1968 ging es um mehr als nur den „Prager Frühling“

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Der damalige DDR-Staats- und Parteichef Walter Ulbricht hatte sich in den 1960er Jahren für die Reformideen aus Prag interessiert. Das sagt der vorletzte DDR-Ministerpräsident und einstige „Hoffnungsträger“ Hans Modrow. Er widerspricht dem Bild von Ulbricht als „Hardliner“. Und er verweist auf die historische Dimension der damaligen Vorgänge.

Der „Prager Frühling“ 1968 mit seinen Ideen, den realen Sozialismus zu reformieren, fand in der DDR Anhänger und führte zu Diskussionen. „Besonders unter Teilen der Intelligenz der DDR, die sich sehr an dem orientierten, was mit Ota Šik und den Aussagen über den demokratischen Sozialismus verbunden war“, erinnert sich Hans Modrow im Gespräch mit Sputnik. Aber: „Eine breite und tiefe Wirkung hat es nicht erreicht“, sagt der ehemalige SED-Reformer und vorletzte Ministerpräsident der DDR.

Modrow war 1968 noch nicht als SED-Bezirkschef in Dresden, als der er später bekannt wurde, sondern Sekretär für Agitation und Propaganda in der SED-Bezirksleitung der DDR-Hauptstadt Berlin. Als solcher war er auch für den Jugendbereich zuständig, berichtete er.

Die Situation in der DDR habe sich sehr von der in der ČSSR unterschieden. „Es gab Fragen, es gab Debatten, aber es gab keine Aufbruchstimmung“, beschrieb Modrow die damalige Stimmung unter der Jugend und den Studenten im eigenen Land.

„Ulbricht wollte keine deutschen Soldaten in der ČSSR“

Es habe auch keine breite Wirkung nach dem Einmarsch von Truppen des „Warschauer Vertrages“ in das Nachbarland in der Nacht zum 21. August 1968 gegeben, so der heute 90-jährige Vorsitzende des Ältestenrates der Linkspartei.

Modrow widerspricht den Behauptungen von Historikern, der damalige Staats- und Parteichef Walter Ulbricht wollte die Nationale Volksarmee (NVA) der DDR mit einmarschieren lassen. Zwar hätten eigene Propagandasender in das Nachbarland hineingestrahlt und versucht, die Stimmung zu beeinflussen.

Aber: „Ulbricht hatte gegenüber den Sowjets den Standpunkt vertreten: Man kann nicht mit der gleichen Uniform wie der, mit der die Nazis dort einmarschiert sind, auch mit dieser Farbe wieder, mit deutschen Soldaten dort reingehen. Und ich denke, das war eine richtige Überlegung.“

Ebenso widerspricht der ehemalige SED-Funktionär Historikeraussagen, Ulbricht sei einer der härtesten Gegner der Reformkommunisten in Prag gewesen, der von Anfang an gefordert habe, die „Konterrevolution“ militärisch niederzuschlagen.

„Das stimmt wirklich nicht“, das habe er anders erlebt. Der damalige DDR-Staats- und Parteichef habe sich anfangs für die neuen Veränderungsideen aus der Tschechoslowakei interessiert, erinnert sich Modrow, so für den damals veröffentlichten „Richta-Report“. Darin hatte eine Gruppe um den Wissenschaftler Radovan Richta die „Politische Ökonomie des 20. Jahrhunderts“ analysiert und die Folgen der technologischen Veränderungen, die bis heute wirken, beschrieben (Gelenkte Medien: BND manipulierte Berichterstattung im „Prager Frühling“).

Eigene Reformideen in der DDR

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„Ab Mitte der 1960er Jahre beginnt Ulbricht mit dem Neuen Ökonomischen System (NÖS) des Sozialismus. Dazu gehörten nach seiner Überzeugung drei Elemente: Einerseits eine Wirtschaftsentwicklung, die den Betrieben mehr Eigenständigkeit gibt; zweitens, dass er davon ausging, dass wissenschaftlich-technisch ein neuer Fortschritt beginnt. Und das Dritte war, was Ulbricht auch mit seinem Konzept Demokratieentwicklung verbunden hat“, so Modrow.

Ulbricht habe erkannt, dass mehr Freiräume für die Betriebe notwendig waren. Zugleich sei ihm klar gewesen, dass die DDR und die ČSSR die am meisten entwickelten Länder im sozialistischen Lager waren. Deshalb habe die Sowjetunion zum Beispiel beim wissenschaftlich-technischen Fortschritt nicht immer das Vorbild sein können. Er habe zudem verstanden: „Was sich in der Tschechoslowakei entwickelte und vollzog, war etwas anderes als in Bulgarien, Rumänien oder Ungarn.“

Modrow beschreibt ebenso, wie in der DDR damals vorsichtig erste Schritte zu mehr Demokratie gegangen wurden: „Ich war zu der Zeit schon Abgeordneter in der Volkskammer der DDR. Ich war Vorsitzender des Jugendausschusses in der Volkskammer. Es wurden andere Debatten, offenere Debatten geführt. Und wir wurden aufgefordert, auch mal Kritik zu üben und mal was Richtiges zu sagen.

Ulbricht wollte einfach eine andere Lebendigkeit auch in das parlamentarische Geschehen bringen.“ Für den DDR-Staats- und Parteichef sei das, was sich in den Debatten in der Tschechoslowakei vollzog, „nicht von vornherein immer alles obsolet“ gewesen. Er sei zu Anregungen bereit gewesen und habe Alexander Dubček nicht ignoriert.

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Befreundet mit Prager Reformer

„Reformer sind nicht glücklich“ (Original: „Reformátoři nebývají šťastni“; 1995; 2003 auf englisch) – so heißt ein Buch von Zdeněk Mlynář, einem der führenden Köpfe des „Prager Frühlings“. Darin gab der 1997 verstorbene Mlynář Gespräche mit Michail Gorbatschow über das Scheitern des Sozialismus wieder. Er sei mit dem Prager Reformkommunisten befreundet gewesen, verrät Modrow auf die Frage, was er von dem Buchtitel halte.

Er habe ihn 1992 kennengelernt, berichtete Modrow, „beide von Gorbatschow eingeladen, an einem Seminar zu Europa teilzunehmen“. Der einstige Prager Reformkommunist und er als ehemaliger DDR-Ministerpräsident hätten sich unterhalten. Dabei seien sie auf die Idee gekommen, sich mal mit Gorbatschow zu treffen. Mit diesem hatte Mlynář gemeinsam an der Lomonossow-Universität in Moskau studiert. „Sie haben sogar zeitweilig in einem Zimmer gewohnt“, weiß Modrow.

Sein Gesprächspartner habe mehrmals erfolglos versucht, mit Gorbatschow einen Termin zu vereinbaren. Nach dem letzten Anlauf habe Mlynář gesagt: „Weißt Du, Hans, ich war der Dissident, er war der Generalsekretär der Partei der Kommunisten. Ich bin heute noch immer ein überzeugter Sozialist, und der ist nichts. Der wird mit uns nicht reden. Und wir beide sind nun die demokratischen Sozialisten. Und Zdenek wurde Ehrenvorsitzender der Partei der Demokratischen Sozialisten in der Tschechischen Republik. Ich war der Ehrenvorsitzende der PDS in der Bundesrepublik Deutschland, und wir blieben Freunde.“

„Heute werden Reformen missbraucht“

Auf die Frage nach dem Unglück der Reformer, zu denen er in den späten 1980er Jahren in der DDR selbst gezählt wurde, sagt Modrow: „Das ist aus meiner Sicht vor allem ein Problem, das in Systemen nun einfach verankert ist, nicht nur in dem sozialistischen. Heute streitet man sich nun über Reformen. Der Begriff Reform wird in einer Weise missbraucht, verfälscht, umgedreht.“ Heutige sogenannte Reformen würden zur Verarmung vieler Menschen führen.

„Die Reformen, um die es damals ging, die in meiner Vorstellungen waren, haben ihre Quelle in dem, was mit dem Neuen Ökonomischen System bei Ulbricht verbunden war“, hebt der ehemalige „Hoffnungsträger“ aus dem Herbst 1989 hervor. „Denn ich habe 1966 meine Doktorarbeit zum Thema ‚Auswahl und Entwicklung von Führungskräften in der Wirtschaft‘ verteidigt, weil ich davon ausging, wir brauchen ein anderes Management. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass Bedingungen entstehen müssen, die hochkompetente Leute entwickeln, denen man aber auch Raum gibt, die Kompetenz, die sie im Studium erwerben, in der Praxis anwenden zu können.“

Blockade nach Ende des „Prager Frühlings“

Rückblickend fügt Modrow hinzu: „Und ich bin damit nicht unbedingt glücklich geworden, das ist so.“ Innerhalb der SED-Führung habe es frühzeitig Widerstände gegen ihn gegeben, berichtet er, die bis zu einem Parteikontrollverfahren in den 1980er Jahren gegen den damaligen SED-Bezirkssekretär in Dresden führten.

Er denke schon lange über den realen Sozialismus und sein Scheitern nach, sagt er auf die Frage, was der „Prager Frühling“ nach 50 Jahren aus seiner Sicht bedeute. „Es gibt da zwei Momente, die eine Rolle spielen. Der eine Faktor ist der, dass der ‚Prager Frühling‘ mit all seinen Dingen Nachdenklichkeiten auslösen konnte, die leider zu wenig aufgenommen worden sind.“

Mit seinem Ende sei „eine Blockade entstanden“, die zu einem „Rückfall in die orthodoxen Überlegungen“ über den Sozialismus geführt habe. Ulbricht habe damals davon gesprochen, Sozialismus sei eine eigene längere Phase der Entwicklung – während Karl Marx schrieb, das sei eine kurze Phase des Übergangs zum Kommunismus. „Diese längere Phase ist damit eigentlich weggebrochen“, bedauert Modrow rückblickend.

Was die Sowjetunion 1968 und danach bewegte

Ihn bewege heute mit Blick auf die Intervention im August 1968 vor allem „die zweite Seite dieses Problems“: „Es ist ja ein militärischer Vorgang in einer Zeit des Kalten Krieges. Es ist einfach eine Tatsache und ein Fakt, die sowjetische Seite ist davon ausgegangen, mit dem Potsdamer Abkommen und der nachfolgenden Entwicklung im Kalten Krieg ist Europa und die Welt geteilt, und wir geben aus unserer Welt kein Stück her. Es ging doch nicht nur um die Tschechoslowakei. Es ging um den Sieg, den die Sowjetunion errungen hat.“

Modrow berichtet dazu, der hochrangige sowjetische Funktionär und Diplomat Valentin Falin habe ihn im Februar 1991 nach Moskau eingeladen, bevor der Zwei-Plus-Vier-Vertrag im Obersten Sowjet ratifiziert wurde. Bei der Konsultation im Auswärtigen Ausschuss des Obersten Sowjets hätten Militärs klar gesagt: „Mit diesem Zwei-Plus-Vier-Vertrag gebt Ihr den Sieg der Roten Armee preis!“. „Das sind doch Vorgänge, die einfach zur Geschichte gehören“, so der frühere SED-Reformer (Tschechoslowakei: Sowjet-Einmarsch 1968 – neue Erkenntnisse von Historikern).

Blick auf heute

„Und wenn ich mir heute die ganze Sache betrachte, dann gibt es eine ganz harte Lehre.“ Mit Blick auf die Nato-Truppen und —Manöver in den osteuropäischen Ländern an der Grenze zu Russland, unter Teilnahme deutscher Soldaten, frage er sich: „Gegen wen sollen die denn kämpfen? Was soll denn der russische Admiral denken, dem bewusst wird, die fahren jetzt immer Manöver auf der Ostsee?“

Er sei 2004 als Abgeordneter des Europäischen Parlaments im Nato-Hauptquartier gewesen, erzählt Modrow. Dabei habe er einen Generalleutnant der Bundeswehr direkt gefragt: „Entschuldigen Sie doch mal: Sie halten sich nicht ganz sauber an ‚Zwei plus Vier‘, die Entwicklung, die die Nato betreibt, ist nicht demgemäß. Was wollen Sie eigentlich? Und was erwarten Sie dann von der anderen Seite, dass die still halten und nicht nachdenken, warum die Truppen an diese Grenze kommen? Und dann sagt der: Herr Modrow, ich kann dem nicht widersprechen. Die Chinesische Mauer um Russland steht.“

Für ihn sei gegenwärtig die Frage, auch mit Blick auf 1968: „Was erwarten wir denn heute? Will man einen neuen Krieg? Will man irgendwelche Konflikte spielen, aus denen gezüngelt werden kann? Wir sollten prüfen, ob wir nicht zurückkehren zu ‚Zwei plus Vier‘, dass die OSZE sich wirklich in eine Sicherheitsgemeinschaft entwickelt und nicht in Konfrontation.“

Literatur:

Wall Street und der Aufstieg Hitlers von Andreas Bracher (Herausgeber), Antony C. Sutton (Januar 2013) Broschiert

Hitlers amerikanische Lehrer: Die Eliten der USA als Geburtshelfer der Nazi-Bewegung

Wer Hitler mächtig machte: Wie britisch-amerikanische Finanzeliten dem Dritten Reich den Weg bereiteten

England, die Deutschen, die Juden und das 20. Jahrhundert: Die perfiden Strategien des British Empire

Quellen: PublicDomain/de.sputniknews.com am 17.08.2018

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