Zwei Kategorien von Eltern machen mir Sorgen: Die einen sind diejenigen, die sich überhaupt nicht um ihre Kinder kümmern. Die anderen sind diejenigen, die sich um alles kümmern.
Ich schätze mal, dass beide Gruppen – bei erheblichen regionalen Unterschieden – jeweils zehn bis fünfzehn Prozent der Elternschaft ausmachen. Im Umkehrschluss heißt das freilich: Die große Mehrheit der Eltern erzieht bodenständig und verantwortungsbewusst.
Gewiss sind die an Erziehung völlig desinteressierten Eltern die gewichtigere Sorgenklientel. In wachsender Stärke macht aber eine Gruppe Sorgen, die das Gegenstück darstellt: Eltern, die entschlossen sind, alles und noch mehr für ihr Kind zu tun.
Das sind Eltern, die sich über die Zahl der Vokabeln, über die Sitzordnung in der Klasse, über das Gewicht des Schulranzens, über den fehlenden Wasserspender im Klassenzimmer beschweren.
Das sind Mütter, die sich nicht vorstellen können, dass ihre Töchter im Französischen eine Fünf eingefahren haben. Das ist der Vater, der es nicht akzeptieren will, dass sein verhaltensauffälliger Sohn in der Schule gerügt wurde, und schriftlich ausführt, dass die Schule doch kreative Menschen und keine Duckmäuser heranziehen solle.
Und nicht zuletzt sind es manch trickreiche Eltern, die ständig auf der Jagd nach Gutachten sind, in denen ihrem Kind ADS, ADHS, Legasthenie, Dyskalkulie oder unentdeckte Hochbegabung attestiert wird.
Eltern als Transport-, Rettungs- und Kampfhubschrauber
Solche Beispiele veranschaulichen das aus den USA kommende Bild von den Helikoptereltern – von Eltern, die ständig wie Beobachtungsdrohnen über den Kindern schweben und sie an der elektronischen Nabelschnur des Mobiltelefons durchs Leben geleiten.
Oder um im Bild zu bleiben: Es sind dies Transport-Hubschrauber von Eltern (Marke „Taxi Mama“), Rettungs-Hubschrauber von Eltern und Kampf-Hubschrauber von Eltern (in den USA „black-hawk-parents“ genannt).
Die andere Seite der Helikopter-Erziehung ist ein um sich greifender Förderwahn. Dieser Wahn geht oft einher mit Visionen von einem maßgeschneiderten Premium-Kind.
Das kommerzielle Angebot schafft die entsprechende Nachfrage und die Ratgeberindustrie boomt. Dabei ist letztere oft das Problem, als dessen Lösung sie sich ausgibt.
Und so prasseln auf Eltern Angebote über Angebote herunter: Little-giants-Kindergärten; „Babytuning“ für die VIBs (Very Important Babies); „FasTracKids“ (fast track = Überholspur); Frühenglisch für Kinder im Buggy; Portfolios und Potenzialanalysen für Dreijährige. Peter Sloterdijks boshafter Begriff der „Fötagogik“ liegt gar nicht zu weit daneben.
Ist wirklich jedes Kind hochbegabt?
Eine unrühmliche Rolle inmitten dieser Förderwahns spielen gewisse Vertreter der Hirnforschung. Hier gibt es nämlich solche und solche: Kategorie eins sind die seriösen und streng wissenschaftlichen. Zu ihnen gehören in Deutschland zum Beispiel Gerhard Roth und Wolf Singer.
Diese renommierten Fachleute wissen, dass die Hirnforschung weit davon entfernt ist, die Pädagogik zu revolutionieren.
Zur anderen Kategorie von Hirnforschern gehört etwa ein Gerald Hüther, den viele schlechthin für den „Bildungsguru“ (DIE ZEIT vom 8. September 2013) halten. Hüther trägt den Titel „außerplanmäßiger Professor“ der Universität Göttingen.
Wissenschaftlich ausgewiesen ist der Mann kaum, wenn man einmal davon absieht, dass er bis 2006 vor allem anhand von Versuchen mit Ratten die Wirkung des Botenstoffes Serotonin untersuchte.
Seriöse Hirnforscher rümpfen dezent die Nase, hat sich der Herr Professor doch unter anderem mit Aufsätzen profiliert, die den Titel „Zitronen pflanzen statt Zitronen ausquetschen“ tragen und in der „Gralswelt“ erscheinen.
Und auch so manch reformgläubiger Lehrer wird die Nase rümpfen, denn was Hüther unter dem Motto „Schule im Aufbruch“ über Schule zum Besten gibt, sind Zerrbilder über Zerrbilder. Bei so manchen Eltern freilich kommt er gut an.
Welche Eltern lassen sich nicht gern sagen, dass ihr Kind hochbegabt sei? Hüther hat daraus ein Buch gemacht. Es trägt den Titel „Jedes Kind ist hochbegabt“.
Die „Neuro“-Heilsbotschaften, mithilfe der Hirnforschung ein Bildungssystem zu ungeahnten Höhen führen zu können, sind jedenfalls Aber- und Wunderglaube zugleich.
Die Lernforscherin Elsbeth Stern, eine der renommiertesten Lernforscherinnen im deutschsprachigen Raum, vergleicht die größenwahnsinnig angehauchten schulpädagogischen Schlussfolgerungen unseriöser Hirnforscher mit dem Plan, mittels einer physiologischen Beschreibung von Hunger die Unterernährung in der Welt bekämpfen zu wollen.
Man kann Kleinkindern jedenfalls noch so viel „neuro“-mäßig programmiertes Vorschullernen vorsetzen, es hat keinen Zweck. Ein normales anregendes Elternhaus reicht. Oder einfacher:
„Sperren Sie Ihr Kind nicht in den Schrank, lassen Sie es nicht verhungern und schlagen Sie ihm nicht mit der Bratpfanne auf den Kopf.“ So hat der US-Neurowissenschaftler Steve Petersen die unstrittigen Erkenntnisse der pädagogisch relevanten Neuroforschung zusammengefasst.
Der Abitur-Vollkasko-Wahn
So manche Politik ist nicht unschuldig an einer solchen Psychodynamik, indem sie die Bildungsdebatte unter Einflüsterung einer OECD zu einer Abiturvollkasko-Propaganda verkommen hat lassen und suggeriert, unterhalb eines Masterabschlusses „geht“ heute nichts mehr.
Zugleich verwöhnen die Schulen mit guten Noten und niedrigen Quoten an Sitzenbleibern, in manchen deutschen Ländern gar mit der Abschaffung des Sitzenbleibens und der Noten.
Es gibt zum Beispiel immer mehr 1.0-Abiturzeugnisse. In NRW etwa hat sich die Zahl der 1,0-Abiturienten von 455 im Jahr 2007 auf exakt 1.000 im Jahr 2011 mehr als verdoppelt.
Die Hochschulen setzen eine solche Kuschelpolitik fort. Laut Wissenschaftsrat war der Anteil der Hochschulabschlüsse (ohne Staatsexamina) mit den Noten 1 und 2 von 2000 bis 2011 von 67.8 auf 76.7 Prozent gestiegen.
Was sind die Folgen einer solchen Erziehung? Solchermaßen erzogene Kinder können keine Eigeninitiative und Eigenverantwortung entwickeln, weil sie Hilflosigkeit gepaart mit hohen Ansprüchen erlernt haben.
Solche Kinder werden nie mündig, weil es immer jemanden gibt, der für sie alles regelt. Solchen Kindern wird es später an Unternehmergeist fehlen.
Erziehen braucht Humor
Was ist dagegenzusetzen? Erziehung braucht bei aller Ernsthaftigkeit schlicht und einfach Leichtigkeit und Humor.
Vor allem könnte der Mensch durch seine Fähigkeit zum Humor ein gütiges, zugleich lebensbejahendes Hinsehen auf die Unvollkommenheit der Welt, seiner selbst und seiner Zöglinge leben und erleben.
Humor hat zu tun mit Souveränität, Selbstironie und Distanz zu sich selbst. Humor gerade in der Erziehung hat mit Liebe, mit Wohlwollen, mit Wärme, mit Güte, mit Wertschätzung des Zöglings zu tun.
Das baut Stress und Ängste ab, ist Ausdruck von Kreativität, erhöht die Frustrationstoleranz, relativiert Probleme, signalisiert Friedfertigkeit und macht beliebt. Manche sagen auch: Humor ist eine sehr gutes Mittel der Kontingenzbewältigung, also des Umgangs mit Unwägbarkeiten.
Jedenfalls erreicht man mit Humor in Elternhaus und Schule oft mehr als mit bierernster Erziehungsdebatte oder mit rezeptologischem Förderwahn.
Überbehütete Kinder: Warum „Helikopter-Eltern“ vieles kaputt machen!
Bei meinen Kindern in der Grundschule hängt ein Plakat; direkt hinter der Eingangstür. „Ab hier gehe ich allein.“ Ein sicheres Zeichen, dass Helikopter-Eltern auch hier die Macht übernommen haben. Und dass sie alle nerven – Lehrer, andere Eltern, die eigenen Kinder. Denn was bitte soll man von Eltern halten, die schon in der zweiten Klasse sicher gehen wollen, dass Sohn oder Tochter auf jeden Fall fit fürs Gymnasium sind? Die am liebsten schon jetzt das Studienfach für ihre Kinder aussuchen würden – „Medizin oder Jura – das wäre doch was für dich!“ – und die anschließend im Job noch das Gehalt für ihre Kinder aushandeln. Das Alles unter dem Motto „Ich will doch nur das Beste für mein Kind!“.
Ja klar, das will ich auch – und genau deshalb halte ich mich an dieses Plakat an der Eingangstür und lasse meine Kinder alleine ins Klassenzimmer gehen. Wie soll ein Kind denn selbstständig werden, wenn Mama und Papa ihm alles abnehmen, wenn es keine eigenen Erfahrungen machen darf? Und zu diesen wichtigen Lebenserfahrungen gehört es manchmal eben auch, auf die Schnauze zu fallen. Haben wir uns nicht alle, als wir klein waren, beim Roller- oder Radfahren mal das Knie aufgeschürft? Und damit dauerhaft gelernt, doch etwas langsamer um die Kurve zu fahren?
Es gibt einen Riesen-Unterschied zwischen Lernen und Erfahren. Heutige Kinder, die doppelt und dreifach in Watte gepackt werden, sollen ausschließlich lernen. Gerne höhere Mathematik, Chinesisch in der Grundschule oder womit man sonst noch so im Freundeskreis angeben kann. Aber die Kinder selbst Erfahrungen machen zu lassen; und dazu gehört manchmal eben auch das Scheitern – das ist im Repertoire der Helikopter-Eltern gar nicht mehr vorgesehen.
Nicht dass wir uns falsch verstehen: Es geht nicht darum, dass die Kinder schlechte Erfahren machen müssen – ich stelle meinen Kindern ja kein Beinchen oder schubse sie vom Fahrrad. Nein, es geht darum, dass Kinder sich einfach mal ausprobieren dürfen. Und dass man dabei eben auch in Kauf nimmt, dass etwas schief gehen kann, dass es Schrammen, Beulen und vielleicht sogar mal einen rausgebrochenen Zahn gibt. Oder eine nicht ganz kerzengerade Biographie.
Manchmal wünsche ich mir, dass den Helikopter-Eltern nach und nach der Sprit ausgeht, einem nach dem anderen. Und dass damit ihre Kinder die Gelegenheit bekommen, endlich selbst fliegen zu lernen.
Literatur:
Kinder! Kinder!. Wonach sich Kinderseelen sehnen von Robert T. Betz
Gib deinen Kindern Flügel: Liebevolle Weisheiten für Eltern von Khalil Gibran
Generation Ego: Die Werte der Jugend im 21. Jahrhundert von Bernhard Heinzlmaier
Unsere Kinder: Spiegel, Lehrer und Führer – Vortrag Doppel-CD: Wie wir Kinder besser verstehen und ihnen gute Wegbegleiter sein können von Robert Theodor Betz
Quellen: huffingtonpost.de/wdr4.de vom 15.09.2015
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