Die Freiheit der Kinder und der Angriff auf die Kindheit

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Kleine Kampfmaschinen: Betrachtet man die Pädagogik der letzten 25 Jahre, so hat sich gerade in Bezug auf die kleinen Kinder Entscheidendes geändert. Sie sollen jetzt durch einen möglichst frühen Bildungsbeginn vorangebracht werden.

Entsprechend wird die Kita nun zur Bildungsinstitution aufgerüstet – zu einem „Glied der Bildungskette“. Die Kindheit dreht sich seither immer öfter um die Suche nach dem pädagogischen Kraftfutter, das möglichst früh anschlägt – und vor allem das Gehirn wachsen lässt.

Das mag ketzerisch klingen, aber wir müssen uns diesem Thema stellen, um die vierte Riesenangst anzupacken, die heutige Eltern quält: die Angst, dass wir unseren Nachwuchs zu wenig fördern.

Ein extremes – und dennoch millionenfach gelesenes – Beispiel lieferte vor Jahren eine aus China stammende US-Amerikanerin, die „Mutter des Erfolgs“, Amy Chua. Das Rezept, mit dem die Tiger Mom ihren Kindern „das Siegen“ beibringen will, bedeutet eine radikale Neudefinition der Kindheit (Prügelnde Kinder, respektlose Väter, Deutsch spricht kaum einer: Der Hilfeschrei einer Erzieherin).

Üben statt Spielen

Statt Spielen (angeblich Zeitverschwendung) ist Üben angesetzt – unter Aufsicht der Eltern. Oder allenfalls der Lehrer. Selbst die Kinderzeichnungen werden genau begutachtet, und es werden Verbesserungsvorschläge gemacht.

Überhaupt: Freiheit sei für Kinder gefährlich, sie könnten dadurch das wichtigste Ziel der Kindheit vergessen, nämlich sich die ersten Plätze zu sichern.

Es ist leicht, das alles als Extremismus oder als Privatmeinung einer offenbar gequälten Seele abzutun. Aber auch die Pädagogik des deutschen Mainstreams hat sich längst in diese Richtung entwickelt.

Freies Spiel? Was könnten die Kinder in dieser Zeit alles lernen! In den Wald gehen? Allenfalls im Rahmen eines waldpädagogischen Tages (Kinder und Jugendliche leiden an Vitamin-D-Mangel).

Ganz klar. Hinter dem Gerede der Tiger Mom steht ein gesellschaftlicher Trend, und er bedeutet den Frontalangriff auf die Kindheit, wie wir sie bisher kennen. Es ist der Trend, unsere Kinder als kleine Kampfmaschinen im globalisierten Wettbewerb zu sehen.

Die Hoffnung wird scheitern. Und zwar an unseren Kindern. Sie wird scheitern, weil unsere Kinder ohne Freiheit, ohne eine eigene Kindheit, ihr angestammtes Potenzial nicht entfalten können (Alleinerziehende Mutter: Ich schaffe das nicht, Frau Merkel).

 

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Von Purzelbäumen

Ein Drittel der Kinder im Kindergarten kann heute keinen Purzelbaum mehr schlagen. Der Grund: Es fehlt ihnen an Gelegenheiten, dies zu erlernen. Nach einer britischen Studie ist der Raum, den Kinder zum Spielen im Freien nutzen können, seit den 1970er-Jahren um 90 Prozent zurückgegangen.

In einer Untersuchung aus Deutschland spielten noch 1990 fast drei Viertel der deutschen Kinder zwischen sechs und dreizehn Jahren täglich im Freien, 2003 waren es weniger als die Hälfte.

Und im Jahr 2015 belegt eine Studie in der angesehenen kinderärztlichen Fachzeitschrift Pediatrics, dass es den meisten Kita-Kindern in den USA heute an Bewegung und Auslauf mangelt. Und dann wird über die Ungeschicklichkeit der heutigen Kinder hergezogen oder ihr Übergewicht beklagt!

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Noch deutlicher wird der Trend, wenn man weiter zurück in die Geschichte schaut. Von Kriegs- und den Umbruchzeiten der industriellen Revolution einmal abgesehen, war der normale Lebensraum der Kinder die Welt dort draußen. Nicht rauszukönnen wurde als Strafe empfunden.

Heute stellt sich immer öfter die Frage nach dem Wohin. Lässt man den Zeitraffer laufen, so wurden den Kindern zuerst die Wälder genommen, danach die Wiesen, die Hinterhöfe, die Brachflächen, dann die Straßen, Gassen und Gärten.

Und schließlich noch die Zeit selbst: Nach Erhebungen des Soziologen John Sandberg hat sich die Freizeit US-amerikanischer Kinder allein in den letzten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts um ein Viertel verringert. Und die gelten gegenüber den Kindern in Shanghai noch als wilde Kerle. Michael Ende hat in „Momo“ kein Märchen erzählt: Da gibt es jemanden, der den Kindern die Zeit stiehlt! (Schule und Forschung: So schaden Hausaufgaben unseren Kindern)

Was ist aus den Kinderbanden geworden?

Im Jahr 1964 wurden in Deutschland 1 357 304 Kinder geboren. Heute sind es weniger als die Hälfte. Damit verschieben sich auch Gewichte. Einem Kind stehen mittlerweile rein rechnerisch dreimal mehr Erwachsene gegenüber als noch in den 1970er-Jahren.

Kein Wunder, dass Kinder jetzt deutlich seltener in „informellen Gelegenheitsgruppen“ anzutreffen sind – sich also in der Freizeit ungeplant zum Spielen treffen. Es fehlt den Gelegenheitsgruppen aber nicht nur an potenziellen Mitgliedern, sondern auch an Gelegenheiten. Viele der verbliebenen Kandidaten sitzen nämlich gerade im Auto, auf dem Weg zum nächsten Termin.

Tatsächlich ist die straffere Führung der Kindheit durch wohlmeinende Erwachsene ein wichtiger Grund für das Aussterben der Kinderbanden. Die Kindheit wird neuerdings als „zu wertvoll angesehen, als dass sie den Kindern überlassen werden kann“. Große Chancen, einen Purzelbaum zu erlernen, bestehen damit allenfalls noch im Ballettunterricht – oder aber in der Physiotherapie.

 

Natürlich ist auch Angst im Spiel

Die wenigsten Erwachsenen würden heute ihren Kindern die Abenteuer erlauben, an denen sie sich selbst als Kinder so sehr erfreut haben (und von denen sie trotzdem ihren Kindern mit glänzenden Augen erzählen).

Ja, man wünscht sich, dass die Kinder geschickt und sportlich sind – aber müssen sie dazu ausgerechnet auf Bäume klettern? Oder gar das tun, was wir früher gemacht haben?

Also drinnen bleiben. Und warum eigentlich nicht? PlayStation, Smartphone, Xbox und Internet bieten alles, was ein kindliches Gehirn zum Jubeln bringt: Action, die Illusion von Macht und Wirksamkeit, Belohnungen durch kurzfristige Gewinne, Fantasiewelten, Rückzugsräume, ja, sogar virtuelle „Freunde“ und Kameradschaft – das Abenteuer ist einfach umgezogen (Kinder verbringen heute weniger Zeit an der frischen Luft als Häftlinge).

Für immer mehr Kinder und Jugendliche sind die brenzligen Gefühle des Unerlaubten, Unerwarteten und Unberechenbaren heute nur noch im Internet erreichbar. Und anders, als wir gern glauben wollen, ist die virtuelle Spielwelt hinter dem Bildschirm keinesfalls langweiliger als die echte Welt draußen vor der heruntergelassenen Jalousie – wer das behauptet, hat entweder keinen männlichen Sprössling zu Hause oder keinen Computer. Unsere Kinder und Jugendlichen sind wirklich auf den Stühlen festgeklebt (Digitalisierung der Schule: „Zum selbständigen Denken unfähig“).

Schichtenbildung

Mit dem Schwinden der Bolzplatzbanden haben Kinder aber mehr verloren als nur die von Erwachsenen weitgehend unbeaufsichtigten Erfahrungsräume. Sie haben auch ihre älteren (und jüngeren) Mitstreiter verloren. Kinder lernen und spielen heute fast nur noch mit mehr oder weniger gleichaltrigen Kindern.

Das ist ein Novum in der Geschichte. Bis zu seiner Sesshaftigkeit lebte der Mensch in relativ kleinen, hochmobilen Gruppen.

Allzu wählerisch konnten Kinder da nicht sein, wenn sie sich zum Spielen zusammentaten. Für Evolutionsbiologen ist die gemischtaltrige Kindergruppe deshalb ein charakteristisches Merkmal der menschlichen Stammesgeschichte.

Nach einer sehr eng auf erwachsene Bindungspersonen bezogenen frühen Kindheit war die gemischte Kindergruppe der soziale Erfahrungsraum der späteren Kindheit. Auch heute spielen die Kinder in den traditionellen Gesellschaften rund um die Erde gemischtaltrig.

 

Die Vorteile der Altersmischung

Viele Eltern sehen ältere Kinder vor allem als Krawallmacher und Spielzeugwegnehmer. Die Entwicklungspsychologie hält mit einer ganzen Batterie von Forschungsergebnissen dagegen.

Danach regen sich Kinder in gemischtaltrigen Gruppen eher einander dazu an, sich körperlich, geistig und emotional zu strecken. Kinder in gemischtaltrigen Gruppen spielen ausdauernder, und sie spielen kreativer – ihr Spiel ist für die Entwicklung ergiebiger, als wenn sie „geschichtet“ spielten.

Geben wir einmal zwei Kindern einen Ball. Zwei Vierjährige halten da nicht lange durch. Der eine wirft krumm, der andere fängt schlecht – die beiden stoßen rasch an ihre Entwicklungsgrenzen. Bei einem Vierjährigen und einem Siebenjährigen sieht das schon anders aus.

Da entsteht ein beidseitiger Gewinn – für das ältere Kind sind die ungeschickt zugeworfenen Bälle eine Herausforderung, und es kann seinerseits dem Jüngeren den Ball so zuwerfen, dass der ihn auch zu fangen vermag.

Das Beispiel der Bälle gilt sogar für den schulischen Bereich. So lernen Kinder in altersgemischten Klassen bis zu 40 Prozent des Stoffs voneinander – nicht vom Lehrer!

Auch in sozialer Hinsicht bauen sich Kinder in gemischtaltrigen Gruppen eher Entwicklungsbrücken. Denn in einer altersgemischten Kindergruppe durchläuft ein Kind ganz automatisch eine Vielzahl sozialer Stationen. Es mag zunächst das Kleinste und Schwächste sein, irgendwann aber gehört es zu den Größeren, Stärkeren und Klügeren.

Wer heute nur zuhört, dem wird morgen zugehört. Diese Flexibilität im Geben und Nehmen tut den Kindern gut – man denke nur an die herzerfrischende Bewunderung, die jüngere den älteren Kindern so großzügig zeigen! Jedem Kind wäre zu wünschen, dass es solchen Aufwind bei seiner Entwicklung nutzen kann.

Und da geht es nicht nur um das Selbstbewusstsein. Es geht auch um das Erlernen unterschiedlicher sozialer Rollen. Denn unter Gleichaltrigen steht eines oft im Vordergrund: sich durchzusetzen und zu behaupten.

In gemischtaltrigen Gruppen dagegen können Kinder auch ihre soziale Seite, Zuwendung und Empathie einüben. Die Kinder sind füreinander ja nicht nur Konkurrenten, sondern auch, in wechselnden Rollen, Beschützer, Vorbilder und Helfer.

In einer gleichaltrigen Kindergruppe dagegen macht ein Kind eher eintönige soziale Erfahrungen – jedes Kind kauert sozusagen in seiner Nische und wird auch von den anderen in der immer gleichen Rolle wahrgenommen.

Da werden Hierarchien und Selbstbilder nur allzu leicht zementiert – oft ist über viele Jahre klar, wer etwas zu sagen hat und wer nicht (diese Festlegung wirkt häufig sogar bis weit in das Erwachsenenleben hinein).

Woher soll denn der Wind kommen, der etwa ein schüchternes Kind ermutigt? Heutige Kinder, so fasst es die Entwicklungspsychologin Judith Harris zusammen, „haben keine Gelegenheit, die ganze Erfahrungsskala [des sozialen Lebens] zu durchlaufen. Zu Hause bleiben sie das Älteste oder Jüngste unter den Geschwistern; in der Schule bleiben sie, wenn sie Glück haben, jahrelang an der Spitze der sozialen Rangordnung, wenn sie Pech haben, ganz unten“ (Schule – wie Staat Kinder zerstört: über moderne Selektionsrampen und ihre tödlichen Folgen).

 

Verändertes Drehbuch der Sozialentwicklung

Fassen wir den Trend zusammen.

Erstens: Informelle, zumal gemischtaltrige Kindergruppen sind auf dem Rückzug. Wenn Kinder heute zusammenkommen, dann meist in Gruppen Gleichaltriger und mit einem von außen vorgegebenen Ziel. Und das heißt immer seltener einfach „Spielen“, sondern: „Lernen, Bildung, Förderung …“

Zweitens: Die Erwachsenen sind auf dem Vormarsch. Unbeaufsichtigte Spielräume für Kinder sind selten geworden (sie sind zu einem großen Teil ins Internet umgezogen). Für die reale Welt aber gilt: Wo immer Kinder sind, sind Erwachsene schon da – mit Regeln, Zielen, Anleitungen, pädagogischen Programmen, Bewertungen, Aufmunterungen und Belohnungen.

Und mit guten Ideen: Die Sternstunden der Kindheit buchen sie jetzt in einem Erlebnispark. Und aus dem Kinderspiel haben sie gleich eine eigene Fachrichtung gemacht, die „Spielpädagogik“. (Deren Motto lautet ganz ernsthaft: „Spielen will gelernt sein“!)

Drittens: Mit dem Rückzug der selbstorganisierten Kindergruppen ist auch die körperliche Gesundheit der Kinder unter Druck geraten. Kinder, die frei spielen dürfen, laufen körperlich auf Hochtouren, und sie wachsen dadurch in ihren Körper regelrecht hinein – ein Kapital fürs ganze Leben (Ein schwedischer Pädagoge hat eine Botschaft an alle überfürsorglichen Eltern).

Der Beitrag ist ein Auszug aus dem Buch „Menschenkinder“ von Herbert Renz-Polster.

Literatur:

Jedes Kind ist hoch begabt: Die angeborenen Talente unserer Kinder und was wir aus ihnen machen von Gerald Hüther

Kinder! Kinder!. Wonach sich Kinderseelen sehnen von Robert T. Betz

Kinder verstehen. Born to be wild: Wie die Evolution unsere Kinder prägt. Mit einem Vorwort von Remo Largo von Herbert Renz-Polster

Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen von Manfred Spitzer

Quellen: PublicDomain/huffingtonpost.com am 16.11.2016

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