machen den Menschen zu einem Getriebenen, so Krishnamurti. Das Denken, Wollen, Reflektieren, Wünschen ändert nichts. Es hält uns in Unfreiheit und bleibt den Konditionierungen verhaftet.
Da sein im Dasein
Doch was etwas ändert, das kann Krishnamurti nicht formulieren, weil er dann wieder neue Konditionierungen erzeugt, neue Unfreiheit, neues Unzufriedenheit, neues Leiden. Was also tun? Krishnamurti sagt: Sich der Konditionierung bewusst werden.
Diese Radikalität korrespondiert mit keinem Rettungsweg, mit keiner Therapie, mit keiner Handlungsoption. Der Einzelne bleibt auf sich allein gestellt. Und die Befreiung liegt jenseits aller Begriffe und Worte. Sie ist erlebbar in Glücksmomenten der Stille, im zeit- und ichlosen Zustand des Beobachtens ohne Beobachter, im Erleben des Augenblicks ohne den, der es erlebt – ohne den Denker.
„Man fragt sich nun, ob es möglich ist, auf dieses Eine zu treffen, ohne es einzuladen, ohne es zu erwarten, ohne es zu suchen, ohne danach zu forschen – es von ungefähr zu erleben wie einen erfrischenden Windhauch, der hereinströmt, wenn Sie das Fenster offenlassen. Sie können den Wind nicht einladen, aber Sie müssen das Fenster offenlassen.“
Lüften für Anfänger
Es sind letztlich jene beglückenden mystische Einheitserlebnisse, in der das Ich und sein Denken nicht wahrgenommen und die Zeit still steht. Jener „andere“ Zustand großer innerer Ruhe und Gelassenheit, den Mystiker immer wieder beschreiben.
„Unsere Religionen, die organisierten Glauben, Dogmen, Rituale, dieser ganze absurde Unsinn, all das spaltet die Menschen. Kriege, Kriegsvorbereitungen, Atombomben, Sie kennen den ganzen Schrecken dieser Welt.“
Auch religiöse Systeme bleiben für Krishamurti etwas Äußerliches, etwas, mit dem sich der Mensch identifiziert, wie Eigentum, Status, Traditionen, Nationalstolz, unhinterfragte Wertvorstellungen und andere Muster und „Konditionierungen“.
Das eigene Los loslassen
Erst wenn es den Menschen gelingt, das zur Disposition zu stellen und andere – „spirituelle“ – Erfahrungen zu machen, ändert sich das Verhalten und mit dem Verhalten die Welt.
„Das Denken ist immer fragmentarisch, und was es festhält, ist immer unvollständig. Die Stille des Gehirns, bei äußerster Sensibilität, ist wesentlich.“
Krishnamurtis Bücher werden in hohen Auflagen weltweit publiziert, seine gefilmten Reden sind im Internet zu sehen. Er blieb bekannt als Guru, der keiner sein wollte mit einer Lehre, die nichts vorschreiben will. Seine Kritik an jeder Autorität und jeder Herrschaft, vor allem an Religionen und ihren vermeintlichen Wahrheiten, ist an Radikalität kaum zu überbieten.
Verändern kann sich nur dann etwas, wenn sich der Einzelne von seinen Verhaltens- und Denkmustern verabschiedet und nichts und niemandem glaubt – schon gar nicht an Krishnamurti selbst.
Fazit
Da wir unauflöslich ein aktiver Teil des Ganzen sind, können wir uns in einen holistischen Seinszustand hineinbegeben, ganz werden und mit der schöpferischen Kraft des Universums in Verbindung treten. In diesem Zustand des Seins sind wir aktive und vollbewusste Schöpfer.
Mit der Annäherung an diese universale schöpferische Kraft, die wir als Liebe erfahren, identifizieren wir uns zunehmend mit unserem Selbst und verschmelzen mit dem Gott, den ich Allschöpfer nenne.
Hierzu ist der erste Schritt unsere wahre Selbsterkenntnis („Erkenne dich selbst!“ – gnóthi sautón!). Die spirituelle Rebellion beginnt…
Literatur:
Codex Humanus – Das Buch der Menschlichkeit
Bionische Regeneration: Das Altern aufhalten mit den geheimen Strategien der Natur
Wunderwerk Zirbeldrüse: Das Bewusstseinstor zu einer erweiterten Wahrnehmung
Video:
Quellen: PublicDomain/dieter-broers.de/swr.de am 02.06.2019
Wahrheit ist für mich heilige Ordnung und Organisation.
Ich sehe überall in der Natur alle Arten und Formen von Organisation.
Jiddu Krishnamurti ist eine feine Seele glaube ich, aber seine Überzeugungen teile ich nicht unbedingt. Er hat eine umfangreiche Ausbildung bekommen und in diesem Kontext hat er sich bewegt, ob er wollte oder nicht. Er was von daher schon niemals wirklich frei. Auch wenn er es geschafft hat, einige wichtige Grenzen dieses Gefängnisses erfolgreich zu durchbrechen. Er hätte sie komplett durchbrochen, hätte er z.B. keine Vorträge gehalten. Aber wäre er dann frei gewesen? Ich denke – nein. Es gibt Freiheit und es gibt Freiheit nicht. Es ist sinnvoll nach Freiheit zu streben und es ist müßig und sinnlos nach Freiheit zu streben. Wichtig ist etwas anderes.
Jiddi Krishnamurti hat vollends recht, um Religionen und Glaubensrichtungen als “absurde Unsinn” zu betrachten. Religionen werden bei kleinen Kindern schon geimpft, wodurch bei denen Angst entsteht und sie der Macht des Glaubens ausgesetzt werden.
Eine absolute Freiheit ist für die Menschheit jedoch nicht möglich; dafür ist sie in der komplizierten Form, um lebensfreudig durch die Zeit zu kommen, von alles was lebt das schwächste Glied aller Säugetiere. Um gesund und zufrieden durch das Leben zu kommen, müssen die Menschen sich gegenseitig unter die Armen greifen, jeder freiwillig nach seinen Möglichkeiten.
Unsinnig ist erstens von Krishnamurti zu behaupten, dass jeder verantwortlich ist für Brutalität und Untaten. Es gibt glücklicherweise Ausnahmen, zu wenig aber. Zweitens: Man soll nicht auf Redener hören wie Krishnamurti? Im gegenteil !