610 Meter lang, 180 Meter breit, unsinkbar: 1942 begeisterten sich britische Militärs für ein absurdes Geheimprojekt – einen gigantischen Flugzeugträger aus Spezialeis.
Dort schwamm er, der kleine Eisklotz – und verhieß das ganz große Kriegsglück. Fassungslos starrte der splitterfasernackte Winston Leonard Spencer Churchill den gelblichen Klumpen an, der da so unverhofft in sein Badewasser geplumpst war: Der seltsame Eisbrocken wollte und wollte einfach nicht schmelzen. Unbeeindruckt von der staatsmännischen Körperfülle schwappte der Klotz zwischen den Beinen des britischen Premiers hin und her, ohne sich zunächst nennenswert zu verformen.
(Bild: Fantasy-Schiff: Erhaben ragt die gigantische Frostfestung in den Himmel – so in etwa hätte die „Habakuk“ aussehen können. Gezeichnet wurde diese Science-Fiction-Version vom britischen Illustrator und Grafikdesigner Dominic E. Harman)
Den Eisbrocken in der dampfenden Wanne hatte Churchill seinem Mitarbeiter Lord Louis Mountbatten zu verdanken, dem Chef der kombinierten Landungsoperationen. Mit den Worten „Ich habe einen Block von einem neuen Material, den ich in Ihr Bad geben möchte“, war Mountbatten in Churchills Privatgemächer in Chequers (Buckinghamshire) gestürmt. Sodann hatte er das mit Sägespänen versetzte und daher schwer schmelzbare Wundereis ins Badewasser geworfen. So zumindest schilderte es der Admiral später in einer vielzitierten Rede.
Ob Mountbatten den britischen Premier tatsächlich in dessen intimem Morgenritual gestört hat, ist nicht mehr zu rekonstruieren. Verbürgt ist indes, wie begeistert Churchill von den Plänen Mountbattens war: „Ich messe der unmittelbaren Prüfung dieser Ideen größte Wichtigkeit bei“, notierte Churchill am 7. Dezember 1942 – und gab grünes Licht für eines der absurdesten Geheimprojekte des Zweiten Weltkriegs: die Konstruktion eines gigantischen Flugzeugträgers aus einem Spezialeis namens Pykrete.
„Habakuk“ lautete der Codename für das ehrgeizige Unterfangen, benannt nach dem alttestamentarischen Propheten Habakuk, dem Gott laut Bibel einst verkündete: „Seht auf die Völker, schaut hin, staunt und erstarrt! Denn ich vollbringe in euren Tagen eine Tat – würde man euch davon erzählen, ihr glaubtet es nicht.“ (Hab 1,5) In der Tat unglaublich mutet das Mammutprojekt „Habakuk“ an, das die ersehnte Kriegswende zugunsten der Alliierten bringen sollte.
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Kampf gegen den Tod aus der Tiefe
Denn 1940/41 drohte die Versorgungslage der Briten kritisch zu werden. Unerbittlich versenkten deutsche U-Boote die englischen Handelsschiffe, allein im November 1942 verloren die Alliierten 134 Schiffe mit insgesamt 860.000 Bruttoregistertonnen. Trotz Sonar konnten die feindlichen U-Boote im Atlantik von alliierten Schiffen nur schwer geortet werden. Flugzeuge waren zwar wichtige Waffen im Kampf gegen den Tod aus der Tiefe, besaßen jedoch eine zu geringe Reichweite.
Hier kam die „HMS Habakuk“ ins Spiel, ein Monsterschiff aus Eis mit geradezu apokalyptischen Ausmaßen: 610 Meter lang und 180 Meter breit sollte der Koloss mit seinen zwölf Meter dicken Bordwänden werden. Das Innere der schwimmenden Eis-Plattform hätte Platz für bis zu 200 Spitfires und 1500 Matrosen geboten. Und an Deck hätten die über dem Atlantik dahinbrausenden Jagdflieger bequem landen sowie gewartet und aufgetankt werden können.
Mit 2,2 Millionen Tonnen Gewicht wäre der Flugzeugträger genau 48 Mal so schwer wie die „Titanic“ gewesen – im Gegensatz zu dem Unglücksschiff jedoch galt die „Habakuk“ als unsinkbar: Eventuelle Schäden hätten blitzschnell mit gefrorenem Wasser repariert werden können. Das ganze Mega-Konstrukt sollte nicht aus normalem Eis erbaut werden, sondern aus Pykrete: einer betonharten Mischung aus Eis und Sägespänen. Benannt war das Wundereis nach Geoffrey Pyke, jenem britischen Tüftler, der sich das Geheimprojekt „Habakuk“ ausgedacht hatte.
(Platz für 200 Spitfires: Die Skizze zeigt einen Querschnitt des geplanten Flugzeugträgers aus Eis. Gut zu sehen: das komplizierte Tiefkühl-System (l.) sowie die einzelnen Hangars (r.). Das Innere des Hohlrumpfs sollte Platz für 1500 Matrosen und bis zu 200 Spitfire-Kampfflugzeuge bieten – je nach Bedarf würden die Jagdflieger auf die Bordpiste gehievt werden)
Geheimlabor unter dem Londoner Fleischmarkt
Nach einem abgebrochenen Jura-Studium hatte sich Pyke vor dem Zweiten Weltkrieg unter anderem als Journalist, Börsenspekulant und Bildungsreformer versucht. Lord Mountbatten nahm den Querdenker in seinen Thinktank auf, weil er den Admiral mit selbst entworfenen Schneemobilen beeindruckt hatte, erdacht, um die Wehrmacht in Norwegen zu besiegen. Ende September 1942 breitete Pyke auf 232 Seiten seinen nächsten Spleen aus: die Eisfestung „Habakuk“.
Fünf Stockwerke unter dem Fleischmarkt im Londoner Stadtteil Smithfield mixte der spätere Nobelpreisträger Max Perutz Wasser, Sägespäne und Baumwolle und fror diese Substanz anschließend in einem Windkanal. Um die Außentemperatur von minus 15 Grad zu überstehen, trugen Perutz und seine Assistenten elektrisch beheizte Anzüge. Sie feuerten mit Pistolen auf die Eisblöcke – die Kugeln prallten ab. Restlos begeistert, entschied sich Lord Mountbatten für eine kühne PR-Aktion, um die alliierten Militärs von der Pykrete-Plattform zu überzeugen.
(Unsinkbare Schwimm-Insel: Der gigantische Flugzeugträger aus Eis mit seinen zwölf Meter dicken Bordwänden (Skizze) wurde von seinen Promotoren als unsinkbar beworben – bei Torpedoangriffen, so das Kalkül, könnten mögliche Schäden blitzschnell mit gefrorenem Wasser repariert werden)
„Die Idee ist zum Davonlaufen blöd“
Auf der Strategiesitzung des britischen und amerikanischen Generalstabs am 15. August 1943 im Château Frontenac in Québec deponierte Mountbatten zwei Eisblöcke im Sitzungssaal: einen aus normalem Eis und einen aus Pykrete. In Anwesenheit der versammelten Generalstäbler zog der Admiral seine Pistole und schoss in den ersten Eisklotz. Er zersplitterte. Dann zielte er auf den Pykrete-Block. Die Kugel sprang ab, jagte durch den Raum – und streifte das Hosenbein von US-Flottenadmiral Ernest King, der glücklicherweise unverletzt blieb.
Die Militärs zeigten sich beeindruckt von Mountbattens visionären Ausführungen, selbst US-Präsident Franklin Roosevelt begeisterte sich für die Idee eines gigantischen Flugzeugträgers aus Pykrete. Anders jedoch sah dies sein technischer Berater Vannevar Bush. Er kommentierte das Projekt „Habakuk“ mit den Worten: „Die Idee ist zum Davonlaufen blöd.“
Die Argumente der Eisschiff-Gegner waren erdrückend: Zwar sollte bei dem Bau des Flugzeugträgers weitgehend auf den im Krieg knappen Stahl verzichtet werden. Doch für die Rohre zur Zirkulation des Kältemittels Freon hätte man dennoch große Mengen des kostbaren Materials aufwenden müssen. Zudem wäre ein so schwerer Eisklotz kaum manövrierfähig gewesen. Und: Der Bau des Flugzeugträgers „Habakuk“ hätte rund 80 Millionen Dollar verschlungen, mitten im Krieg eine gewaltige Summe.
(Weißer Riese: Eine Modellzeichnung der „HMS Habakuk“ im Verhältnis 1:3000. Briten und Amerikaner waren von der Idee des gigantischen Flugzeugträgers so angetan, dass sie dem Bau eines – allerdings nur 18 Meter langen – Prototypen am kanadischen Patricia Lake zustimmten)
„Habakuk“ schlummert auf dem Grund eines Sees
So schmolz die Vision des frostigen Monsterschiffs dahin wie Speiseeis in der Sonne. Zumal sich die Kriegssituation grundlegend geändert hatte: Jagdflugzeuge besaßen mittlerweile eine größere Reichweite, zudem erlaubte der portugiesische Premier Antonio de Oliveira Salazar den Alliierten am 17. August 1943, die Azoren als Luftwaffenbasis für den Krieg im Atlantik zu benutzen. Im Dezember 1943 wurde das Projekt „Habakuk“ zu den Akten gelegt.
Alles, was übrig blieb vom Monsterschiff, war ein Prototyp aus normalem Eis von 18 Metern Länge am kanadischen Patricia Lake. Erbaut worden war die Probe-Plattform im Mai 1943 von Kriegsdienstverweigerern, größtenteils Mennoniten. Charles Mackenzie, Leiter des kanadischen National Research Council und Chef des Experiments, ließ sie in dem Glauben, es handele sich um ein seltsames Iglu. Nachdem die Alliierten das Projekt verworfen hatten, schaltete man die Kühlung aus. Das 1000 Tonnen schwere Modell schmolz – seine Überreste sanken auf den Grund des Sees.
(Koloss auf dem Zürichsee: Die Idee eines Flugzeugträgers aus Eis ist nicht neu, wie dieser Artikel im US-Magazin „Modern Mechanix“ von 1932 ausführt. So wird von einem deutschen Wissenschaftler namens Gerke von Waldenburg berichtet, der 1930 eine Eis-Insel auf dem Zürichsee errichtete. Der Koloss hielt sechs Tage lang, nachdem man das Kühlsystem ausgestellt hatte)
Und Geoffrey Pyke, der Erfinder von „Habakuk“? Gab die Fantasterei nicht auf: Ende 1943 schlug er Lord Mountbatten ein monströses Tunnel-System vor, durch das alliierte Soldaten per Druckluft von Burma nach China katapultiert werden sollten. Doch auch diese fixe Idee fand kein Gehör. Verbittert schluckte Pyke am Abend des 21. Februar 1948 eine Überdosis Schlaftabletten.
„Die Welt hat eine der originellsten, wenn auch verkannten Persönlichkeiten des Jahrhunderts verloren“, würdigte die „Times“ in einem Nachruf den geistigen Ahnherrn von „Habakuk“.
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