Mexiko: Im Würgegriff der Drogenmafia

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Das Massaker an den Studenten von Iguala zeigt: Regierung und Staat sind nicht die Lösung, sondern Teil des Problems geworden.

Der 23-jährige Ernesto weiß, dass er sich glücklich schätzen muss, seine Geschichte noch jemandem erzählen zu können. Er saß in einem der Busse, die am späten Abend des 26. September von der Polizei angehalten wurden, als sie gerade die Stadt Iguala verlassen wollten. „Einige stiegen aus, um auf die Straßensperre zuzugehen und mit den Polizisten zu reden, plötzlich wurde das Feuer eröffnet. Einen Freund trafen die Schüsse ins Gesicht, ein anderer Kommilitone schien verletzt und brach zusammen. Die meisten von uns wurden aus den Bussen getrieben und verhaftet.“

Ernesto kauert währenddessen in der schmalen Gasse zwischen zwei Fahrzeugen. Als das Mündungsfeuer halbautomatischer Waffen die Nacht grell erleuchtet, rennt er um sein Leben. In einer Nebenstraße zerrt ihn ein Mann ins Haus und rettet ihn so möglicherweise vor dem sicheren Tod. Durch die Schüsse der Polizei werden zwei Studenten getötet. Als Ernesto am nächsten Tag das Leichenschauhaus betritt, um sich zu vergewissern, dass die Ermordeten dort liegen, wird er aufgefordert, einen jungen Mann zu identifizieren, dessen Leiche in der Nacht zuvor ein paar Blocks weiter gefunden wurde. Man hat dem Jungen die Haut vom Gesicht abgezogen und die Augen ausgestochen. Ernesto kann nur entsetzt mit dem Kopf schütteln. Wie soll er wissen, wer das ist?

Die Erinnerung an den entstellten Toten erschüttert ihn bis heute. „Das war ein Anblick, den ich ewig mit mir herumtragen werde. Dies zu erleben war noch schlimmer, als aus meinem Versteck mit ansehen zu müssen, wie viele meiner Kommilitonen geschlagen, mit vorgehaltener Waffe gefesselt, in Polizeifahrzeuge gestoßen und abgefahren wurden.“

Bis zum 26. September waren Ernesto und seine Freunde Lehramtsstudenten an der linken, basisdemokratischen Hochschule Normal de Ayotzinapa in Tixtla, anderthalb Autostunden von Iguala entfernt. An jenem Tag hatten einige Hundert Studenten aus dieser Lehranstalt an einer Demonstration gegen die schlechte Bezahlung von Lehrern im ländlichen Raum teilgenommen und Nahverkehrsbusse gekapert, um wieder nach Hause zu kommen. Zunächst sei alles gut gegangen, erinnert sich Ernesto, bis die Studenten gegen neun Uhr abends mit den Bussen in die Polizeisperre gerieten, mit der sie nicht gerechnet hatten. Und an der so viele verschwanden.

„Am nächsten Morgen haben wir öffentlich gemacht, was passiert war“, so Ernesto weiter. „Wir wussten zu diesem Zeitpunkt, dass es außer den drei erschossenen Studenten noch drei weitere Opfern gab, und Dutzende von uns nicht wieder aufgetaucht waren.“ Tatsächlich hatte die Polizei am Abend zuvor beim Angriff auf einen Bus, von dem sie irrtümlich glaubte, er sei ebenfalls gekapert worden, einen Fußballspieler im Teenager-alter und den Fahrer erschossen. Das sechste Opfer war eine Frau im Taxi, die starb, weil der Fahrer der Schießerei rings um diesen Bus nicht mehr ausweichen konnte. In den Tagen danach, so Ernesto, sei es zunächst ruhig gewesen. Lediglich ein paar mehr Journalisten als sonst habe man in Iguala gesehen. Das Geschehen hat schon einen riesenhaften Schatten geworfen, der freilich noch größer werden und ein Land verdunkeln sollte.

Stimmen und Schreie

Präsident Peña Nieto vom Partido Revolucionario Institucional (PRI) versucht zunächst, die Ereignisse von Iguala totzuschweigen. Erst als sich im Bundesstaat Guerrero brodelnder Bürgerzorn und Wut entladen, verurteilt er das Verschwinden von 43 jungen Mexikanern als „empörend, schmerzhaft und nicht akzeptabel“. Es kommt zu ersten Großdemonstrationen, die bis auf ein paar Ausnahmen friedlich bleiben.

Anfang Oktober schließlich finden die Behörden neun Gräber in einer Bergregion, die im Westen an Iguala grenzt. Darin liegen 34 verkohlte Leichen. Bald ergeben die Unter-suchungen, dass es sich bei den Toten nicht um die Vermissten handelt. Völlig abwegig erschien die Annahme – man sei auf die Leichen der Studenten gestoßen – allerdings nicht. Zeugenaussagen ergaben, dass in jener Gegend bei den Anwohnern lange schon der Verdacht keimte, in den Bergen würden schreckliche Dinge passieren. So gibt der Bau-arbeiter Jamir Perez zu Protokoll: „In den letzten Jahren hat man immer mal wieder Schreie und Schüsse gehört, dazu die Stimmen von Männern und Frauen, die um Gnade flehten. Dann war wieder alles totenstill.“ Ein anderer Zeuge erklärt, aus Iguala kommend seien häufig Fahrzeuge unterwegs gewesen, vor allem Hummer und Jeeps, dazu Streifen-wagen der lokalen Polizei. „Wir haben aus Angst nie etwas gesagt. Wem hätte man sich anvertrauen können?“

In Iguala war es ein offenes Geheimnis, dass sich Bürgermeister José Luis Abarca die Macht mit der ortsansässigen Drogenmafia teilte, den Guerreros Unidos, die sich aus Überresten des Beltrán-Leyva-Kartells gebildet hatten. Bis zur Auflösung Anfang 2010 kontrollierte das Syndikat einen Großteil des Drogenschmuggels in die USA.

Als den Gerüchten über die Allmacht dieses Netzwerks des Verbrechens endlich nachgegangen wird, stellt sich heraus, dass am 26. September Bürgermeister Abarca den Polizeiangriff auf die Studenten persönlich befohlen hat. Weil im Juni 2013 Studenten aus der Hochschule Normal de Ayotzinapa das Rathaus besetzt hatten, um gegen die Ermordung eines Aktivisten zu protestieren, befürchtete María de los Ángeles Pineda, die Frau des Bürgermeisters, die Studenten würden nun ihren Wahlkampf stören. Im kommenden Jahr wollte sie ihren Mann im Amt beerben. Sidronio Casarrubias, ein festgenommener Anführer der Guerreros Unidos, sagte inzwischen aus, Igualas First Lady, niemand sonst, sei die „treibende Kraft“ hinter der Aktion Ende September gewesen.

Zweifellos ein Schock für die Stadt. Auf einem der Märkte sagt eine Obsthändlerin, bisher habe man es als richtig empfunden, „dass der Bürgermeister einen Deal mit den Narcos hatte. Nur so können Sicherheit und Ordnung aufrechterhalten werden. Wenn man an andere Städte in Guerrero denkt – zum Beispiel Acapulco –, sind dort Schießereien und Überfälle auf offener Straße üblich. Nachdem ich weiß, was mit den Studenten passiert ist, habe ich meine Meinung natürlich geändert. Jetzt bin ich wirklich entsetzt.“

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Asche und Knochen

Nachdem man die Studenten vom Ort des Überfalls auf die Busse abtransportiert hatte, wurden sie – so viel weiß man heute – von der Polizei den Guerreros Unidos übergeben und in einen weißen Truck verladen. Ein Mann mit dem Spitznamen „El Gil“ führte das Kommando. Der habe ihm per SMS mitgeteilt, bei den Studenten handele es sich um Mitglieder einer rivalisierenden Gang, so Guerreros Unidos-Chef Sidronio Casarrubias Ende Oktober im Verhör durch die Staatsanwaltschaft.

„Aufgrund dieser Information gab Casarrubias Order, die Männer zu töten. Er dachte, er müsse sein Einflussgebiet gegen unerwünschte Konkurrenz in Iguala verteidigen“, so Mexikos Generalstaatsanwalt Jesús Murillo auf seiner Pressekonferenz am 7. November – ein Auftritt, bei dem der Jurist zerknirscht bestätigen muss, dass sich die schrecklichsten Befürchtungen bewahrheitet haben. Den Geständnissen von drei Mitgliedern der Guerreros Unidos sei zu entnehmen, dass die Gekidnappten zu einer Mülldeponie vor den Toren der Nachbarstadt Cocula gefahren wurden. 15 sollen bereits tot gewesen sein, als sie dort ankamen. Die Übrigen wurden zunächst verhört, dann erschossen und ihre Leichen zu einem Scheiterhaufen aufgestapelt. Das Feuer brannte 15 Stunden lang, von Mitter-nacht bis gegen drei Uhr nachmittags. Generalstaatsanwalt Murillo: „Von den Körpern sind nur noch Asche und Knochenreste übrig. Was davon zu einer Identifizierung führen könnte, wurde an ein Speziallabor in Österreich geschickt. Wir müssen abwarten.“

Das Entsetzen über das Schicksal der Studenten lässt Hunderttausende auf die Straße gehen. Die Empörung richtet sich gegen eine Regierung, die Nachforschungen verschleppt hat und sich den Vorwurf gefallen lassen muss, einen verbrecherischen Staat zu führen. Auf Demonstrationen sind immer wieder Transparente mit den Worten zu sehen: „Ya me cansé“ (übersetzt: „Ich habe es satt“ oder „Ich bin müde“). Eine Anspielung auf die Bemerkung von Jesús Murillo gegen Ende seiner Pressekonferenz am 7. November. Man ist der Gewalt überdrüssig, die Teile Mexikos seit Jahren im Würgegriff hält und Killing Fields mit 80.000 Opfern hinterlassen hat. Die Bürger ertragen es nicht mehr, dass korrupte Behörden den selbstgefälligen Wahn des organisierten Verbrechens decken und die Zentralregierung unfähig oder unwillig ist, etwas dagegen zu unternehmen.

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Die in den USA beheimatete NGO Human Rights Watch nennt das Verbrechen von Iguala den schwersten Übergriff, zu dem es in Zentralamerika während eines ganzen Jahrzehnts gekommen sei. José Miguel Vivanco, der zuständige Direktor, kommentiert: „Entführung und Mord sind keine Einzelfälle, sondern stehen für ein System. Mexikos Administration zeigt sich außerstande, ihre Bürger dagegen zu schützen.“

Wenn immer wieder Demonstranten skandieren: „In Inguala – das war der Staat“, zeugt das von einer institutionellen Krise und einem Verlust an Glaubwürdigkeit, an dem sich nichts beschönigen lässt. Es gibt in diesem Land Gegenden, wo ganze Städte oder Landgemeinden von kriminellen Banden in Schach gehalten werden. Und die Regierenden sehen weg, da sie nicht wissen oder nicht wissen wollen, was in solchen Fällen zu tun ist. Präsident Nieto hat sich um das Image des furchtlosen Warlords bemüht, der in den Drogenkrieg zieht, aber intelligent genug ist, die kontraproduktive Offensivtaktik seines Amtsvorgängers Felipe Calderón zu meiden.

Nur wenige Tage vor dem Angriff auf die Referendare hatte Mexikos Staatschef vor dem Economic Club in New York erklärt, der Rückgang der Mordrate in den knapp zwei Jahren seit seiner Amtsübernahme am 1. Dezember 2012 sei „ein deutliches Zeichen dafür, dass wir auf dem richtigen Weg sind“.

Quellen: AFP/freitag.de vom 24.11.2014

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One thought on “Mexiko: Im Würgegriff der Drogenmafia

  1. sind die menschen südlich unseres breitengrades einfach nur anders? keine moral kein anstand nichts?

    das ist ja eher wie in einem wildwestfilm.

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