Als von Seiten der Ermittler verlautete, dass hinter dem Anschlag auf die Mannschaft von Borussia Dortmund mutmaßlich ein Aktienspekulant steckt, war die Empörung groß. Politiker aller Parteien beeilten sich, ihre Betroffenheit über die Tat und ihre Abscheu vor dem Motiv des Täters zu äußern: Habgier.
Die zur Schau gestellte und lautstark vorgetragene Empörung über die Tat von Dortmund ist insofern verlogen, als sie von einem Schweigen über den Handel mit Derivaten und die Spekulation mit Nahrungsmitteln begleitet wird, die rund um den Globus täglich massenhaft Tote produzieren. Habgier nennt man auf dieser Ebene Profit, und an diesem Motiv wagt kaum noch jemand Kritik zu üben. Von Götz Eisenberg.
Natürlich ist der Täter von Dortmund, wenn ihm der Anschlag im Rahmen einer Gerichtsverhandlung nachgewiesen werden kann, im juristischen und auch moralischen Sinn schuldig. Und dennoch nötigt uns dieser Fall, in besonderer Weise zu fragen, wie es um die Mitschuld einer Gesellschaft bestellt ist, die sich als Ganze den Imperativen des Marktes ausliefert und deren einziger kategorischer Imperativ der der schnellen Bereicherung ist.
Wenn die Menschen vollends vom Kapitalprinzip durchdrungen und von Indifferenz und Kälte geprägt sind und sich auch so verhalten, tut man so, als handele es sich um Monster von einem fremden Stern.
Ein 28-jähriger Mann wollte Fußballprofis töten, um sich zu bereichern. Er hatte nach den Erkenntnissen der Ermittler für circa 80.000 Euro Optionsscheine erworben, die meisten davon wenige Stunden vor dem Bombenanschlag am 11. April. Der Plan des Mannes: Die Tötung von Spielern des Bundesliga-Vereins Borussia Dortmund sollte zu einem massiven Kursverlust der BVB-Aktien führen und ihm dank der auf diesen Verfall abgeschlossenen Wetten zu einem immensen Gewinn verhelfen.
Dieser hätte wegen der sogenannten Hebelwirkung solcher Papiere ein Vielfaches des Einsatzes betragen und im Millionenbereich liegen können.
Heribert Prantl hat kurz nach der Lehman-Brother-Pleite in einem Kommentar der Süddeutschen Zeitung unter Rückgriff auf eine Anekdote, auf die er in der Zeitschrift Die Gazette gestoßen war, erklärt, was ein Derivat ist und wie die ganze zeitgenössische Woodoo-Ökonomie funktioniert:
„Chuck kauft für 100 Dollar einen Esel. Das Tier stirbt vor der Lieferung. Chuck will sein Geld zurück, aber der ehemalige Besitzer hat es angeblich bereits ausgegeben. Nun will Chuck den toten Esel, um ihn zu verlosen. Verlosen? Ich sag den Leuten einfach nicht, sagt Chuck, dass er tot ist. Einen Monat später trifft der Farmer Chuck wieder und erkundigt sich, was aus dem Esel geworden ist. Ich hab’ ihn verlost, 500 Lose zu zwei Dollar verkauft und 998 Dollar Gewinn gemacht. Hat sich keiner beschwert? Nur der Kerl, der den Esel gewonnen hat. Dem habe ich seine zwei Dollar zurückgegeben.“
Prantls Erzählung endet mit der Bemerkung:
„Heute arbeitet Chuck für Goldman-Sachs und das Esel-Modell ist zum Weltfinanzprinzip geworden.“
Als herauskam, dass hinter dem Anschlag auf die Mannschaft des Fußball-Bundesligisten Borussia Dortmund mutmaßlich ein Aktienspekulant steckt, war die Empörung groß und einhellig. Politiker aller Parteien beeilten sich, ihre Betroffenheit über die Tat und ihre Abscheu vor den Motiven des Täters zu äußern. So sagte zum Beispiel Justizminister Heiko Maas:
„Sollte der Beschuldigte tatsächlich aus bloßer Geldgier versucht haben, mehrere Menschen zu töten, wäre das einfach grauenhaft.“
Hat man jemals erlebt, dass sich unsere Spitzenpolitiker ähnlich aufregen, wenn infolge von Spekulationen mit Nahrungsmitteln Massen von Menschen hungers sterben? Sind die Motive von Großbanken und Hedgefonds andere als die des Täters von Dortmund? Ist dieser Mann mit seiner Tat nicht vollkommen auf der Höhe der Zeit? Hat er den neoliberalen Zeitgeist nicht perfekt verinnerlicht?
Der Mann ist das, was man einen „devianten Konformisten“ nennen könnte: Er will, was alle wollen und was das Grundprinzip des neoliberal entfesselten Kapitalismus ist. Der Unterschied: Er handelt auf eigene Faust und nicht im Auftrag und Namen einer Bank. Das macht es möglich, sein Agieren als „abweichendes Verhalten“ zu behandeln und zu kriminalisieren.
Die Finanzpsychopathen und Bankster überschwemmen seit Jahren den Markt mit toxischen Produkten; sie spekulieren mit Grundnahrungsmitteln und agrarischen Rohstoffen und tragen so dazu bei, dass in der sogenannten Dritten Welt die Lebensmittelpreise steigen und Menschen hungers sterben; sie verwandeln Banken in Spielcasinos und schließen – vom Geruch des Blutes angezogen – Wetten ab auf den Niedergang ganzer Volkswirtschaften und den Bankrott von Staaten; sie verkaufen ihrem Nachbarn eine Brandschutzversicherung, und wetten gleichzeitig darauf, dass es in Bälde bei ihm brennen wird – und schicken schließlich Leute, die es anzünden.
Die Deutsche Bank hatte eine Weile einen Lebensversicherungsfonds namens Kompass Life 3 im Angebot, der mit der Lebenserwartung von Menschen spekulierte. Man konnte Wetten auf den Tod anderer Menschen abschließen und damit Geld verdienen. Nach Kritik an diesen Todeswetten aus den eigenen Reihen ruderte die Deutsche Bank zurück und bot den Kunden den Ausstieg aus dem Fonds an. Diese Wetten auf das Leben Fremder existieren auch nach dem Rückzug der Deutschen Bank aus diesen Geschäften weiter. Sie hatten im Jahr 2012 ein Volumen von 30 Milliarden Dollar angenommen.
Das funktioniert so: Man kauft die Lebensversicherungspolice einer erkrankten oder älteren Person, bezahlt die laufenden Prämien und kassiert nach dem Todesfall die Versicherungssumme, in manchen Fällen Millionen. Je früher der Unbekannte stirbt, desto besser für den Käufer. Erinnern Sie sich an einen Aufschrei der Empörung von Seiten der politischen Klasse und der Medien?
Bei Goldman-Sachs hat man nach dem Esel-Prinzip faule Immobilienkredite mit anderen Papieren zu einem Finanzpaket verschnürt, sich von willfährigen Ratingagenturen ein Triple A für dieses hochtoxische Produkt beschafft, sie sodann an Banken in aller Welt verkauft und gleichzeitig Wetten auf den Niedergang dieses Produkts abgeschlossen.
Die Welt der losgelassenen Märkte ist eine Konkurrenzhölle, die mehr und mehr von sozial gestörten Menschen bevölkert ist. Sie sind bloße Tauschmaschinen, Geldsubjekte, innerlich abgestumpfte Rest-Menschen, denen jedes Mittel Recht ist, um immer höhere Gewinne zu erzielen. Man geht buchstäblich über Leichen.
Wer bilanziert eigentlich das Leiden, das Banker und Spekulanten über die Menschheit bringen? In welcher Statistik tauchen die Selbstmorde, psychosomatischen Krankheiten und die Verzweiflung auf, die die Finanz-Psychopathen zu verantworten haben?
Max Horkheimers berühmtes Diktum abwandelnd könnte man sagen: Wer über die Praxis der Finanzmarkt-Hasardeure nicht reden will, sollte auch vom privaten Terrorismus eines kleinen Elektrotechnikers schweigen. Seit der Kapitalismus von der Leine sozialstaatlicher Regulierung gelassen wurde, haben es die Märkte und das Geld geschafft, unser Leben komplett in Beschlag zu nehmen und bis in die letzten Poren vorzudringen.
Der Tauschwert ist zur Leitwährung auch der intimen Binnenwelten geworden. Alles rutscht, wie Brecht sagte, in die Funktionale und wird ausschließlich nach seinem ökonomischen Wert und seiner Nützlichkeit beurteilt. Warum sollte diese Tendenz vor dem Menschen haltmachen? Aus einer ausschließlich ökonomisch begründeten Vernunft lässt sich kein Einwand gegen den Mord herleiten.
Von der wertzynischen Motorik des Geldes werden sozial-moralische Polster und Traditionsbestände verzehrt, ohne die ein Gemeinwesen nicht existieren kann. Export, Wohlstand, Markt und Macht, Geld und Karriere, das ganze Sortiment der Wertabstraktion, halten eine Gesellschaft auf Dauer nicht zusammen.
Die Geldsubjekte verwildern moralisch und werden psychisch frigide und gefühllos. Der Psychopath mit seiner Skrupel- und Empathielosigkeit droht zum dominanten Sozialcharakter des neoliberalen Zeitalters zu werden. Über den Gesellschaften des losgelassenen Marktes breitet sich ein moralisches Ozonloch aus, im Inneren ihrer Bewohner grassieren Zynismus und Egomanie.
Das Schlimme ist, dass das, was da an moralischer Substanz auf der Strecke bleibt und in den Individuen abstirbt, unwiederbringlich verloren zu gehen droht. Wenn wir noch etwas retten wollen, müssen wir das Steuer schleunigst herumreißen und den Wahnsinn des losgelassenen Marktes und den Amoklauf des Geldes stoppen. Welche menschlichen Haltungen gedeihen eigentlich in einem gegebenen sozialen Klima, welche verdorren?
Unter den gegenwärtig herrschenden Verhältnissen entsteht ein hemmungsloser Individualismus, in dem niemand mehr Weggefährte der anderen ist, sondern nur noch Gegner, vor dem man auf der Hut sein muss. Wir benötigen eine solidarische Ökonomie, die sich ihre Ziele von der Gemeinschaft mündiger Bürger vorgeben lässt. Das erst wäre gelebte Demokratie, die die Entfaltung wahrhaft menschlicher Eigenschaften wie Solidarität und gegenseitige Hilfe begünstigen würde.
Der menschenfeindliche Charakter einer auf Kälte, Konkurrenz und Gleichgültigkeit gestimmten Gesellschaft und ihre Tendenz zur Selbstzerstörung werden vom Amokläufer und Terroristen gleichsam aus der Abstraktion gerissen und zur Kenntlichkeit gebracht. Der destruktive Wahn, der individuelle Täter zu ihren Taten treibt, ist Teil und Ableger eines Wahns, von dem das gesellschaftliche Ganze befallen ist.
Je direkter dieser sich in jenem ausdrückt, je offensichtlicher der Täter also das Ensemble seiner und unserer gesellschaftlichen Verhältnisse ist, desto lauter der Aufschrei der Empörung und desto vehementer der Wunsch nach individueller Schuldzuschreibung und harter Bestrafung. Je direkter die privat angewandte Gewalt ein Ableger der Gewalt des gesellschaftlichen Ganzen ist, desto mehr wird sie betrachtet, als stamme sie von einem fremden Stern.
Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitete mehr als drei Jahrzehnte lang als Gefängnispsychologe im Erwachsenenstrafvollzug. In der »Edition Georg Büchner-Club« erschien im Juli 2016 unter dem Titel »Zwischen Arbeitswut und Überfremdungsangst« der zweite Band seiner »Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus«. Dort hat er im Herbst 2016 unter dem Titel: »Es ist besser, stehend zu sterben als kniend zu leben! No pasarán!« auch ein Bändchen zum Spanischen Bürgerkrieg veröffentlicht.
Literatur:
Was wir sind und was wir sein könnten: Ein neurobiologischer Mutmacher von Gerald Hüther
Etwas mehr Hirn, bitte: Eine Einladung zur Wiederentdeckung der Freude am eigenen Denken und der Lust am gemeinsamen Gestalten von Gerald Hüther
Quellen: PublicDomain/nachdenkseiten.de am 24.04.2017
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Sehr gut geschrieben. Und den Nagel auf den Kopf getroffen.Leider versteht dies nur ein geringer Teil der Bevölkerung. Danke