Die Inklusion gilt als Schulthema. Doch behinderte Menschen sollen überall sichtbarer werden – auch in der Arbeitswelt. Doch laut einer Studie gelingt nur den wenigsten der Start ins Berufsleben.
Eigentlich ist es grotesk. Seit Jahren wird über die Inklusion gesprochen, geschrieben, politisiert. Schon 2009 verpflichtete sich Deutschland vor den Vereinten Nationen, Behinderte in allen Bereichen nicht nur zu integrieren, sondern richtig einzubeziehen. Dennoch: Bis heute wird Inklusion nur im Zusammenhang mit Kitas und Schulen diskutiert.
Unlängst schaffte es das Thema in eine beliebte Talkshow, als es darum ging, ob ein Kind mit Downsyndrom aufs Gymnasium gehen soll oder darf. Überhaupt nicht thematisiert wird Inklusion dagegen für den beruflichen Sektor. Dabei wäre das nur konsequent. Irgendwo müssen die Inklusionsschüler ja hin. Im Moment landen sie häufig in der Arbeitslosigkeit.
Bisher gab es nicht einmal valide Daten zur Lage und Zahl Behinderter im Arbeitsleben. Eine repräsentative Unternehmensstudie der Bertelsmann-Stiftung, die der „Welt“ exklusiv vorliegt, ändert dies. Der Befund ist dabei auf den ersten Blick nicht ermutigend: Von den jährlich rund 50.000 Schulabgängern mit sonderpädagogischem Förderbedarf finden nur rund 3500 einen Ausbildungsplatz in einem Betrieb. In den letzten fünf Jahren hat nur jede vierte Firma, die ausbilden darf, Erfahrungen mit behinderten Jugendlichen gemacht.
„Berufswelt muss sich Herausforderungen stellen“
„Wenn wir über die Inklusion reden, reicht es nicht mehr aus, nur über die Schulen zu sprechen. Die UN-Konvention beschränkt sich nicht auf den Bildungsbereich. Irgendwann werden mehr und mehr inklusiv beschulte Absolventen da sein, die dann Anschluss-möglichkeiten brauchen“, sagte Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) der „Welt“. „Wir müssen dafür sorgen, dass sich unsere Berufswelt den Herausforderungen der Inklusion verstärkt stellt.“
Immerhin: Die Hälfte der Firmen hat positive Erfahrungen mit den jungen Leuten gemacht (47,1 Prozent). Eine rundum schlechte Bilanz zieht nur jedes zehnte Unter-nehmen (8,5 Prozent). Unter denen, die sich darauf eingelassen haben, loben die meisten (34,4 Prozent) die höhere Motivation dieser Gruppe im Vergleich zu anderen Azubis. Geschätzt werden ihre Loyalität sowie ihr Anspruch, Akzeptanz für Behinderung zu schaffen.
Betrachtet man diese Urteile, will nicht recht einleuchten, warum so wenige Unter-nehmen Menschen mit Behinderung ausbilden. Berührungsängste spielen sicher eine wichtige Rolle. Doch darüber hinaus sind es typische deutsche Regularien und Gewohnheiten.
Keine Ausbildungspflicht für Behinderte
Für Firmen mit mehr als 20 Beschäftigten gibt es zwar die Pflicht, fünf Prozent ihrer Belegschaft mit Schwerbehinderten zu besetzen, diese gilt aber nicht für Auszubildende. Bildet ein Unternehmer dennoch einen Schwerbehinderten aus, wird der doppelt gezählt. Klingt kompliziert. Ist aber ganz einfach: Bei einer Belegschaft von 40 Leuten etwa müssten zwei Behinderte eingesetzt werden. Würde ein behinderter Azubi eingestellt, wäre die Quote, der doppelten Anrechnung wegen, ebenfalls erfüllt.
Eine Sanktion, also eine Strafabgabe für den, der niemanden ausbildet, gibt es jedoch nicht. Wer hingegen die Schwerbehindertenquote nicht einhält, zahlt. Allerdings, legt man den Fokus auf die Schwerbehinderten, zieht man den Kreis der Kandidaten ohnehin viel zu eng. Denn jene, die anstatt in Förderschulen in Regelschulen beschult werden (sollen), haben oft nur leichte Handicaps.
Es geht hier nicht um die Schwerstbehinderten, die in die klassischen Werkstätten gehen. Deshalb würden diese weiterhin gebraucht, ist Ministerin Wanka überzeugt: „Es ist mir wichtig, dass auch die Möglichkeit geschützter Werkstätten erhalten bleibt.“ Von den jährlich 50.000 Absolventen mit Behinderung nehmen sie rund 11.000 auf. Aber was passiert mit den übrigen? Allzu viele landen in berufsvorbereitenden Maßnahmen, die für sie häufig Sackgassen bleiben.
Ausbildungssystem ist zu unflexibel
Laut der Studie wäre viel gewonnen, wenn mehr Förderschüler einen Hauptschulab-schluss machten. „Die Unternehmen nehmen vieles von dem, was heute in der Schule als Behinderung gilt, gar nicht als Behinderung wahr. Das Förderschulzeugnis kann den Betroffenen den Zugang zum Beruf erschweren. Die Unternehmen geben dem Haupt-schulzeugnis in der Regel den klaren Vorzug“, sagt der Vorstand der Bertelsmann-Stiftung Jörg Dräger.
Den Betroffenen wird das deutsche Zertifikate-Denken zum Verhängnis. Ein Hauptschul-abschluss ist da einfach mehr wert. An den meisten Förderschulen können die Jugend-lichen aber keinen Hauptschulabschluss machen. Deshalb fordert Dräger: „Wo wir noch Förderschulen haben, sollten diese das Potenzial ihrer Schüler individuell ausschöpfen und, wenn möglich, auch zu einem Hauptschulabschluss führen.“
Schließlich scheitern viele an der Ausbildungsordnung. Die dreijährige duale Ausbildung mit großer Abschlussprüfung ist für viele Behinderte eine zu hohe Hürde. „Das starre Ausbildungssystem kommt den Betroffenen nicht entgegen. Deshalb brauchen wir die Chance, die Ausbildung auch einige Zeit zu unterbrechen und eine längere Ausbildungs-dauer. Außerdem muss es Anreize für eine Probebeschäftigung geben“, sagt Dräger.
Kammern und Gewerkschaften blockieren
Zwei Drittel der Unternehmen befürworten ein flexibleres System. Dagegen stehen jedoch Kammern und Gewerkschaften. Erstere möchten mittels finaler großen Prüfung die Kontrolle über die Ausbildungsinhalte behalten, letztere fürchten eine Aufweichung der Tarife.
Staatliche Hilfe könnte dennoch Anreize setzen. Doch wieder gibt es Probleme. Die meisten Unternehmen wissen nicht, welche Förderung sie bei der Ausbildung von Jugendlichen mit Behinderung beanspruchen können. Das Informationsdefizit ist groß.
81,7 Prozent rätseln, wo sie was beantragen können. 70 Prozent der Unternehmen beklagen den bürokratischen Aufwand. Befunde wie diese belegen noch einmal eindrucks-voll, wie wenig das Thema Inklusion bisher in der Berufsbildung ankommen ist. Und warum sich dies so schnell nicht ändern dürfte.
Welche Schüler sind eigentlich für welche Ausbildung geeignet? „In dieser Frage gibt es bei den Unternehmen oft keine Antworten“, sagte Claudia Burkard von der Bertelsmann-Stiftung der Nachrichtenagentur dpa. Offen sei auch das Thema Berufsschulen, so Burkhard. Es gebe zwar Förderberufsschulen, aber die Berufsschulen an sich sind beim Thema Inklusion bislang außen vor. „Der Verband der Berufsschullehrer fordert schon länger Geld und Konzepte. Bislang aber ohne Erfolg“, sagt Burkhard.
Quellen: br.de/WeltOnline vom 09.06.2014
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Es ist wie immer, außen hui und innen pfui. Gerade dieser Zustand macht die Betroffenen ja so verzweifelt. Doch beim genaueren Hinsehen ist klar warum das so ist. Billige Arbeiter aus dem Ausland sind erwünscht und die Behinderten sollen in Sozialsysteme abgeschoben werden. Auch sehe ich darin bestätigt, dass die Intergrationseinrichtungen und Betriebe nicht ineinander greifen, weil das liebe Geld der Schmierstoff ist und das ist knapp. Es fehlt mir auch ein Beispiel für das Anspruchsdenken gepaart mit Vorbehalten, das in den Betrieben zunehmend angetroffen wird. Damit meine ich dass der Mensch immer mehr zur Nummer wird.
Deutschland ist der Stachel Europas und leider macht die Wirtschaft dabei all zu gerne mit.