Wenn Russlands Präsident und Oberkommandierender am 9. Mai die Militärparade zum 70. Jahrestag des Sieges abnimmt, werden nach derzeitigem Stand die höchsten Repräsentanten von 26 Ländern neben Wladimir Putin auf der Ehrentribüne auf dem Roten Platz in Moskau stehen. Die Präsidenten von China, Indien, Südafrika, Vietnam und der Mongolei haben Mitte März fest zugesagt, inzwischen auch ihre Amtskollegen aus Tschechien und Zypern. Ebenso die Staatschefs von Kuba und Nordkorea sowie die Ministerpräsidenten der Slowakei und Griechenlands. Als sicher gilt auch die Teilnahme von Spitzenpolitikern aus Island, Mazedonien, Montenegro, Norwegen und Serbien.
Anders als beim 65. Jahrestag fehlen US-Präsident Barack Obama und Europas Führungspersonal. Zwar ist derzeit nach Worten von Kremlsprecher Dmitri Peskow offen, ob Frankreichs Präsident François Hollande und der britische Premierminister David Cameron kommen. Definitiv abgesagt haben indes die Präsidenten Estlands, Lettlands, Litauens und Polens.
Bundeskanzlerin Angela Merkel handelte auch bei diesem heiklen Thema einen Kompromiss aus: Sie kommt einen Tag später und wird zusammen mit Putin das Mahnmal des unbekannten Soldaten an der Kremlmauer besuchen. Dort, so wurde die Bundeskanzlerin von russischen Agenturen zitiert, könne man »in Würde und gemeinsam« des Endes des Zweiten Weltkriegs gedenken. Putin, so dessen Sprecher, habe zugestimmt: Moskau werde sich »natürlich freuen, wenn die eingeladenen führenden Repräsentanten anderer Länder an diesem oder an einem anderen Tag dieses Fest zusammen mit uns begehen«.
Das klang versöhnlich. Experten rechneten angesichts der Ukrainekrise auch mit einem Boykott der Feierlichkeiten durch westliche Spitzenpolitiker. Umso empfindlicher reagierten Kreml und Außenamt auf »Alternativen« wie zentrale gemeinsame Gedenkveranstaltungen in Berlin oder auf der Westerplatte bei Gdansk in Polen. Zumal die Vorschläge von Großbritannien und den osteuropäischen Mitgliedern von NATO und EU stammen: jenen also, die in der Ukrainekrise auf mehr Härte gegenüber Russland pochen. Dazu kommen handfeste Differenzen zu Ursachen und Ergebnissen des Zweiten Weltkriegs zwischen Moskau und dessen osteuropäischen Ex-Verbündeten. Diese – vor allem Polen, die Ukraine und die baltischen Staaten – stellen den entscheidenden Beitrag der Sowjetunion zum Sieg über Hitlerdeutschland in Frage und rütteln damit aus Moskauer Sicht an Grundfesten.
Russland ist nicht nur offizieller Rechtsnachfolger der Sowjetunion. Der Sieg über Hitlerdeutschland ist bis heute identitätsstiftend und Ersatz für jene nationale Idee, auf die sich die seit dem Ende der Union tief gespaltene Gesellschaft des postkommunistischen Russlands bis heute nicht einigen konnte. Daran können auch die hohen Zustimmungsraten für Putin nach dem Russlandbeitritt der Krim nichts ändern.
Vehement wehren sich Kreml und Außenamt gegen Geschichtsklitterung. Einschlägige Versuche, so Putin Mitte März, als er sich im Kreml über den Stand der Vorbereitungen für die Feierlichkeiten berichten ließ, zielten darauf ab, »das Ansehen Russlands zu beschädigen, ihm den Status als Siegermacht – samt allen daraus resultierenden völkerrechtlichen Folgen – zu nehmen und die Völker zu verfeinden und zu spalten«. Die Wahrheit über den Krieg, über den Beitrag des sowjetischen Volkes zum Sieg und über die entscheidende Rolle der Sowjetunion bei der Zerschlagung des Nazismus müsse mit Nachdruck verteidigt werden
Schon im Vorfeld des 65. Jahrestages hatte die Duma ein Gesetz verabschiedet, das Umdeutung des Sieges und Leugnung des entscheidenden Anteils der Sowjetunion daran, strafrechtlich ahndet. Der Tag des Sieges ist ein großer Feiertag für alle. Jede Familie hat mindestens einen Helden – Frontkämpfer oder Partisan. »Nicht Stalin, die Völker der Sowjetunion haben den Sieg erkämpft und einen hohen Preis dafür gezahlt«, sagt Tanja Sjomina, Mitarbeiterin einer Moskauer TV-Produktionsfirma. Der Boykott der Feierlichkeiten durch westliche Spitzenpolitiker sei daher kein Affront gegen Putin, sondern gegen das russische Volk.
Literatur:
Russland verstehen: Der Kampf um die Ukraine und die Arroganz des Westens von Gabriele Krone-Schmalz
Wir sind die Guten.: Ansichten eines Putinverstehers oder wie uns die Medien manipulieren von Mathias Broeckers
Die Eroberung Europas durch die USA von Wolfgang Bittner
Quellen: AFP/neues-deutschland.de vom 31.03.2015
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