Es macht dich glücklich und gesund. Und die Pharmaindustrie verdient keinen Cent daran.
Keine zwei Stunden sind vergangen und die Alltagssorgen sind weit weg. Ich halte einen Moment inne, um zu verstehen, warum ich mich so sorgenfrei fühle. Warum ich den Ärger und Stress der letzten Tage plötzlich einordnen kann.
Natürlich lassen sie mich nicht kalt, aber die negativen Gedanken beherrschen nicht länger mein Denken. Im Gegenteil. Ich fühle mich tatkräftig und fast ein wenig angriffslustig gegenüber den Herausforderungen meines Lebens. Das wäre doch gelacht!
Der Wind streicht mir sanft über die Arme, alles um mich herum ist satt grün. Nein, ich habe keine bunten Pillen oder andere Drogen geschluckt, sondern bin gemeinsam mit einer Freundin im “Zauberwald” unterwegs.
Zumindest haben wir ihn so getauft, den Wald des Gauja-Nationalparks gut 50 Kilometer von der lettischen Hauptstadt Riga entfernt, den wir gemeinsam durchstreifen. Einfach weil er uns irgendwie verzaubert.
Weil ich aber nicht an Magie glaube, will ich herausfinden, was hinter dem Zauber steckt – und entdecke: Der Wald ist tatsächlich ein echtes “Zaubermittel”.
Während in Japan sogenanntes “Waldbaden” – was nichts anderes als einen Aufenthalt im Wald bezeichnet – längst gängige Praxis ist, beginnen die Therapeuten, Coaches und Förster hierzulande gerade erst, Erfahrungen im Wald als eine Art Medizin anzubieten.
Dabei geht es um mehr als ein paar Hippies, die Bäume umarmen und Lieder singen. Brauchen wir als moderne Menschen des 21. Jahrhunderts “Natur auf Rezept”?
Der “offizielle Beweis”
Wer schon einmal versucht hat, jemandem von der beruhigenden, irgendwie heilsamen Wirkung eines Waldspaziergangs zu erzählen, kennt das; diesen Mix aus peinlich berührtem und bemitleidendem Lächeln im Gesicht des Gegenübers.
Frei nach dem Motto: “Ja ja, gehe du mal in den Wald.” Irgendwie haftet dem Wald und der Natur noch immer etwas von ”öko” an – und seit einiger Zeit auch vom gestressten Manager, der sich unter den Baumkronen ein paar Stunden handyfreie Auszeit gönnt, um so vielleicht sein Körpergefühl wiederzufinden.
Ganz ohne Hippie- oder Manager-Allüren haben zwei britische Umweltwissenschaftler jetzt nicht nur den “offiziellen Beweis” dafür geliefert, dass sich Zeit im Grünen positiv auf unsere Gesundheit auswirkt, sondern auch erstmals systematisch diese Auswirkungen auf verschiedenste Gesundheitsaspekte untersucht.
„Wir haben Ergebnisse von mehr als 140 Studien ausgewertet, um zu verstehen, ob Natur wirklich die Gesundheit stärkt.“ – Caoimhe Twohig-Bennett, britische Umweltwissenschaftlerin
Dafür haben sie Daten aus über 20 Ländern inklusive Deutschland, Großbritannien, den USA, Spanien und Japan von mehr als 290 Millionen Menschen ausgewertet (Gesundes Gehirn: Wer am Wald wohnt kann Stress besser verarbeiten)
► Die Ergebnisse sprechen für sich: Menschen, die in der Nähe von Grünflächen wohnen oder möglichst viel Zeit darin verbringen, sind insgesamt gesünder.
Sie
- leiden seltener an Diabetes II und Herz-Kreislauf-Krankheiten,
- haben einen niedrigeren Puls und Blutdruck,
- bekommen mehr Schlaf,
- sterben seltener früh,
- haben weniger Frühgeburten,
- stehen weniger unter Stress (gemessen am Cortisol-Gehalt im Speichel).
So weit, so gut.
Die Ergebnisse sagen aber nichts darüber aus, wie Natur und Grünflächen unsere Gesundheit fördern – oder ob es überhaupt einen kausalen Zusammenhang gibt.
Vielleicht zieht es gesundheitsbewusste Menschen einfach in die Nähe von Grünflachen; sie haben durch benachbarte Parks, Wälder und Wiesen mehr Kontakt zu anderen Menschen oder bewegen sich einfach mehr – und fördern so ihre Gesundheit?!
Das wäre ein berechtigter Einwand, wären da nicht die zahlreichen kurz- und langfristigen Wirkungen, die die Natur auf uns zu haben scheint …
Was ist “Natur”?
Manche Studien untersuchen gezielt die Wirkung von Wäldern, andere von Grünflächen oder Pflanzen. Was als Natur zählt – und ihre mögliche Wirkung –, kann also ganz unterschiedlich sein. Generell beschreiben Menschen Waldlandschaften und Küstengegenden am erholsamsten, gefolgt von Landschaften in ländlichen Gebieten, die wiederum erholsamer sind als städtische Grünflächen (Waldbaden: Die sanfte Therapie für Körper und Geist! (Video)).
Bei den Wirkungen kann keine Pille mithalten
Die Vermutung, dass uns Grünflächen guttun, ist nicht neu: Schon um das Jahr 1800 sprachen Londoner Organisationen von Parks als “Lungen” der Stadt und setzten sich für ihren Ausbau und Erhalt ein.
Zu Recht, denn schon eine geringe Dosis “Natur” oder “Grün” wirkt. Bereits 5–20 Minuten, die ein Mensch in einer Waldlandschaft verbringt, sorgen für positive Effekte, zum Beispiel:
1. Blutdrucksenkend und regenerierend: Ein entspannter Waldspaziergang wirkt sich im Vergleich zum Stadtspaziergang positiv auf zahlreiche körperliche Faktoren aus. Das Gleiche gilt, wenn Probanden ein paar Tage hintereinander ein wenig Zeit im Wald statt in der Stadt verbringen.
Immer haben die Waldbesucher einen niedrigeren Blutdruck und Puls; ihr Speichel enthält weniger Cortisol – neben Adrenalin das wichtigste “Stresshormon”. Der Körper entspannt sich. Selbst ein 15-minütiger Aufenthalt auf einer waldähnlich bepflanzten Dachterrasse “wirkt”.
2. Frisch und erholt: Um Stress und Anspannung hinter sich zu lassen, muss es also nicht gleich eine 7-Stunden-Wanderung sein. Schon ein kleiner Abstecher in den Wald verstärkt zahlreiche positive Gefühle und verringert die negativen.
Wir fühlen uns erfrischter, erholter, tatkräftiger und weniger gestresst; gleichzeitig sind wir weniger verärgert und niedergeschlagen. Auch als Mittel gegen Anspannung und Angst hilft die “grüne Pille”: Nach einem Waldaufenthalt fühlen sich Versuchspersonen weniger beunruhigt, unsicher und angespannt.
3. Abwehr gegen Infektionen und Krebs: Nachdem japanische Geschäftsmänner drei Tage lang 2-mal pro Tag wandernd im Wald unterwegs waren, hatte sich die Anzahl ihrer sogenannten “natürlichen Killerzellen” um 40 Prozent erhöht – selbst nach einem Monat war der Anteil noch 15 Prozent höher als zu Beginn der Studie (Wirksame Waldtherapie – Terpene in der Waldluft stärken das Immunsystem).
Wer keine Zeit für drei Tage Urlaub in der Wildnis hat, freut sich sicher über folgendes Ergebnis: Bereits ein Ausflug in den Wald reicht aus, um unsere Killerzellen zu erhöhen. Auch 7 Tage später lässt sich die verbesserte Abwehr noch im Blut messen.
4. Bessere Heilung: Schon im Jahr 1984 untersuchte der schwedische Architekturprofessor Roger Ulrich die heilende Wirkung einer “Sicht ins Grüne” in einem amerikanischen Krankenhaus.
Dazu verglich er die Daten von knapp 50 Patienten, denen die Gallenblase entfernt worden war. Diejenigen, die vom Krankenbett ins Grüne statt auf eine Mauer blickten, wurden durchschnittlich einen Tag eher entlassen, benötigten weniger Schmerzmittel, hatten weniger Komplikationen und litten psychisch weniger stark.
In einer Folgestudie in einem schwedischen Krankenhaus zeigte Roger Ulrich – mittlerweile weltweit bekannt für seine evidenzbasierten Designs in der Gesundheitspflege –, dass bereits die Bilder an der Wand die Heilung beeinflussen: Schauen Patienten auf ein Naturbild, das ein licht bewaldetes Flussufer zeigt, benötigen sie weniger Medikamente als diejenigen, die auf abstrakte Malerei blicken oder kein Bild an der Wand hängen haben (Therapiehelfer: Der Wald kann die Menschen heilen).
Die Liste ließe sich noch fortsetzen. Aber genau wie der Waldspaziergang soll das Lesen dieses Artikels nicht gleich sieben Stunden dauern.
Und während ich mich in den letzten Wochen immer wieder ein wenig wehmütig an den “Zauberwald” und das Gefühl erinnere, das ich mit ihm verbinde, lerne ich bei meiner Recherche, dass selbst die Vorfreude auf Bäume, Wiesen und Flussufer den Stresspegel messbar senkt.
Wird Studienteilnehmern mitgeteilt, dass das anstehende Experiment in einem Wald stattfinden wird, sinkt ihr Pegel des Stresshormons Cortisol. Ähnliches gilt für virtuelle Waldumgebungen, auch sie wirken stressreduzierend. Und das tun sie anscheinend noch besser, wenn es nicht nur am Computer erstellte Zauberwälder zu sehen gibt, sondern auch Naturgeräusche zu hören sind.
Wie bei allen guten Dingen im Leben reicht auch beim “Zaubermittel Wald und Natur” die einmalige Verabreichung nicht aus, um ihre ganze Wirkung zu entfalten.
Genau das legt nicht nur die anfangs genannte, groß angelegte Studie zu den positiven Auswirkungen eines Wohnorts in der Nähe von Grünflächen nahe. Zahlreiche Studien zu den Auswirkungen von Aufenthalten im Grünen zeigen, dass eine regelmäßige Dosis “Wald” unser Wohlbefinden steigert, uns vor stressassoziierten Krankheiten schützt und die mentale Gesundheit verbessert.
Wer dabei Bewegung und Natur kombiniert, kann doppelt profitieren: So schlafen Menschen mit Schlafstörungen nach abendlichen Waldspaziergängen tiefer und länger.
Und wer regelmäßig im Wald (sportlich) aktiv ist, fördert seine mentale Gesundheit stärker als bei Sport und Bewegung in anderen Umgebungen.
Mit meiner 7-Stunden-Wanderung im “Zauberwald” habe ich mir also möglicherweise eine doppelte Dosis Gesundheit verabreicht – inklusive Waldgeräuschen und Mückenstichen. So bleibt die Frage: Wie macht der Wald das? („Shinrin-yoku“ – Doktor Wald)
Wie schafft der Wald das?
Natur und Wald als Medizin zu sehen, ist nicht nur relativ neu, sondern für viele Menschen zunächst eine befremdliche Idee. Schließlich lassen sie sich nicht in eine Pille pressen.
Und das, obwohl zwei amerikanische Psychologen schon in den 70er-Jahren eine Theorie zur heilenden Wirkung der Natur aufgestellt haben. Sie prägten den Begriff der mentalen Erschöpfung.
Die tritt dann ein, wenn wir unsere Aufmerksamkeit zu lange gezielt auf etwas richten – und im Zeitalter von Bildschirmen und Dauer-Ablenkung dabei auch noch hin- und herspringen.
„Die Wirkung der Natur auf unser Gehirn zu studieren, ist tatsächlich eine skandalös neue Idee.“ – Richard Louv, Autor von „The Nature Principle“
Gegen die mentale Erschöpfung wirkt ein Ausflug in die Natur oder schon das Betrachten von Naturbildern. Beides hilft uns, uns wieder besser konzentrieren zu können.
Wenn wir unsere Aufmerksamkeit also eine Weile nicht auf die nächsten drei Bildschirme richten oder darauf, in der überfüllten Stadt einen Parkplatz zu finden, sondern stattdessen einfach im Wald sind und die Sonnenstrahlen im Dickicht und die Regentropfen auf den Bäumen beobachten, erholt sich unsere Konzentrationsfähigkeit.
Und zwar so sehr, dass wir nicht nur wieder besser denken können, kreativer werden, sondern auch glücklicher sind und uns weniger egoistisch verhalten.
Der Japaner Yoshifumi Miyazaki, der auch als Vater des “Waldbadens” bezeichnet werden könnte, geht noch einen Schritt weiter und sieht die heilende Wirkung der Natur gar in unserer Herkunft: Bis vor wenigen 100 Jahren haben wir 99,9 Prozent unserer Zeit draußen verbracht; sämtliche Körperfunktionen seien auf ein Leben in der Natur ausgelegt und diese sei der Ort, an dem wir uns am wohlsten fühlten – auch wenn wir uns dessen nicht immer bewusst seien (Intensive Waldspaziergänge erhöhen Anzahl krebsbekämpfender Zellen im Körper (Videos)).
Selbst wenn wir keinen Spaß daran haben, draußen Zeit zu verbringen (zum Beispiel bei schlechtem Wetter), scheinen wir von den positiven Wirkungen zu profitieren.
Ebenfalls aus der Heimat des Waldbadens Japan stammt die Forschung zur Rolle bestimmter Duftstoffe, die von Bäumen freigesetzt werden und die erwähnten “natürlichen Killerzellen” positiv beeinflussen können.
So erhöht sich die Anzahl der wichtigen “Killerzellen” um 20 Prozent bei Versuchspersonen nach einer Nacht im Hotelzimmer, durch dessen Luftbefeuchter die Duftstoffe von japanischen Zypressen strömen.
Auch die Bandbreite der Bakterien, die sich in natürlichen Umgebungen tummeln, wirken sich vermutlich positiv auf unser Immunsystem aus und verringern Entzündungen.
So ließe sich zumindest ein Teil der Wirkung des “Zauberwaldes” erklären.
Denn auch wenn Fotos, Aussicht und virtuelle Realitäten allein bereits einen ordentlichen “Kick” versprechen, betonen die Befürworter des Waldbadens immer wieder die Rolle der verschiedenen Sinne bei den Erfahrungen im Wald – inklusive Gehör, Geruch und Berührung.
Während ich also ein wenig sehnsüchtig die Topfpflanzen in meinem Büro anschaue – aktuell immerhin sieben an der Zahl –, frage ich mich, wie wir den Wald in die “Pille” bekommen, also systematisch in unseren Alltag einbinden.
Denn im Gegensatz zu den meisten Medikamenten, die wir sonst so kennen, hat er (noch) einen wichtigen Vorteil. Es besteht keine Gefahr der Überdosierung: Je mehr Zeit wir in der Natur verbringen, desto besser.
► Worauf warten wir also noch?
In Japan ist das “Waldbad auf Rezept” Alltag, fast jeder vierte Japaner nimmt in irgendeiner Form “Waldbäder” zu sich, zum Beispiel, indem er wie Millionen andere jährlich einen Wald-Therapie-Pfad wandert.
Im Wald unterwegs zu sein, gilt dort längst als präventive Medizin. Südkorea und Finnland ziehen nach. In allen drei Ländern fließen Millionen in die Forschung und die Einrichtung von Wald-Therapie-Zentren.
Träumen wir also einen Moment und stellen uns vor, dass die wissenschaftlichen Ergebnisse zur medizinischen Wirkung von Wald und Natur dafür sorgen werden, dass wir demnächst auch Waldbäder verschrieben bekommen, dass Städte so geplant werden, dass wir alle 500 Meter auf eine Grünfläche treffen, jede Straße von Bäumen gesäumt ist, Gebäude mit großen Fenstern verpflichtend sind und die obligatorische “Im-Gras-Liegen-Pause” auf dem Stunden- oder Arbeitsplan steht.
Bis es soweit ist, müssen wir nicht alle umziehen, sondern bekommen schon durch kleine Veränderungen im Alltag die Wirkungen des Zaubermittels (fast) für lau.
Sei es durch einen kleinen Spaziergang in der Mittagspause – wie gesagt haben schon 5–10 Minuten einen positiven Effekt – oder gar durch den Fokus auf den Löwenzahn, der sich durch die Lücke zwischen zwei Bordsteinplatten drückt.
Denn selbst wenn wir nicht jeden Tag im Wald unterwegs sein können, können wir heilende und präventive Wirkungen aus den Grünpflanzen und -flächen in unserer Umgebung ziehen, allein dadurch, dass wir sie wahrnehmen.
„Wir hoffen, dass unsere Forschung Menschen inspiriert, mehr vor die Tür zu gehen und den gesundheitlichen Nutzen davon selbst zu spüren.“ – Caoimhe Twohig-Bennett, britische Umweltwissenschaftlerin
Mein Blick bleibt wieder an den Zimmerpflanzen hängen. Gar nicht so dumm also. Das Gleiche gilt für mein Hintergrundbild am Bildschirm. Das zeigt die Baumkronen im “Zauberwald” (Der Heilungscode der Natur: Die verborgenen Kräfte von Pflanzen und Tieren entdecken (Video))
Literatur:
Codex Humanus – Das Buch der Menschlichkeit
Einfach raus! – Wie Sie Kraft aus der Natur schöpfen
Die Natur-Apotheke: Das überlieferte und neue Wissen über unsere Heilpflanzen
Quellen: PublicDomain/huffingtonpost.com am 31.08.2018