Kintopp, Aberglaube, Wehrertüchtigung.
»Es ist ein häßlicher Ort, landschaftlich ganz hübsch gelegen; im Sommer, zur Zeit der großen Pilgerzüge stets überfüllt; sein Hauptpunkt ist eine moderne, architektonisch schlechte Kirche, davor ein riesiger, langgestreckter Platz, darum herum viele Krankenhäuser für die Kranken, die dorthin kommen, um in den Quellen, die neben der Wundergrotte in einem Felsen sprudeln, Heilung zu suchen.« Was hier als »häßlicher Ort« bezeichnet wird, ist der Wallfahrtsort Lourdes, am Fuß der Pyrenäen in Frankreich gelegen, den Kurt Tucholsky 1924 besucht hatte und den Lesern der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung 1929 als Ort mit »Kintopp, Glaube oder Kurpfuscherei« vorstellte.
Zuvor schon hatte er eine Langfassung davon mit vier Kapiteln in sein »Pyrenäenbuch« aufgenommen.
Tucholskys Fazit nach seinem Besuch: Lourdes ist »ein Rummelplatz des buntesten Aberglaubens«.
Begonnen hatte der Aberglaube und der anschwellende Rummel in Lourdes im Jahre 1858, als die 14jährige Bernadette Soubirous in einer nahegelegenen Grotte 18 Erscheinungen einer »schönen weißen Dame« gehabt haben will, die sich auf Bernadettes Frage, wer sie sei, mit den Worten »Ich bin die Unbefleckte Empfängnis« zu erkennen gegeben und sie dazu noch aufgefordert habe, eine wundertätige Quelle freizulegen, aus der »Heilwasser« sprudeln werde. Die zuständigen Kirchenbehörden, die informiert wurden, erkannten schnell, daß sich aus diesen halluzinatorischen Vorgängen ein gewinnbringender Wirtschaftsfaktor für den armen Ort und die Kirche machen ließe.
Schon vier Jahre später wurde die »Echtheit« der Erscheinungen vom zuständigen Bischof anerkannt und bald auch vom Papst bestätigt. Und so wuchs und wuchs der Pilgertourismus zur schnell angefertigten Statue der Madonna in der Grotte und zu dem »Wunderwasser«, das heute noch in einer Badeanstalt aufgefangen wird (Tucholsky: »unappetitliche, fettige Brühe«) und an etwa 20 Zapfstellen in Flaschen abgefüllt werden kann – die »Klassiker von Lourdes«. Schon 1873 kamen 140.000 Pilger, 1908 waren es eine halbe Millionen, 1924 eine Millionen Menschen. Heute hat Lourdes mit jährlich fünf Millionen Übernachtungen nach Paris die meisten Übernachtungen in Frankreich – bei gerade einmal 14.500 Einwohnern.
Lourdes wurde mit Bernadette nach 1871, als Frankreich von Preußen-Deutschland besiegt worden war, zum »Symbol des nationalen Frankreich«; Bernadette wurde der anderen »heiligen« Jungfrau, der Jeanne d‚Arc, an die Seite gestellt. Auch wenn das »wundertätige« Wasser immer weniger »Heilungen« hervorbrachte, die Lourdes-Wallfahrten nahmen zu. Inzwischen ist das Mißtrauen der Wissenschaft gegen die Wunderheilungen so stark gewachsen, daß »Wunder« offiziell kaum noch gemeldet werden; dennoch werden immer noch zahlreiche Kranke herangekarrt – es könnte mit der Heilung ja doch noch mal klappen. Echter Aberglaube ist im Kern unerschütterlich.
Zielgruppen der heutigen Lourdes-Vermarktung der Kirche sind: Lehrer, Priester, Rinder– und Pferdehirten, Kriegsveteranen aus Nordafrika, Malteser, vor allem aber Soldaten und immer wieder Soldaten, inzwischen aus 30 Nationen, wie ein aktueller Lourdes-Reiseführer zu berichten weiß. Der Auftakt für die »Soldatenwallfahrten« reicht in das Jahr 1914 zurück, als französische Husaren in einem Abschiedsgottesdienst in Lourdes in den Krieg getrieben wurden – zur gleichen Zeit, als auch die deutschen Soldaten mit dem Segen der Kirche loszogen. Als kurze Zeit später der »Soldat Paul Colin« verwundet wurde und angeblich nur durch das Wasser aus der Grotte von Lourdes am Leben blieb, war der Mythos vom Segen Lourdes für die Soldaten geboren. Tucholsky: »Die christliche Kirche treibt nicht nur die Gläubigen in die Gräben und segnet die Maschinen, die zum Mord bestimmt sind – sie heilt auch die Wunden, die der Mord geschlagen hat, und ist allemal dabei.«
Nach zwei Kriegen gegen Frankreich sind seit 1958 auch deutsche Soldaten in Lourdes bei den »Soldatenwallfahrten« dabei, bisher mit über 100.000 Teilnehmern. Sie werden Jahr für Jahr im Mai in Sonderzügen für einige Tage nach Lourdes gebracht. Dafür wird Sonderurlaub genehmigt. Die Wallfahrten »stellen eine besondere Form des pastoralen Dienstes der katholischen Militärseelsorge dar«, sie liegen »im besonderen Interesse der Bundeswehr«, vor allem die Teilnahme jener Soldaten, »die mit ihrem Einsatz in der Welt den Frieden sichern wollen«, [sic!] betonte der Staatssekretär Stéphane Beemelmans, der zweimal nach Lourdes mitreiste, in einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) vom 14.05.2012 (»Kameradschaft in Lourdes erfahren«).
Deshalb kam 2007 eine Zentrale Dienstanweisung (A-2550/1) heraus, in der auf 14 Seiten alle Einzelheiten zur »Internationalen Soldatenwallfahrt nach Lourdes« geregelt werden. Danach sind die Teilnehmer verpflichtet, »während der gesamten Dauer der Wallfahrt Uniform zu tragen«. Sie können mit Eigenanteil im Zeltlager (für 200 Euro) oder in einem Hotel bis zu 600 Euro übernachten, wobei zur Übernachtung im Zeltlager »Bord– und Gefechtsanzug« erforderlich sind. Für kranke Soldaten wird »ein Lufttransport bereitgestellt«. Der »Eigenanteil« kann durch »Ermäßigungen« auf 0 Euro reduziert werden – Sonderurlaub zum Nulltarif auf Kosten aller Steuerzahler. Dafür gibt’s allerdings vier Tage lang rund um die Uhr »Heilige Messen« mit einer »Lichterprozession« zum Ausklang, wie die »Einladung« der katholischen Militärseelsorge zur 57. Internationalen Soldatenwallfahrt nach Lourdes 2015 ankündigt (Die Kirche – immer in kriegerischer Mission).
Die Prozession erinnert an die Kintopp–Bilder jener Fackelträger, die im ausgehenden Mittelalter die »Ungläubigen« zum Scheiterhaufen der Autodafés geleiteten – und bei manchen mögen auch jene Vorgänge ihre Auferstehung finden –, bei denen im nahegelegenen »Katharerland«, in Béziers, auf Veranlassung des Papstes 7000 Mitchristen als »Ketzer« verbrannt und weitere 13.000 niedergemetzelt wurden, an einem Tag im Juli 1209.
Einen Höhepunkt für die »Soldatenwallfahrten« brachte das Jahr 2008. Damals nahm der damalige deutsche Verteidigungsminister Franz Josef Jung an der Wallfahrt teil, hatte doch der deutsche Papst Benedikt XVI. persönlich ein »Vatikanisches Dekret zur Gewährung eines vollkommenen Ablasses anläßlich des 150. Jahrestages der Erscheinungen der seligen Jungfrau Maria in Lourdes« herausgebracht (Vatikan AG: Scheinheilige Geschäfte (Video)).
Kraft dieses Dekrets konnte »jeder einzelne Gläubige« durch einen Besuch der »vier Bernadette-Gedenkorte in Lourdes … in innerer Sammlung und mit Gebeten … täglich den Ablaß erlangen« – für jeden Soldaten angesichts seines mörderischen Handwerks höchst erstrebenswert! Und es konnte zusätzlich ein Ablaß erlangt werden, »der auch den armen Seelen im Fegefeuer gewidmet werden kann«. Boni sind nicht nur bei Bankern beliebt.
Der »bunteste Aberglaube«, von dem Tucholsky einst sprach, scheint seit 1924 nicht weniger geworden zu sein.
„Man kann auch zum Kopf einer Sardelle beten, es kommt nur auf den Glauben an.“
Japanisches Sprichwort
Literatur:
Verbrechen im Namen Christi von Gert von Paczensky
Vatikan AG: Ein Geheimarchiv enthüllt die Wahrheit über die Finanz- und Politskandale der Kirche von Gianluigi Nuzzi
Zen, Nationalismus und Krieg. Eine unheimliche Allianz von Brian (Daizen) A. Victoria
Cliquenwirtschaft: Die Macht der Netzwerke: Goldman Sachs, Kirche, Google, Mafia & Co. von Gisela Schmalz
Quellen: PublicDomain/linkezeitung.de vom 27.09.2015
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