Ralf Eschelbach, Richter am Bundesgerichtshof, schätzt, dass jedes vierte Strafurteil ein Fehlurteil sei.
Die größte Fehlerquelle sind Irrtümer von Zeugen bei der Identifizierung Verdächtiger. Auch Falschgeständnisse kommen häufiger vor als angenommen.
Oft werden zur Lösung eines Falls auch Profiler eingesetzt, die eine Tat-Hypothese eintwickeln. Hier besteht die Gefahr, dass Indizien so zusammengefügt werden, dass sie ins Bild passen.
Problematisch ist auch, dass ein Richter nach Prüfung der Ermittlungsakten das Hauptverfahren nur eröffnet, wenn eine Verurteilung „hinreichend wahrscheinlich“ ist. Dadurch aber sinkt die Wahrscheinlichkeit eines Freispruchs.
Als sie die Leiche aus der Donau zogen, damals, im März 2009, konnten sie keine Anzeichen für einen gewaltsamen Tod feststellen. Das war insofern erstaunlich, als das Landgericht Ingolstadt rechtskräftig festgestellt hatte, wie der Landwirt Rudolf Rupp zu Tode gekommen sei: von Angehörigen erschlagen, zerstückelt, an die Hofhunde verfüttert. Es gab Geständnisse, aber nun gab es eine Leiche, die es nach den Erkenntnissen der Justiz nicht geben sollte. Das Urteil war falsch, die Angeklagten wurden seither freigesprochen.
Der haarsträubende Fall des Bauern Rupp findet sich in fast jeder Aufstellung spektakulärer Fehlurteile. Jedes dieser Urteile versetzt dem Vertrauen in die Justiz einen Tiefschlag, auch, weil der Mensch kaum je einer institutionellen Macht so ausgeliefert ist wie auf der Anklagebank, wenn man vom Operationstisch einmal absieht. Es lassen sich lange Listen aufstellen.
Der Fall Peggy: Der vermeintliche Mörder hatte ein Geständnis abgelegt, das sich im Wiederaufnahmeprozess als falsch erwies. Offenbar hatte der geistig behinderte Angeklagte den suggestiven Fragen der Ermittler nachgegeben. Oder Michael M.: Zwölf Jahre eingesperrt wegen Mordes an seiner Hauswirtin, Freispruch 1996 – ein Serienmörder hatte die Tat gestanden. Oder, neun Jahre davor: Holger G., als Kindsmörder 16 Jahre in Haft, wird rehabilitiert; er war zur Tatzeit beim Zahnarzt.
Das Problem ist: Solche Listen besagen zunächst einmal nur, dass Fehler geschehen sind. Fehler mit gravierenden Folgen, gewiss – aber die interessantere Frage ist: Sind das schlimme, aber unvermeidbare Ausreißer im Massengeschäft der Justiz? Oder steckt der Mangel im System?
Der Zeuge ist das maximale Risiko für die Wahrheit
Jedes vierte Strafurteil sei ein Fehlurteil, schätzt Ralf Eschelbach, Richter am Bundesgerichtshof. Das wäre ein horrender Befund, doch einen handfesten Beleg für die Zahl gibt es nicht. Aber schon die statistische Lücke ist ein kleiner Skandal. 2013 wurden 1682 Wiederaufnahmeverfahren beantragt. Die Erfolgsquote wäre ein Indikator für die Fehleranfälligkeit der Justiz – doch es gibt keine Zahlen.
Die größte Fehlerquelle sind Irrtümer von Zeugen bei der Identifizierung Verdächtiger, sie machen 72 Prozent der Fehlurteile aus. Das behauptet das amerikanische „Innocence Project“, das Verurteilungen anhand nachträglicher DNA-Analysen falsifiziert hat. Aber auch ohne Statistik weiß jeder Praktiker: Der Zeuge ist das maximale Risiko für die Wahrheit. Die Erinnerung ist verblasst oder überlagert von anderen Erlebnissen, beeinflusst durch Presseberichte, verzerrt durch Vorurteile. Diese Erkenntnis hat den Siegeszug der Kriminaltechnik begünstigt.
Aber auch Falschgeständnisse kommen häufiger vor, als man annehmen möchte. Die wegweisende Studie „Fehlerquellen im Strafprozess“ von Karl Peters aus dem Jahr 1970 sieht dort die Ursache für sieben Prozent der Fehlurteile; das „Innocence Project“ geht sogar von 27 Prozent aus. Mag sein, dass dies dem anders strukturierten US-Rechtssystem geschuldet ist, noch interessanter ist indes Folgendes: Laut „Innocence Project“ steigt bei „Kapitaldelikten“ wie Mord und Totschlag der Anteil der Falschgeständnisse auf 64 Prozent.
Das deutet auf ein grundlegendes Problem hin, wie die Rechtsprofessorin Petra Velten aus Linz kürzlich bei einer Strafrechtstagung erläutert hat. In diesen Fällen würden in den USA oft Profiler eingesetzt, die eine Tat-Hypothese entwickelten – eine Hypothese, die in den Vernehmungen dann „hereingefragt“ werde. Man glaubt zu wissen, wie es war. Und fragt so lange, bis man die Bestätigung hat. Auch im Fall Peggy hatte ein Profiler eine Tatversion formuliert.
Oft werden Indizien so zusammengefügt, dass sie ins Bild passen
Nun gibt es viele skrupulöse Richter und gewissenhafte Staatsanwälte, denen sehr wohl bewusst ist, dass der Zweifel die Maxime des Strafprozesses ist. Doch wenn sie die Akte auf den Tisch bekommen, kann der Fall längst auf dem falschen Gleis sein. Die größten Fehler, so lautet das Fazit aller Untersuchungen, werden im Ermittlungsverfahren begangen. Formal hat dort zwar ein Staatsanwalt das Sagen, faktisch aber liegt die Arbeit in den Händen von Polizisten. Und Polizisten sind keine Zweifler. „Polizisten sind Jäger“, sagt der Strafverteidiger Christof Püschel.
Die Beamten sind die ersten, die sich ein Bild vom Tatort machen, die Zeugen und Verdächtige befragen. Sobald sie sich auf eine Version des Geschehens festgelegt haben, kommt ein Mechanismus in Gang, der verhängnisvoll sein kann. Indizien werden so zusammengefügt, dass sie ins Bild passen. Fragen werden so formuliert, dass sie die gewünschte Antwort nahelegen. Das funktioniert ohne bösen Willen, Psychologen nennen das den „Confirmation Bias“:
Man sucht nach Bestätigungen, nicht nach Widerlegungen. Und der „Confirmation Bias“ sickert in die Akten ein – zum Beispiel über die Vernehmungsprotokolle, in denen die Aussagen ziemlich freihändig zusammengefasst werden. Die Befragten referieren dort scheinbar ausführliche Beobachtungen, auch wenn sie auf eine lange, suggestive Frage des Beamten vielleicht nur eines gesagt habe: Ja, so war’s.
Wie entscheidend aber der genaue Wortlaut einer Frage für die Bewertung der Antwort ist, weiß man spätestens seit 1974. US-Wissenschaftler zeigten das Video eines Autounfalls und stellten verschiedenen Gruppen eine Frage in mehreren Variationen: Wie schnell fuhren die Autos, als sie sich berührten, aufeinandertrafen, zusammenstießen, kollidierten, ineinanderkrachten. Die Geschwindigkeit stieg, je dramatischer das Verb war – von knapp 32 auf mehr als 40 Meilen. Auch die Zahl derer nahm zu, die Glassplitter gesehen haben wollten. Im Video kamen sie nicht vor.
Menschen stellen getroffene Entscheidungen ungern in Frage
Dies alles könnte in der Hauptverhandlung korrigiert werden. Allerdings lauert auch dort eine psychologische Falle. Die Richter haben die Akten gelesen und das Hauptverfahren eröffnet – also eine Vorentscheidung getroffen, wonach eine Verurteilung „hinreichend wahrscheinlich“ sei. Menschen stellen indes einmal getroffene Entscheidungen ungern in Frage, das lehrt die Theorie der „kognitiven Dissonanz“: „Dissonante“, also der Anklage widersprechende Informationen haben eine wesentlich geringere Chance auf Gehör als solche, welche die Anklage stützen.
Nötig wäre eine – in der Justiz in Wahrheit nicht sonderlich ausgeprägte – Kultur des Zweifels, damit nicht ein Konglomerat aus Akten und Vorfestlegungen geradewegs zu einer Verurteilung führt. Zudem gibt es eine Reihe von Korrekturvorschlägen wie etwa Videoaufzeichnung der Verhöre, Verfahrenseröffnung durch ein separates Gremium, niedrige Hürden für die Wiederaufnahme. Zentral für die Fehlerkorrektur ist aber die Rolle des Anwalts: „Der Verteidiger ist die Inkarnation der Alternativhypothese“, sagt Christof Püschel.
Jedenfalls, wenn er seinen Job gut macht. Das ist ja auch keineswegs immer gesagt, wie das Deal-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2013 zeigte. Dem Urteil, das Absprachen im Strafprozess grundsätzlich zugelassen hat, ging ein ausgerechnet vom Verteidiger eingefädelter Deal voraus, der einen zu Unrecht des Zigarettenschmuggels bezichtigten Polizisten beinahe die Existenz gekostet hätte. Karlsruhe konnte das gerade noch verhindern.
Der Fall Harry Wörz
Gut viereinhalb Jahre saß Harry Wörz unschuldig im Gefängnis, verurteilt wegen versuchten Totschlags an seiner Ex-Frau. Zwölf Jahre kämpfte er durch alle Instanzen um seine Rehabilitierung, 2010 wurde der Freispruch rechtskräftig. Aber es ist noch nicht vorbei. Am 8. Juni verhandelt das Landgericht Karlsruhe in Sachen Wörz gegen Baden-Württemberg.
Seine Anwältin Sandra Forkert-Hosser fordert rund 110 000 Euro zusätzlichen Ausgleich für Verdienstausfall und seine Möbel, die er in Erwartung von elf Jahren Haft weggegeben hatte. Das Land hat ihm – über die gesetzliche Haftentschädigung von 25 Euro pro Tag hinaus – rund 156 000 Euro zugestanden: für die Haftzeit plus sechs Monate für die Jobsuche nach der Entlassung 2001.
Das war knapp bemessen, damals galt er potenziellen Arbeitgebern noch als Totschläger. Auch, dass er gelernter Bauzeichner war, blieb unberücksichtigt, man veranschlagte einen Hilfsarbeiterlohn. Heute ist Wörz, 49, erwerbsunfähig und bezieht eine Rente. Die Entschädigung hat die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe nach Maßgabe der Richtlinien für Straf- und Bußgeldverfahren zu prüfen.
Dort heißt es: „Von kleinlichen Beanstandungen wird abgesehen.“
Literatur:
Das Lexikon der Justizirrtümer von Patrick Burow
Unrecht im Namen des Volkes: Ein Justizirrtum und seine Folgen (Zeitgeschichte) von Sabine Rückert
Unfassbar! Die Justiz und ihre Schattenseiten von Astrid Wagner
Unschuldig hinter Gittern: Justizirrtümer in Österreich von Rainer Himmelfreundpointner
Quellen: dpa/sueddeutsche.de vom 17.05.2015
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