Vor zehn Jahren war der Urmia-See zehn Mal größer als der Bodensee. Doch schon in zwei Jahren, so warnen Experten, könnte der riesige Salzsee verschwunden sein. Lässt sich die Katastrophe abwenden?
Mosafar Tscheragi steht auf einem staubigen Podest, auf dem sich einst sein Teehaus befand. „Der See ist weg, mein Job ist weg, meine Kinder sind weg und die Touristen auch“, klagt der 58-jährige Iraner. Sein persönliches Schicksal ist Teil eines drohenden ökologischen und ökonomischen Desasters im Nordwesten des Iran, unweit der türkischen Grenze.
Noch vor weniger als einem Jahrzehnt hatte Tscheragi mehrere Dutzend Gäste am Tag. Seine Söhne machten Bootstouren über den Urmia-See, den größten Binnensee des Iran. Doch der Salzsee trocknet aus und droht völlig zu verschwinden. Er ist in den ver-gangenen Jahren um mehr als 80 Prozent seiner ursprünglichen Fläche auf 1000 Quadratkilometer geschrumpft. Salzbedeckte Felsen, die einst tief unter der Wasser-oberfläche lagen, ragen nun inmitten einer Wüste aus dem Boden.
Die erste Kabinettsentscheidung des seit einem halben Jahr amtierenden iranischen Präsidenten Hassan Ruhani galt nicht etwa dem internationalen Streit über das iranische Atomprogramm. Vielmehr hatte Ruhani schon im Wahlkampf versprochen, den Urmia-See zu retten. Zu diesem Zweck beschloss die neue Regierung, eine Arbeitsgruppe zu bilden und zu einer internationalen Konferenz einzuladen.
Die Ursachen sind vielschichtig
So kamen in dieser Woche Wissenschaftler aus dem In- und Ausland in Urmia zusammen, um darüber zu beraten, wie ein weiteres Austrocknen des Sees verhindert werden kann. Denn ohne Gegenmaßnahmen, so warnen Experten, könnte der See – früher eine Touristenattraktion und ein beliebter Zwischenstopp für Zugvögel wie Flamingos, Pelikane und Möwen – schon in zwei Jahren komplett verschwunden sein.
Vom Klimawandel über den Wasserbedarf der Landwirtschaft bis hin zum Staudamm-Bau – die Ursachen für den stetigen Rückgang des Wasserpegels im Urmia-See sind vielschichtig. Ruhani muss nun die ökologischen Probleme angehen, die sein Vorgänger im Präsidentenamt, Mahmud Ahmadinedschad, nicht nur vernachlässigt, sondern, wie ihm Kritiker vorwerfen, verschlimmert hat.
Als Ingenieur mit einem Appetit auf Großprojekte verfolgte Ahmadinedschad eine Politik, die eine Ausweitung der Bodenbewässerung und die Errichtung zahlreicher Staudämme nach sich zog. So blieb für den Urmia-See nicht mehr viel Wasser aus den Zuflüssen übrig. „Nicht die Natur oder die Dürre sind schuld“, sagt der Leiter der Arbeitsgruppe zur Rettung des Sees, Issa Kalantari. „Die Menschen sind für diese Situation verantwortlich.“
Sterbe der Urmia-See, müssten fünf Millionen Anwohner die Gegend verlassen, warnt der Wissenschaftler, dessen Team bis Mai einen konkreten Plan gegen die Austrocknung vorlegen möchte. Rund 20 Vorschläge liegen dafür auf dem Tisch, unter anderem sogenannte Wolkenimpfungen zur Erhöhung der Niederschlagsmenge, der Bau von Wasserpipelines oder die gezielte Ansiedelung von Industriebetrieben, um die Abhängigkeit von der Landwirtschaft und deren Wasserbedarf zu verringern.
Die Bewohner verlassen die Gegend
Die Regierung hat bereits damit begonnen, die Bevölkerung über die Situation aufzu-klären und für die Problematik zu sensibilisieren. Bei den Landwirten wirbt sie für die sparsamere Tröpfchenbewässerung oder für den Wechsel zu weniger durstigen Pflanzen. Weizen oder Pistazien brauchen beispielsweise deutlich weniger Wasser als Zuckerrüben.
Einer der Organisatoren der Urmia-Konferenz, der Universitätsdozent Ali Aschgar Siab Kudsi, schätzt, dass es im Umkreis des Sees zusätzlich zu den etwa 30.000 legalen Brunnen 24.000 nicht genehmigte Brunnen gibt, die für die Wasserknappheit mitver-antwortlich sind. In Gowartschingale, einem Dorf in der Nähe des Urmia-Sees, bauen Nader Harati und sein Sohn Ali Trauben und Mandeln an.
Die Ernte sei dramatisch eingebrochen, klagt Ali. „Vor zehn Jahren war die Gegend hier grün. Jetzt nicht mehr, weil wir weniger Regen haben“, sagt der 27-Jährige. Mit dem Rückgang des Wasserpegels im See sei auch der Wasserspiegel in den Brunnen gesunken. Außerdem habe salzhaltiger Wind schon einige Mandelbäume vernichtet.
Viele Bewohner haben das Dorf bereits verlassen. Vor einem Jahrzehnt hatte Gowartschingale rund 1000 Einwohner, heute sind es nur noch 300. Einst gab es drei Schulen, jetzt werden in der einzigen verbliebenen Schule gerade mal zwölf Kinder unterrichtet. Auch die Kinder des einstigen Teehaus-Besitzers Tscheragi haben ihren Heimatort verlassen, um sich anderswo Arbeit zu suchen. Er habe ein Dutzend Boote verkauft, erzählt Tscheragi, und sechs behalten – „in der Hoffnung, dass das Wasser zurückkommt. Aber es ist nichts passiert.“
Quelle: WeltOnline vom 22.02.2014
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