Im Internet kursiert ein Artikel aus der Hawaiian Gazette vom 11. Januar 1907 über die angebliche Existenz einer über 1.000 Jahre alten Weltkarte, die als Beweis dafür dienen soll, dass die Erde in Wirklichkeit flach ist.
Bevor wir uns anhand des Artikels und der Karte eine Meinung darüber bilden, ob Artikel und Karte die Theorie stützen, dass die Erde in Wirklichkeit flach ist, wollen wir uns zunächst einmal anschauen, was denn nun eigentlich genau im Artikel steht und wie glaubwürdig aufgrund dessen die Echtheit der Karte ist. Hier zunächst eine deutsche Übersetzung des Originalartikels:
Wurde diese Weltkarte vor zehn Jahrhunderten angefertigt?
Beinahe seltsamer als das „Manuskript in einem Kupferzylinder“ ist die Kopie einer Karte, die aus einem buddhistischen Tempel in den Bergen Zentraljapans über die Meere nach Honolulu kam. Es ist eine vor 1.000 Jahren angefertigte Weltkarte. Dr. Kobayashi, der bekannte japanische Arzt und Chirurg von Honolulu hat eine Kopie der Karte erhalten, von der er glaubt, dass sie vor zehn Jahrhunderten von chinesischen Priestern angefertigt wurde.
Die Karte ist nach dem Prinzip der Mercator-Projektion gezeichnet und zeigt den Nordpol als Mittelpunkt eines Kreises, in dem die Kontinente Nord- und Südamerika, Europa, Afrika, Asien und Australien liegen. „Die Karte wurde von meinem Bruder in einem japanischen Tempel in den Bergen Japans gefunden“, sagte Dr. Kobayashi.
„Sie wurde in moderner Zeit ebenso vor der japanischen Regierung versteckt, wie es in alter Zeit der Fall war, denn in früheren Zeiten wäre eine solche Karte von den Behörden zerstört worden. Laut eines Briefes wurde die Originalkarte von einem buddhistischen Priester aus China gebracht und in diesem Tempel versteckt.
Vor zehn Jahren war mein Bruder schwindsüchtig. Obwohl ich Arzt war, wollte er nicht mit Medikamenten behandelt werden. Er beschloss, in die Berge zu gehen und selbst eine Heilung zu versuchen. Er ist zehn Jahre lang dort geblieben und setzte seine Willenskraft ein, um eine Heilung herbeizuführen. Heute ist er ein gesunder Mann.
Während seines Aufenthaltes dort fand er diese Karte. Er entwickelte daraus eine Theorie der Flachheit der Erde, trotz aller modernen Tatsachen, die sie als eine Kugel zeigen. Diese Theorie war sein einziges Ziel im Leben. Er ist ein Künstler, und um seine Theorie zu demonstrieren, hat er schöne, malerische und attraktiv aussehende Zeichnungen angefertigt, in denen mechanische, astronomische und technische Verfahrensmethoden gezeigt werden.
Mein Bruder geht auf die Tage von Columbus und Amerigo Vespucci zurück, die, wie er sagt, nach einem neuen Land segelten und glaubten, dass sie, wenn sie direkt in eine allgemeine Richtung segelten, letztendlich zu dem Ort kommen würden. Wir Menschen der Moderne wissen, dass ein Schiff, das von einem Hafen aus fährt und sich immer in östlicher Richtung bewegt, am selben Ort ankommt. Das Schiff geht natürlich um den Globus. Die Theorie meines Bruders besagt, dass man über eine riesige Ebene segelt, als ob man entlang der Ränder einer Schüssel segeln würde.“ (Flache Erde: Kritik und Gedankenanstöße zum Dokumentarfilm “Convex Earth“ (Video))
Die Illustrationen, die die Karte begleiten, sind schöne Beispiele japanischer Kunst. Nie wurde ein attraktiveres Geographie-Buch zusammengestellt. Es ist eine Unmenge an Kirschblüten, Fujiyamas, schönem blauen Meer mit den Segeln von Dschunken und Sampanen. Es gibt Landschaften und Meereslandschaften und bizarre Bilder japanischer Frauen, die nach Art alter Stile gestaltet wurden. Aber in jedem Blatt solcher Bilder werden die Konstruktionslinien so hervorgebracht, dass das Bild nicht beeinträchtigt wird. Anhand des Textes, der jede Seite erklärt, sollte die Geographie leicht verstanden werden.
Dr. Kobayashi hat jetzt alle Originalblätter, Dutzende davon, und diese wird er nach Japan zu seinem Bruder zurückbringen, der beabsichtigt, sie Verlegern zu übergeben. Es wird eine der neuartigsten Veröffentlichungen dieser Zeit sein.
Die Originalkarte, von der eine Kopie von Dr. Kobayashis Bruder gezeichnet wurde und deren begleitender Schnitt eine Nachbildung ist, ist wurmstichig und hält kaum zusammen. Die obige Karte mit allen Kontinenten und sogar den gezeigten hawaiischen Inseln wurde offensichtlich nicht von den Priestern gemacht, die die ursprünglichen Linien zeichneten.
Offene Fragen
Wenn man sich den Text durchliest, fallen folgende Punkte auf bzw. es ergeben sich folgende ungeklärte Fragen:
- Der Besitzer der Karte, Dr. Kobayashi sagt, er glaube, dass die Karte 1.000 Jahre alt sei, aber wir erfahren nicht, wie er zu dieser Annahme kommt bzw. was für diese Annahme spricht.
- Es wird behauptet, Dr. Kobayashis Bruder habe die Karte in einem Tempel in den japanischen Bergen gefunden, aber es werden weder der Tempel noch die Berge genannt noch wird erklärt, wie er die Karte einfach so finden und mitnehmen konnte, zumal deswegen, weil die Karte angeblich so wichtig war, wie wir gleich sehen werden.
- Es wird von einem Brief berichtet, laut dem die Karte von einem chinesischen buddhistischen Priester nach Japan gebracht wurde, aber es wird nicht erklärt, von wem der Brief stammt und an wen er geschrieben wurde.
- Es wird behauptet, dass die Karte vor der japanischen Regierung versteckt werden musste, aber es wird nicht erklärt, warum man befürchten musste, dass sie zerstört werden würde.
- Es wird auch nicht erklärt, wie die Karte in dessen Besitz gekommen war bzw. weshalb er sie nach Japan gebracht hat, zumal angesichts dessen, dass die Karte dort (ebenfalls?) zerstört zu werden drohte.
- Wie konnte die Originalkarte so detailgetreu nachgebildet werden, wenn die Originalkarte bereits so stark von Würmern zerfressen wurde? Oder anders gesagt, wenn sie nicht so stark von Würmern zerfressen war, warum hat man nicht einfach die Originalkarte abgebildet?
- Es wird zum Schluss unterstellt, dass buddhistische Priester die ursprüngliche Karte gezeichnet hätten, aber wieso sollten diese sich überhaupt mit alten Karten beschäftigen?
- Wenn die Karte zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Zeitungsartikels tatsächlich 1.000 Jahre alt war, wäre sie um 900 n.Chr. entstanden, d.h. ca. 500 Jahre bevor Zheng He als erster chinesischer Seefahrer weite Seereisen unternommen hat (zwischen 1405 und 1433 sieben große Expeditionen in den Pazifik und den Indischen Ozean). Die Karte konnte also wohl kaum in China entstanden sein, aber wie kam sie nach China?
- Wieso fehlen auf der Karte Madagaskar, Grönland und Polynesien, aber nicht die hawaiianischen Inseln?
- Welche Kontinente oder Inseln sind all die schwarzen Flecken um die eigentliche Weltkarte, und wie sollen sie erreicht werden, wenn sie jenseits des Randes der Welt bzw. der sie angeblich umgebenden Eismauer liegen? Und wo ist nun ausgehend von dieser Karte überhaupt der eigentliche Rand der Welt, wenn all die Inseln und Kontinente noch diesseits des Randes liegen?
Alles in allem scheinen der Artikel und die Karte mehr Fragen aufzuwerfen als sie eigentlich beantworten. Weder die angebliche Aufbewahrung von buddhistischen Mönchen noch der Transport von China nach Japan noch das „Finden“ durch Dr. Kobayashis Bruder werden auch nur ansatzweise plausibel erklärt bzw. alles wird auf einen mysteriösen Brief zurückgeführt, der ebenso wenig als Beweisstück vorgelegt wird wie die angebliche Originalkarte.
Der Artikel basiert somit lediglich auf Behauptungen und einer Karte, über deren Ähnlichkeit mit der angeblichen Originalkarte wir keine gesicherte Aussage treffen können. Es gibt in diesem Artikel jedenfalls nichts Greifbares, das die Aussage des Autors bzw. Dr. Kobayashis in irgendeiner Form stützen würde.
Parallelen zur Zeno-Karte
Im Jahr 1558 veröffentlichte ein Venezianer namens Nicolò Zeno ein Buch und eine begleitende Karte, in der er behauptete, seine Vorfahren, Nicolò und Antonio Zeno, Brüder des Marinehelden Carlo Zeno, hätten Reisen von gleicher Bedeutung wie Kolumbus unternommen und noch dazu ein Jahrhundert früher, womit sie Venedig einen Platz am präkolumbianischen Tisch und einen Triumph über Venedigs Rivalen Genua, der Heimat von Columbus, errungen hätten.
Das Buch soll angeblich die Korrespondenz der beiden Brüder über ihre Abenteuer zusammenfassen – Korrespondenz, die bequemerweise zerstört wurde, bevor die Gelehrten es untersuchen konnten, als der jüngere Nicolò Zeno die Originalmanuskripte in Stücke riss.
Seltsamerweise mischt das Buch frei vermeintliche Zitate aus den Briefen und der Ich-Erzählung des späteren Autors, alle in der gleichen Stimme der ersten Person, als ob ein Schriftsteller drei Persönlichkeiten annimmt.
Man geht davon aus, dass der Text ein Schwindel (Hoax) ist, und dass die begleitende Karte von einer zufälligen Zusammenstellung von früheren Karten abgeleitet ist, einschließlich Olaus Magnus’ Carta Marina (1539), gedruckt in Venedig; Cornelius Anthoniszons Caerte van Oostlant (1543); und Ableitungen von Claudius Clavus’ früher Karte des Nordens (ca. 1427), einschließlich Grönland, das in der Form und Ausrichtung auf der von Clavus abgeleiteten Karte von 1467 von Nicolaus Germanus als ihr Gegenstück auf der Zeno-Karte fast identisch erscheint.
Der echte Nicolò Zeno (der Ältere) war von 1390 bis 1392 Militärgouverneur in Griechenland gewesen und wurde 1394 in Venedig wegen Unterschlagung angeklagt. Er lebte bis mindestens 1402, obwohl er (angeblich) 1394 in Frisland „gestorben“ war.
Die Zeno-Erzählung und -Karte wurde zu einer europäischen Sensation und mehrere Entdecker brachen aufgrund dieser Karte zu Expeditionen in die Arktis auf. Schlimmer noch, der Übersetzer des Textes, Richard Henry Major, trug zu weiteren pseudowissenschaftlichen Behauptungen bei, als er Zichmni mit Henry Sinclair identifizierte, einem angeblichen Mitglied des Tempelritterordens, der daraufhin aufgrund dieses Textes beschuldigt wurde, den Heiligen Gral in Amerika zu verstecken (Globus versus Flache Erde: Wie sieht sie nun wirklich aus? (Videos)).
(Die Karte der Zeni in einer Reproduktion von 1793)
Es lässt sich feststellen, dass die Geschichte der hawaiianischen bzw. japanischen Karte einige Parallelen zur Zeno-Karte zu erkennen gibt. Dazu gehört, dass die Original-Zeno-Karte angeblich verfault gewesen sein soll, dass es also in beiden Fällen angebliche Originalkarten geben soll, die jedoch nie je ein Mensch zu Gesicht bekommen hat, ebensowenig wie die angeblich existierenden mysteriösen Briefe mit Erklärungen über die Karten.
Gegen den Wahrheitsgehalt der Zeno-Karte spricht z.B. auch, dass darauf einige Phantominseln verzeichnet sind, wie etwa die nicht existente Insel Frisland, auf der sich die Zenos angeblich lange Zeit aufgehalten hatten, und die auch noch lange danach auf anderen Karten eingezeichnet worden war.
Weitere angeblich von den Zeno-Brüdern entdeckte Inseln waren Eslande, Engronelanda, Estotilanda und Icaria. Es gibt zudem einen ziemlich deutlichen Hinweis darauf, dass der Journalist, der den Artikel von 1907 schrieb, wusste, dass die Geschichte ein Hoax war, indem er sie mit James De Milles 1888 in einem Kupferzylinder gefundenen Manuskript eines Romans in Zusammenhang brachte, der von einer satirischen Geschichte einer unterirdischen Welt handelt.
Schlussfolgerung
Um noch einmal zur Ausgangsfrage zurückzukommen, lässt sich anhand des Artikels beweisen, dass die Karte von 1907 mittlerweile rund 1.100 Jahre alt ist, und dass die Erde flach ist? Nein, genausowenig, wie die Flagge der Vereinten Nationen beweist, dass die Erde flach ist, denn sie zeigen beide lediglich eine Projektion der Weltkarte, bei der der Nordpol im Zentrum liegt.
Wie wir gesehen haben, gibt es viele Punkte, die gegen die Glaubwürdigkeit des Artikels und der Karte von 1907 sprechen, sodass keines von beiden als Beweismittel dafür taugt, dass die Erde flach ist. Einfach zu glauben, dass beides der Wahrheit entspricht, ohne dass weitere Anhaltspunkte für deren Echtheit sprechen, wäre gleichbedeutend damit, einfach alles zu glauben, was in der Zeitung steht (Verbreitung der Flache-Erde-Theorie als Strategie der Diskreditierung kritischer Meinungsäußerung (Videos)).
Und wir wissen nur allzu gut, dass man alles hinterfragen sollte, einschließlich der Flache-Erde-Theorie.
Literatur:
Agartha: Die Welt im Inneren der Erde
Unterirdisch (DuMont Bildband): Verborgene Orte in Deutschland
Vulkane, Schluchten, Höhlen: Geologische Naturwunder in Deutschland
Quellen: PublicDomain/jasoncolavito.com/jasoncolavito.com/maki72 für PRAVDA TV am 28.05.2018
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