Es war nicht zuletzt der platonische Atlantisbericht mit seiner – aus heutiger Sicht – verblüffend genauen Beschreibung des Atlantik-Raums, der den Forscher- und Tatendrang europäischer Seefahrer im frühen ‚Zeitalter der Entdeckungen‘ beflügelte und die Atlantologie bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zum respektablen Gebiet wissenschaftlicher Forschung machte.
Atlantis, so hatten Platons und Solons ägyptischen Quellen erklärt, habe sich einst im Ozean vor den ‚Säulen des Herakles‘ befunden, „und diese Insel war größer als Libyen und Kleinasien zusammen.
„Von ihr gab es“, wie der Atlantisbericht besagt, „für die Reisenden damals einen Zugang zu den anderen Inseln, und von diesen auf das ganze Festland gegenüber rings um jenes Meer, das man wahrhaft so bezeichnen darf. Denn alles, was innerhalb der erwähnten Mündung liegt, erscheint wie eine Hafenbucht mit einer engen Einfahrt; jenes aber kann man wohl wirklich als ein Meer und das darum herum liegende Land in Tat und Wahrheit und in vollem Sinne des Wortes als ein Festland bezeichnen.“ (Timaios 24e-25d; nach Rufener)
Nach der Atlantis-Katastrophe, so heißt es im Timaios weiter, sei Seefahrt auf dem Atlantik nicht mehr der möglich gewesen. „Deshalb ist auch jetzt das Meer dort selbst unbefahrbar geworden und nicht zu durchschiffen, weil der sehr hochliegende Schlamm, den die Insel bei ihrem Untergang verursachte, dies behindert…“
Kolumbus, der bei der Planung seiner Expedition sicher alle zugänglichen alten Texte studiert hat, die ihn auf Informationen über den Atlantik-Raum hoffen ließen, dürfte dies einiges Kopfzerbrechen bereitet haben. Dass er bei seinen Recherchen auch die Atlantida gelesen hat, ist zwar nicht ausdrücklich belegt, aber schon deshalb höchst wahrscheinlich, weil – abgesehen von der Anostida des Theopompos von Chios und vagen Andeutungen bei Strabon (60 v. Chr. – 20 n. Chr.) – nur dort eine ansatzweise Vorstellung von der Geographie des atlantischen Großraums vermittelt wurde.
Der Atlantologie-Historiker Dr. Martin Freksa geht in diesem Zusammenhang davon aus, dass es „durch das Gilgamesch-Epos auch schon aus dem dritten Jahrtausend v. Chr. Nachrichten über den versumpften Atlantik gibt“ und Alexander von Humboldt (1769-1859), der wohl bedeutendste Naturforscher des 19. Jahrhunderts, zu dessen vielfältigen Interessen auch das Atlantis-Problem gehörte (er identifizierte Atlantis mit Südamerika), hatte darauf hingewiesen: „Die Alten hielten den Atlantik für Tausende von Jahren für ein schlammiges, seichtes, dunkles und trübes Meer, Mare Tenebrosum“ (das finstere Meer).“
Da Kolumbus offensichtlich felsenfest davon überzeugt war, jenseits der atlantischen Wasserwüste auf Cipangu (die damalige Bezeichnung für Japan) und auf Indien zu stoßen, dürfen wir wohl davon ausgehen, dass ihm Theopompus´ Bericht (dieses Fragment liefert mehr Informationen über den „jenseitigen“ Kontinent als der platonische Atlanticus) entweder unbekannt war, oder dass er ihn ignorierte bzw. fehlinterpretierte.
Das gleiche dürfte auch für die Überlegungen Strabons gelten, der bereits in Erwägung gezogen hatte, es könne im Westen, zwischen Europa und Indien, noch einen weiteren, unbekannten Kontinent geben (Atlantis in Amerika).
Charles Berlitz bemerkte zu Kolumbus´ Expeditions-Vorbereitungen: „López de Gómara, der Verfasser der ‚Historia general de las Indias‘ (Allgemeine Geschichte der Indien, 1552), schreibt Kolumbus´ Heldentaten ausdrücklich dessen Lektüre von „Platons Timaios und Kritias“ zu, „wo er von der großen atlantischen Insel las und einem versunkenen Land, größer als Asien und Afrika“ (Auf den Spuren der Geschichte: Atlantis der versunkene Kontinent und der doppelte Moses).
Fernández de Oviedo stellte sogar die Behauptung auf, daß den spanischen Herrschern das Besitzrecht über die „neuen amerikanischen Länder“ zustände (Historia general y natural de las Indias, Allgemeine und natürliche Geschichte der Indien, 1535-1552), da, ihm zufolge, Hesperus, ein prähistorischer spanischer König, ein Bruder von Atlas war, dem Herrscher des Marokko gegenüberliegenden Landes.
Hersperus herrschte auch über die Hesperiden, die einen Teil seines Reichs bildeten – über „die Inseln des Westens“ … „vierzig Segeltage [fern], wie sie es auch in unserer Zeit noch mehr oder weniger sind … und wie Kolumbus sie bei seiner zweiten Fahrt, die er unternahm, fand … Man muß sie deshalb für diese Indien halten, spanische Gebiete seit der Zeit des Hesperus´ … die [durch Columbus] wieder in das spanische Reich zurückkehrten“ (Antarktis, Atlantis und alte Landkarten: Beweise für eine Hochkultur in vorgeschichtlicher Zeit).
Bartolomé de las Casas, der diese Herleitung spanischer Besitzansprüche zurückwies, bemerkte immerhin in seiner ‚Historia de las Indias‘ (Geschichte der Indien, 1527) in seinen Kommentaren zu Kolumbus: „Christoph Kolumbus konnte zu Recht glauben und hoffen, daß es, obwohl jene große Insel [- Atlantis -] verloren und versunken war, noch andere gab oder zumindest trockenes Land, das er durch Suchen finden konnte…“
Natürlich gab es, unabhängig von den wenigen antiken Quellen, auf die man sich zu Kolumbus´ Zeiten berufen konnte, im Westen Europas Legenden (mit vermutlich märchenhaftem Charakter), welche von ‚heiligen Männern‘ wie Brendan oder jenen sieben Bischöfen berichteten, die bereits im Jahr 734 n. Chr. mit ihren Gemeinden vor den Sarazenen aus Spanien geflohen seien.
Diese Legenden scheinen gerade zu Beginn des ‚Zeitalters der Entdeckungen‘ in den aufblühenden Hafenstädten der europäischen Atlantik-Küsten grassiert zu haben, zu einer Zeit also, als man den Ozean allgemein noch für unüberquerbar hielt. Immerhin: „Im 14. Jahrhundert n.Chr., d.h. ein Jahrhundert vor Kolumbus, galt der Weg von Westeuropa bis zu den Azoren als frei. Aber es wurde noch vor dem Versuch gewarnt, über die Azoren hinaus zu segeln.“
Diejenigen, die Platons Bericht für vertrauenswürdig hielten, durften jedenfalls darauf hoffen, bei einer transatlantischen Reise gen Westen irgendwann auf Land (auf die Reste von Atlantis, die anderen Inseln aus der Atlantida, oder auf einen Kontinent) zu stoßen, das sich jenseits davon befinden musste. Vor diesem Hintergrund stellte der Wissenschaftsjournalist Ernst von Khuon 1976 fest: „Daß diese abenteuerliche Erwartung in die Träume der spanischen und portugiesischen Seefahrer einging, ist sicher. So ist das zugespitzte Wort O.J. Thomsons zu verstehen, in gewisser Weise könne Platon als „der Entdecker Amerikas“ gelten“.
Schon bald nach der Entdeckung der mittel- und südamerikanischen Hochkulturen durch die Spanier kam auch die Annahme auf, dass die Lösung des Atlantis-Rätsels tatsächlich in der Neuen Welt zu finden sei. Dazu heißt es bei Ivar Zapp und George Erikson:
„Bei der plötzlichen und unverhofften Erforschung eines Kontinents mit großen Städten, ringförmigen Kanälen und Monumenten, die augenscheinlich zur Himmelsbeobachtung ausgerichtet waren, möchte man meinen, dass seine Entdecker es bejubelt haben müssten, ’solch eine gloriose Neue Welt‘ gefunden zu haben, und dass einige von ihnen sogar folgerten, dass sie den Ursprung der Legende von Atlantis vor sich hatten. Ein paar von denen, die den Entdeckern folgten, taten dies tatsächlich und berichteten, sie hätten die wahre Identität von Atlantis herausgefunden.“
Diese Gleichsetzung der neuentdeckten Ländereien jenseits des Atlantik mit den Örtlichkeiten aus dem Atlantisbericht verfestigte sich relativ schnell, wie sich bei L. Sprague de Camp nachlesen lässt: „1553, einundsechzig Jahre nach Kolumbus´ Entdeckung, vertrat der spanische Geschichtsschreiber Francesco López de Gómara in seiner Historie der Indianer die Auffassung, dass Platos Atlantis und die neu entdeckten Kontinente dasselbe seien; zumindest müsse Plato von transatlantischen Kontinenten gehört und das Gehörte als Grundlage für seine Geschichte benutzt haben. […] 1561 machte Wilhelm de Postel den liebenswürdigen Vorschlag, einen der neu entdeckten Kontinente ‚Atlantis‘ zu benennen (Der Untergang der atlantischen Zivilisation und Atlanter als Baumeister der Pyramiden in Ägypten).
(Auf dieser englischen Karte aus dem Jahr 1500 ist auch das legendäre Atlantis abgebildet)
1580 verlieh der englische Hexenmeister John Dee auf seinen Karten Amerika diesen Namen. 1689 gingen der französische Kartograph Sanson und 1769 Robert de Vaugondy noch weiter, indem sie Landkarten von Amerika herausgaben, die zeigten, wie Poseidon das Land unter seinen zehn Söhnen aufteilt.“
Auch der britische Literat Sir Francis Bacon (1561-1626) trug mit seinem Werk „Nova Atlantis“ dazu bei, die Theorie vom ‚amerikanischen Atlantis‘ populär zu machen, und John Swan schrieb in seinem „Speculum Mundi“ von 1644: „… ich glaube, es darf angenommen werden, dass Amerika einst Teil eines großen Landes war, das Platon die Insel Atlantick nannte, und dass die Herrscher und dass die die Herrscher dieser Insel Verbindung zu den Bewohnern von Europa und Amerika hatten … Als jedoch die Insel vom Meer überflutet wurde, löschte die Zeit auch die Erinnerung an ferne Länder aus, nicht zuletzt deshalb, weil dort, wo sie versunken war, die See zunächst ganz schlammig wurde, so dass man darauf lange Zeit nicht segeln konnte.“ (Unbekannte Botschaft von Atlantis an der Großen Pyramide von Gizeh entdeckt (Videos))
(Amerika: Auf N. und G. Sanson’s ‚Cartes generales‘ von 1689 wird Amerika als kontinentales Atlantis dargestellt, aufgegliedert in seine zehn einzelnen Königreiche, wie Platon es beschrieb)
Athanasius Kircher (1602-1680) war der erste Forscher, der eine explizit geologische Argumentation in den Atlantis-Diskurs einbrachte, und Überlegungen zur ‚vorsintflutlichen‘ Topographie des atlantischen Großraums anstellte.
(Dieser Ausschnitt aus einer Weltkarte in Athanasius Kirchers ‚Arca Noe‘ illustriert seine Überlegungen zu ante-diluvialen Landmassen. Atlantis ist hier hoch Teil eines panamerikanischen Riesen-Kontinents)
So präsentierte er in seinem Buch Arca Noe („Die Arche Noah“), das er einige Jahre nach seinem bekannten Haupt-Werk Mundus subterraneus („Untergegangene Welt“) von 1665 veröffentlichte, unter anderem eine Karte, mit der er seine Überlegungen zu vorsintflutlichen Landmassen illustrierte. Atlantis ist darauf noch Teil eines panamerikanischen Riesen-Kontinents, dessen Ostküste nur einen ‚Katzensprung‘ von den westlichen Gestaden des alten Europa entfernt liegt.
In diesem Sinne bemerkte 1772 auch Pedro Sarmiento de Gamboa: „… Die Indien von Spanien bildeten Kontinente mit der atlantischen Insel und waren folglich die atlantische Insel selbst, die vor Cadiz lag und sich über das Meer erstreckte, das wir überqueren, wenn wir zu den Indien segeln, das Meer, das alle Kartenmacher den Atlantischen Ozean nennen, da die atlantische Insel sich in ihm befand. Und so segeln wir jetzt über das [Meer], das früher Land war.“
Zu dieser Zeit hatten Forscher die Atlantis-Überlieferung bereits, „wie schon Bircherod in seiner Abhandlung ‚De orbe novo non novo‘ (Altdorf 1685), in der Weise zu erklären versucht, daß man annahm, phönikische oder karthagische Handelsschiffe seien, durch Stürme und Strömungen verschlagen, an die amerikanische Küste gelangt und glücklich heimgekehrt.“
Literatur:
Wissen in Stein – Das Geheimnis der Pyramiden Ägyptens und Mittelamerikas [2 DVDs]
Das Geheimnis der Pyramiden [2 DVDs]
Quellen: PublicDomain/atlantisforschung.de am 06.03.2019
Ein Standardwerk zum Thema ist die „Kritische Geschichte der Meinungen und Hypothesen zu Platons Atlantis — von der Antike über das Mittelalter bis zur Moderne“, von Thorwald C. Franke, 2016.
https://www.atlantis-scout.de/atlantis-geschichte-hypothesen.htm
Darin werden die antiken Autoren genau untersucht, was sie wirklich über Atlantis dachten, es werden zahlreiche mittelalterliche Autoren präsentiert (die es angeblich gar nicht gibt), und es werden auch alle Autoren zur Entdeckung Amerikas usw. analysiert.