Hohe bürokratische Hürden oder gar keine Hilfe: In Deutschland gibt es immer mehr Obdachlose, aber viel zu wenig Unterkünfte. Berliner Politiker fühlen sich überfordert.
Hamburg sieht eine Zweiklassengesellschaft unter Betroffenen aus Deutschland und anderen EU-Ländern.
Die Nächte werden kalt, die Obdachlosen rücken in den medialen Fokus. Bundesweit fehlen Unterkünfte, die bürokratischen Hürden für Hilfen sind hoch, viele Kommunen haben klamme Kassen. Immer mehr Menschen geraten unter die Räder.
Verbände schätzen ihre Zahl in Deutschland inzwischen auf mehr als eine halbe Million. Das entspricht der gesamten Einwohnerzahl von Hannover. Sie kampieren unter Brücken, in Bahnhofshallen, in Parks. Sie stören das bürgerliche Leben, zum Beispiel im Berliner Tiergarten.
Dutzende Wohnungslose schlafen dort in Zelten, auf Bänken. Viele, darunter schon Minderjährige, prostituieren sich, verkaufen und konsumieren Drogen oder werden anderweitig kriminell. Vor einigen Wochen geschah dort sogar ein Raubmord. Ein Großteil der Menschen ist schwer alkohol- oder drogenabhängig.
Der Bezirksbürgermeister von Berlin Mitte, Stephan von Dassel, machte sich am Wochenende Luft. Ordnungsamt und Polizei bewältigten die Situation nicht mehr, rief er um Hilfe.
Der Grünen-Politiker machte zwei Problemgruppen aus. Deutsche Obdachlose pöbelten die Beamten an, sie wollten mit dem „Scheiß-Jobcenter-System“ nichts zu tun haben. Die Mehrheit stellten jedoch ost- und südeuropäische Arbeitsmigranten. „Sie reagieren aggressiv auf alles, was in ihre Nähe kommt“, monierte er (Neues aus den Unterklassen: Das Prinzip „Teile und herrsche“ funktioniert (Videos)).
Vor Hunger Schwäne verzehrt
EU-Migranten haben in Deutschland keinen Anspruch auf Sozialleistungen. Immer wieder wird bekannt, dass Unterkünfte sie – auch deshalb – abweisen. In Notschlafstätten wie Suppenküchen herrscht vielerorts ein regelrechter Verteilungskampf.
Das hat drastische Folgen: Vor knapp einem Jahr wurden Betroffene beim Verzehr wilder Schwäne erwischt. Offensichtlich hatten sie Hunger, aber kein Geld.
Die Menschen zu vertreiben, führe zu nichts, so von Dassel. „In zwei Stunden sind sie wieder da.“ Der Bezirksbürgermeister sieht – entgegen der Richtlinie seiner Partei – nur eine Abhilfe: Er will die EU-Migranten aus dem Tiergarten schneller abschieben (Handwerk und Industrie ernüchtert: Migranten erfüllen nicht die Erwartungen).
Ob das etwas bringt, ist fraglich. Viele, die in ihrer Heimat keine besseren Bedingungen vorfinden, kommen zurück in die Bundesrepublik, die seit Jahren mit immer neuen Exportrekorden die anderen europäischen Länder übertrumpft. Dieter Puhl, Sprecher der Bahnhofsmission am zoologischen Garten Berlin, sieht das ähnlich:
Campen im Tiergarten ist ja nicht Ausdruck von Freiheit, sondern Synonym von persönlichen Überforderungen und Hilflosigkeit, sagte Puhl der Berliner Zeitung.
Viele Betroffene seien „einfach krank“. „Ihre Seelen klappern laut“, so Puhl. Das Problem der Obdachlosigkeit nehme zu, warnte er. Derzeit stünden Betroffenen gerade 1.000 Notschlafstätten zur Verfügung. Gebraucht würden aber 2.000, schätzt er.
Es fehlten Ärzte und rund 25 Millionen Euro für praktische Hilfen. „Wir fordern keine drastischen Maßnahmen gegen obdachlose Menschen, sondern wünschen drastische Hilfen für sie“, sagte Puhl (Neue Studie: 2,7 Millionen Kinder und Jugendliche leben in Deutschland unterhalb der Armutsgrenze).
Mit Auflage unter die Brücke
Mit wachsender Wohnungslosigkeit hat nicht nur Berlin zu kämpfen. Um den Bedarf an Unterkünften zu ermitteln, müssten Betroffene erfasst werden. Die Bundesregierung verweigert das seit Jahren. Hamburg ließ Obdachlose zuletzt im Jahr 2009 zählen. Neben denen, die bei Bekannten oder Verwandten unterkamen, lebten dort damals rund 900 Menschen dauerhaft auf der Straße. Im März will die Hansestadt neue Daten erheben. Inzwischen geht sie von mehr als 2.000 akut Betroffenen aus. Immer neue kämen hinzu, heißt es.
Wie die Berliner Politik macht sich Hamburgs Senat vor allem Sorgen um den Unrat, jedenfalls in der City, wo viele Touristen unterwegs sind. Doch irgendwo müssen die Menschen bleiben. Man findet viele unter den Alsterbrücken. Unter der Kersten-Miles-Brücke an der Helgoländer Allee zum Beispiel.
Einst hatte die Stadt die begehrten Plätze abgesperrt, inzwischen duldet sie dort Matratzenlager. Die Auflage: Das halbe Dutzend dort hausender Menschen darf keine Zelte aufstellen, wie das Hamburger Abendblatt am Montag berichtete.
Etwas ab vom Schlag schaut man weniger genau hin. Am Alsterufer wachsen die Elendscamps. Die Stadt duldet sie inzwischen, inklusive Zelten, Planen, Kochstellen. Auch hier stammt der größte Teil der Betroffenen aus ärmeren EU-Ländern mit hoher Erwerbslosigkeit und geringen oder fehlenden Sozialleistungen.
Die Stadt versucht, sie zur Rückkehr zu bewegen, das Problem also auszulagern. Offensichtlich gelingt das in nur wenigen Fällen.
Klassengesellschaft ganz unten
Die Macher der Hamburger Obdachlosenzeitung „Hinz und Kunzt“ warnten zuletzt immer wieder vor einer wachsenden Verelendung der Menschen ohne Leistungsanspruch.
Die scheidende Bundesarbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles hatte im Dezember 2016 den Ausschluss von EU-Migranten von Sozialhilfe im Eiltempo in ein Gesetz gegossen. Zuvor hatte das Bundessozialgericht sich dagegen gestellt.
Wir haben unter den Obdachlosen inzwischen eine Zweiklassengesellschaft, und das Elend wird immer schlimmer und spürbarer,
mahnte Stephan Karrenbauer, Sozialarbeiter bei „Hinz und Kunzt“ gegenüber der Zeitung. Es sei „furchtbar zu sehen, wie die Menschen auf der Straße krank werden. Einerseits lässt ihn die geplante Erfassung hoffen. In den vergangenen Jahren habe die Mehrheit im Senat aus SPD und Grünen mehrfach entsprechende Anträge der Linkspartei abgelehnt, kritisierte er.
„Die Zählung könnte dabei helfen, Lösungen für die Menschen zu finden, die auf Hamburgs Straßen verelenden“, so Karrenbauer.
Allerdings müsse es auch darum gehen, die Probleme der Betroffenen genauer zu kennen. Sonst sei ihnen kaum zu helfen. Karrenbauer befürchtet auch, die Untersuchung könne letztlich für die Vertreibung Unerwünschter genutzt werden.
„Manche Osteuropäer erhalten nicht mal mehr Zugang zum Erfrierungsschutzprogramm“, wies der auf die lebensgefährliche Situation der Betroffenen hin.
Elend inmitten voller Warenregale
Aus allen Teilen der Republik überschlagen sich dieser Tage die Berichte über das Elend und den Mangel aus dem gelobten „Wirtschaftswunderland“ BRD. In Mainz gibt es laut Rhein-Main-Presse zu wenig Platz für obdachlose Frauen. Die Notschlafstätten platzten aus allen Nähten, heißt es.
Für viele Menschen in dieser Situation seien auch die Hürden, dort unterzukommen, zu hoch. Hätten sie nicht alle Unterlagen beisammen – und das gehe vielen auf der Straße so –, würden die Jobcenter ihnen keine Hilfe gewähren. So bleibe das Gros in der prekären Lage stecken.
Im Münchner Flughafen lässt man Betroffene mittlerweile schlafen. „Solange sie niemanden stören und weder sich selbst noch andere gefährden, werden sie nicht des Geländes verwiesen“, sagte Stefan Fratzscher am Wochenende der Augsburger Allgemeinen. Fratzscher ist Seelsorger am Flughafen. Er, andere Mitarbeiter und sogar die Polizei versuchten zu helfen, erklärte er.
Und Dieter Puhl von der Berliner Mission vom Bahnhof Zoo? Er sorgt sich, denn es fehlen auch in diesem Jahr wieder Tausende warme Schlafsäcke. „Es werden immer mehr bedürftige Menschen“, schreibt er auf der Internetseite seines Vereins. Er weiß:
Mehrere tausend Menschen werden in diesem Winter im Freien nächtigen.
Spenden von Freunden und Bekannten reichten für das zum Überleben Notwendige längst nicht mehr aus. „Eine strukturelle Versorgung ist seit Jahren überfällig“, so Puhl.
Literatur:
Armut in Deutschland: Wer ist arm? Was läuft schief? Wie können wir handeln? von Georg Cremer
Verfallssymptome: Wenn eine Gesellschaft ihren inneren Kompass verliert von Günther Lachmann
Die Hartz-IV-Diktatur: Eine Arbeitsvermittlerin klagt an von Inge Hannemann
Wem gehört Deutschland?: Die wahren Machthaber und das Märchen vom Volksvermögen von Jens Berger
Quellen: PublicDomain/deutsch.rt.com am 17.10.2017
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