Portugal verlässt den Euro-Rettungsschirm, doch die Bürger zahlen dafür einen hohen Preis. Harte Sparprogramme haben die Mittelschicht zerstört, soziale Netze zerfetzt. 2,5 Millionen Menschen leben am Rande der Armut. Ein Rundgang durch Lissabon.
Es ist der größte Erfolg, den Portugal seit drei Jahren verzeichnen kann, doch Premier-minister Pedro Passos Coelho will ihn nicht selbst verkünden. Stattdessen leitet sein Staatssekretär die Pressekonferenz zum Ausstieg aus dem Euro-Rettungsschirm. Man wolle sich nicht vorwerfen lassen, das Thema für den Europawahlkampf zu missbrauchen, lautet die offizielle Begründung. Diese Vorsichtsmaßnahme wäre nicht nötig gewesen. Denn nach Feiern ist ohnehin niemandem zumute.
(Foto: Essensausgabe im Dorf Aldeia de Irmãos: Die Krise in Portugal hat zu einem Absturz der Mittelklasse geführt. In sozialen Einrichtungen sammeln sich immer mehr Menschen, die ihren gewohnten Lebensstandard nicht länger leisten können)
Coelhos eiserne Reformpolitik hat Portugal zwar die Rückkehr an die Finanzmärkte ermöglicht, aber gleichzeitig das Land in eine historische soziale Krise gestürzt. 2,5 Millionen Portugiesen leben in Armut oder an der Armutsgrenze, das entspricht rund einem Viertel der Bevölkerung. Und so kann Staatssekretär Carlos Moedas zwar erläutern, dass die Wirtschaft wieder wächst und wie die Regierung die Gesundung des Landes weiter vorantreiben will. Auf die zahlreichen Fragen nach den sozialen Folgen aber hat auch er keine gute Antwort. Er hoffe, dass die Reformen rasch greifen und sich das Wachstum stabilisiert, sagt er. Dann würden auch die sozialen Verwerfungen zurückgehen.
Draußen, vor den Toren des Ministerrats, können die Leute das kaum glauben. Menschen wie Bruno Castanheira, 36, lange schwarze Locken, akribisch geschnittener Bart, ein Fotograf, der die Krise seit vielen Monaten dokumentiert. Unter dem Namen Projecto Troika zeigen er und sieben weitere Künstler in grobkörnigen, oft schwarz-weißen Fotos und Filmen die Gesichter der Krise.
„Millionen Menschen haben ihre Würde verloren“, sagte Castanheira vergangene Woche am Telefon und lud zu einer Führung durch ein Portugal, das sich durch jahrelange Sparprogramme bedenklich verändert hat.
Jung, entmutigt, frustriert
Der Rundgang beginnt am Nachmittag, am Abend wird das Rettungsprogramm enden. Wir treffen uns im Zentrum von Lissabon, unweit der Straße Alameda Dom Afonso Henriques, an der jedes Jahr am 1. Mai die Protestzüge der Gewerkschaften entlang-ziehen. Zuletzt kamen immer mehr Menschen zu den Demos, Zehntausende allein in diesem Jahr. Einer, der keine Demo mehr auslässt, ist Miguel Pires.
Pires ist 36, Diplom-Ingenieur und einer von Castanheiras Freunden, denen es noch ganz gut geht. 2013, auf dem Höhepunkt der Sparmaßnahmen, schloss die Firma, bei der er als Bauleiter arbeitete. Seitdem hat Pires Hunderte Bewerbungen geschrieben. Meist bekam er, wenn überhaupt, eine Absage. Dazu einige Jobangebote in der Provinz, 485 Euro Monatslohn, exklusive Fahrtkosten. Pires lehnte ab.
Weitere Jobangebote kamen aus Angola, einer früheren portugiesischen Kolonie, die derzeit einen Wirtschaftsboom erlebt. Pires rief einen ehemaligen Arbeitskollegen an, der schon übergesiedelt war, der sprach von Gelbfieber, bewaffneten Überfällen und wie schwer es für ihn sei, dass Freunde und Familie 6000 Kilometer entfernt leben.
Rund 300.000 Portugiesen haben in den vergangenen Jahren das Land verlassen und im Ausland ihr Glück versucht. Pires will keiner von ihnen sein. Doch auch in Portugal sieht er keine Perspektive. Er fühlt sich müde, entmutigt, frustriert.
Pires lernt jetzt Computersprachen, will versuchen, Apps zu programmieren. Er hat ein bisschen was gespart, und seine Frau hat ihren Job noch. Sie leben bescheiden, kommen gerade so über die Runden. Das Leben, das sie sich erträumt hatten, sah anders aus. Er sagt, sie hätten gern Kinder.
Verdammt zu ewiger Arbeit
Eine Siedlung im Stadtteil Benfica. Eine Weile irrt Bruno Castanheiro zwischen den verfallenen Wohnblöcken umher, dann findet er die kleine Straße, die hinauf zum Friedhof führt. Oben haben José Couchinho Tavares, 74, und Maria Adeleia de Cruz Glaziou, 71, ihre Schneiderei. Es ist früher Abend, die Singer-Nähmaschine rattert, Senhor Tavares werkelt am letzten Sakko des Tages. Seine Augen sind trüb, die Stirn ist voller Flecken. Seine Frau näht am Tisch gegenüber. Gleich neben ihr, in einem Laufgitter, macht die einjährige Enkelin ihre ersten Gehversuche.
Seit 45 Jahren arbeiten die beiden hier, fünf bis sechs Tage die Woche, acht bis neun Stunden am Tag. Auch heute noch, denn für den Ruhestand reicht ihre Rente nicht, jetzt schon gar nicht mehr, denn die Regierung hat ihre ohnehin bescheidenen Bezüge noch einmal um zehn Prozent gekürzt. 1200 Euro Rente bekommt das Paar insgesamt – und kann sich damit noch glücklich schätzen. Denn die durchschnittliche Rente in Portugal liegt nur bei 350 Euro, 80 Prozent der Pensionäre bekommen weniger als den Mindestlohn.
Das Ehepaar Tavares hat fünf Kinder großgezogen, den Laden, die Maschinen selbst finanziert, die Steuern stets pünktlich bezahlt. Der Lohn ist eine Rente, die zum Leben nicht reicht. Und steigende Abgaben. Rund 40 Prozent seiner Einnahmen musste das Schneiderpaar aus Benfica vergangenes Jahr dem Fiskus geben. José Tavares nennt das „erzwungene Solidarität“.
Die Regierung hat kürzlich das Rentenalter angehoben, auf 66, unter heftigem Protest der Gewerkschaften. José Tavares und Maria Glaziou wären gern in diesem Alter in Rente gegangen. Sie würden gern ihre letzten guten Jahre im Garten verbringen, mit Freunden, den Kindern, den acht Enkeln. Stattdessen werden sie weiter arbeiten, morgen, nächsten Monat und auch nächstes Jahr, am Tag ihrer goldenen Hochzeit.
Das unsichtbare Elend
Eine Autostunde südlich von Lissabon liegt das Dorf Aldeia de Irmãos. Es ist 23 Uhr, Portugals Rettungspaket schlägt die letzte Stunde. Bruno Castanheira parkt seinen klapprigen Peugeot vor einer Garage. Drinnen steht Nuno Duque und verteilt Essen an Bedürftige. Auf der Auslage liegen Kartoffeln, Früchte und Kuchen, etwas Hähnchen und Reis, etwas Salat und viel Brot, alles Überreste aus Supermärkten und Restaurants, die Duque und seine Mitstreiter in den umliegenden Dörfern eingesammelt haben.
Nacheinander ruft Duque die Leute auf, hakt ihre Namen auf einer Liste ab. Rund hundert Menschen versorgt das Team täglich mit Essen, gut die Hälfte kennt Duque persönlich. Er wohnt seit 18 Jahren in der Gegend. Als er 2008 anfing, Essen auszuteilen, kamen vor allem Obdachlose; vor drei Jahren kam die Frau eines befreundeten Bau-arbeiters, vor zwei Jahren kam ein befreundeter Diplom-Ingenieur, vor einem Jahr die Nachbarin von gegenüber, aus dem Haus mit dem Swimmingpool.
Inzwischen kommen viele, denen man nicht ansieht, dass sie es nötig haben, Nacht für Nacht teils mehrere Kilometer weit zur Garage zu laufen, sich hinzusetzen und zu warten, dass Duque ihre Tupperdosen mit abgelaufenem Essen füllt. Auch in dieser Nacht sind viele, die gekommen sind, gut gekleidet. Manche tippen, während sie warten, auf ihrem Smartphone herum.
Duque nennt sie die Mittelklasse, die keine mehr ist. Es sind Menschen, die ihre Häuser nicht verkaufen, weil niemand ihnen einen vernünftigen Preis zahlt und die sich wegen der hohen Hypothek den Gang in den Supermarkt nicht mehr leisten können. Menschen, die sich schwertun einzusehen, dass sie sich ihren gewohnten Lebensstandard nicht länger leisten können und jetzt Leute wie Nuno Duque brauchen. Der hilft ihnen längst nicht nur aus Mitleid. „Es könnte morgen auch mich treffen“, sagt er. „Dann würde ich hoffen, dass auch für mich jemand da ist.“
Portugal ist nach Spanien und Irland der dritte Patient der Währungsunion, der aus einem Rettungsprogramm aussteigt. Weiter am Tropf der Euro-Partner hängen Griechenland und Zypern.
Lissabon hätte die Möglichkeit gehabt, beim ESM einen sogenannten Vorsorgekredit zu beantragen. Doch mehrere Euro-Länder hatten durchblicken lassen, dass sie vor der Europawahl davon nicht viel halten.
Die in der Bevölkerung verhassten «Männer in Schwarz» von der Geldgeber-Troika, die penibel auf die Umsetzung der Sparauflagen achteten, sind nun zwar abgereist. Lissabon wird aber noch 20 Jahre Unter verschärfter Kontrolle der EU bleiben.
Quellen: Projecto Troika/SpiegelOnline/20min.ch vom 17.05.2014
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