An der Nordseeküste ereignet sich ein regelrechtes Massensterben von Pottwalen: Innerhalb weniger Tage sind mindestens zwölf Tiere verendet. In der Außenweser vor Bremerhaven sind am Mittwochabend zwei tote Pottwale gesichtet worden. Die Kadaver liegen im Watt rund zehn Kilometer vor der Küste.
Fünf weitere Tiere starben nach einem stundenlangen Todeskampf in der Nacht zum Mittwoch an der Küste der niederländischen Wattenmeer-Insel Texel. Drei Pottwale kamen an der Küste Schleswig-Holsteins ums Leben, bereits am Freitag waren zwei Wale auf der ostfriesischen Insel Wangerooge gestrandet. Laut dem Wittmunder Walexperten Jan Herrmann ist es das bisher größte Walsterben vor den Küsten Deutschlands (Foto: Ein Polizist steht am Strand von Texel neben einem gestrandeten Tier)
„Keine außergewöhnliche Situation“
Walexperte Jan Herrmann aus Wittmund sieht das Massensterben seltsamerweise gelassen und warnte vor Panikmache: „Historisch gesehen ist das keine außergewöhnliche Situation.“ Eine besonders große Ansammlung von gestrandeten Pottwalen hatte es zuletzt im März 1996 gegeben. Damals wurden insgesamt 16 Tiere vor Dänemark angespült. Mitte der 1990er-Jahre waren innerhalb weniger Jahre mehr als 50 Pottwale an europäischen Nordseeküsten gestrandet – betroffen waren hier vor allem die dänischen Küsten.
Jungbullen häufig in Gruppen unterwegs
Halbwüchsige Pottwal-Männchen sind laut Herrmann meistens in Gruppen unterwegs, wenn sie aus dem Norden Richtung Äquator aufbrechen. Während die älteren Tiere sehr zielstrebig und allein oder in kleineren Verbünden Richtung Äquator schwimmen, um sich dort zu paaren, haben die Jungbullen Herrmann zufolge mehr Zeit. Man gehe davon aus, dass die Tiere die Gegend erkunden und manche gar nicht bis zum Äquator schwimmen. Dabei könne es durchaus vorkommen, dass sie die falsche Abbiegung Richtung Nordsee nehmen, so Herrmann.
Tiere verhungern in der Nordsee
Doch die Nordsee ist für Pottwale offenbar eine Todesfalle. Das zumindest haben die Untersuchungen von Walen ergeben, die sich in der Vergangenheit in der Nordsee verirrt haben. In ihren Mägen fanden sich nur noch Reste von Tintenfischen, allerdings keine Nahrungsreste aus der Nordsee (Chemiewaffen: Giftiges Erbe in Nord- und Ostsee).
Video:
Bergung auf Wangerooge beginnt
Die beiden toten Wale auf Wangerooge sind inzwischen für den Transport vorbereitet. Am Donnerstag sollen die Tiere mithilfe eines Baggers in eine bessere Position gebracht werden. Die Bergung ist für die Nacht von Freitag auf Sonnabend geplant. Mit der Tide sollen die Wale von einem Schiff aus vom Wangerooger Strand gezogen und dann in die Nähe des JadeWeserPorts gebracht werden. Dort können Fachleute die Tiere anschließend zerteilen. Die beiden toten Wale in der Außenweser sollen nach Angaben des niedersächsischen Wasser- und Schifffahrtsamtes (WSA) zunächst nicht geborgen werden. Die Schifffahrt sei bislang nicht gefährdet.
Aus der Luft wird nach weiteren Walen gesucht
Am Freitag soll es über der Nordsee Walbeobachtungen aus der Luft geben. Das Niedersächsische Umweltministerium will damit feststellen, ob noch weitere Wale an der Nordsee stranden könnten. Mit den jüngsten Funden sind nach Angaben des schleswig-holsteinischen Landesbetriebs für Küstenschutz, Nationalpark und Meeresschutz (LKN) seit 1990 insgesamt 80 Pottwale an den Küsten Dänemarks, Deutschlands und der Niederlande gefunden worden.
(Fundorte von gestrandeten Walen)
Kadaver auf Helgoland werden abtransportiert
In Schleswig-Holstein entdeckten Mitarbeiter des WSA Tönning nach zwei Funden bei Helgoland am Mittwoch ein weiteres totes Tier. Es befand sich auf einer Sandbank vor der zum Landkreis Dithmarschen gehörenden Vogelinsel Trischen. Am Mittwoch wurde dann ein Jungbulle aus der offenen See vor Helgoland zum Hafen Holmer Siel auf Nordstrand im Kreis Nordfriesland transportiert.
Mit Seilen und einem Kran hievten Mitarbeiter des WSA den mehrere Tonnen schweren Kadaver an Bord des Mehrzweckschiffes „Neuwerk“. In Küstennähe übergaben sie ihn an die Crew des Schleppers „Odin“. Dieses wesentlich kleinere Schiff des Landesbetriebs für Küstenschutz, Nationalpark und Meeresschutz zog den Wal an der Schwanzflosse, der Fluke, zum Hafen Holmer Siel. Der zweite vor Helgoland treibende Wal soll am Donnerstag folgen, ebenso wie das vor Trischen entdeckte Tier. Die Tierärztliche Hochschule Hannover schickt nun Experten nach Nordstrand, um die Tiere dort zu untersuchen.
Video:
https://www.youtube.com/watch?v=ke3yZ3BmzB4
Dramatischer Todeskampf der Giganten
Auf Texel begannen Experten sofort mit der Untersuchung der Kadaver. Eine Rettungsaktion war zuvor gescheitert. Augenzeugen berichteten von einem quälenden Todeskampf der Giganten. „Sie drehten sich hin und her und lagen auf der Seite“, sagte ein Fischer im niederländischen Fernsehen.
Ölindustrie erzeugt durch Schallkanonen Höllenlärm
Wale nutzen Schall, um zu navigieren, zu kommunizieren, auf Angreifer zu reagieren und Nahrung zu suchen. In der Umgebung seismischer Untersuchungen allerdings könnten Wale zeitweise ihr Gehör verlieren, so ein Forschungsbericht. Das Gehör eines Beluga-Wals sei demnach zeitweise beeinträchtigt, wenn er nur einen Kilometer von einer üblichen Schallsondierungsoperation entfernt ist.
Wale müssten Gebiete mit seismischen Untersuchungen großräumig meiden. Damit fielen eventuell die gewohnten Wanderrouten oder auch Futterplätze der Wale weg. Weniger Nahrung und weniger Kommunikation könnte zudem weniger Nachwuchs bedeuten.
Offshore-Bohrungen an der US-Ostküste – sind ein„Todesszenario“ für tausende Wale und Delfine. Seismische Luftgewehre verwenden massive Druckluftstöße, um unterirdische Lagerstätten mit Kohlenwasserstoffen zu kartographieren. Laut der „Advocacy group Oceana“ sind die Explosionen 100 000 Mal stärker als in einem Düsentriebwerk.
Die dabei erzeugten Geräusche können für Meeressäuger tödlich sein, Gehörverlust verursachen, und dafür verantwortlich sein, dass Meeressäuger stranden. Naturschützer sind besonders besorgt wegen der vom Aussterben bedrohten Nordatlantischen Glattwale, die zwei Mal im Jahr an der Ostküste vorbeiziehen und von denen es nur noch ungefähr 500 gibt (Schallkanonen vs. Mönchsrobben und Wale: Geophysiker und Naturschützer im Konflikt).
Jahrhundertelang hat die Menschheit die Giganten der Meere gnadenlos verfolgt – heute sind die meisten Walarten vom Aussterben bedroht.
Lesen Sie hier bei den Netzfrauen weiter, u.a.: Tod von Lulu, eines der letzten Killerwale in den britischen Gewässern / Rätselhaftes Walsterben an der Pazifikküste / Vorbildlich Chile.
Literatur:
Menschenzeit: Zerstören oder gestalten? Wie wir heute die Welt von morgen erschaffen von Christian Schwägerl
Kritik des Anthropozäns: Plädoyer für eine neue Humanökologie von Jürgen Manemann
Das sechste Sterben: Wie der Mensch Naturgeschichte schreibt von Elizabeth Kolbert
Öldämmerung: Deepwater Horizon und das Ende des Ölzeitalters von Jörg Schindler
Quellen: PublicDomain/ndr.de/netzfrauen.org am 14.01.2016
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