Auch im Zeitalter von Google Earth gibt es sie noch: geheimnisvolle Orte, die kein Mensch je gesehen hat, keine Karte je verzeichnet. Und die für Forscher so manche Überraschung bereithalten. Eine Reise zu den letzten weißen Flecken der Erde.
William Sager ahnt bereits, dass er einer wissenschaftlichen Sensation auf der Spur ist. Sein Forschungsschiff, die „Joides Resolution“, nähert sich im Jahr 2009 jener Stelle, an der sich ein gigantischer Basaltschild vom Tiefseeboden bis auf eine Höhe von 4400 Metern wölbt: das Tamu-Massiv, eine inaktive submarine Vulkankette im nordwest-lichen Pazifik, ungefähr 1600 Kilometer östlich von Japan. Noch nimmt man an, es handele sich dabei um ein Feld aus mehreren Vulkanen.
(Foto: Magischer Tafelberg: Das Plateau des Matawi Tepuy galt unter Indianern in Venezuela als Ort, wo die Toten hingehen)
Video: Matawi Tepuy
Von Bord aus lassen Sager und sein Team Bohrer zweitausend Meter in die Tiefe sinken, mit denen sie an unterschiedlichen Stellen Proben aus dem Fels entnehmen. Das Ergebnis bestätigt Sagers Vermutung: Alle Gesteinsproben, ganz gleich, von wo sie stammen, zeugen von einer einzigen Quelle, einem einzigen Schlot. Es ist also ein riesiger Vulkan.
Im Juni 2013 veröffentlicht William Sager seine Analyse im Fachmagazin „Nature Geoscience“ und löst damit eine weltweite Welle der Berichterstattung aus, von der Washington Post über die Fuldaer Zeitung bis hin zu Radio Ghana. Denn das Tamu-Massiv, das vor 145 Millionen Jahren entstanden sein muss, hat eine Fläche von 300.000 Quadratkilometern – ist also fast so groß wie Deutschland. Für einen einzigen Vulkan ist das eine unfassbare Ausdehnung, 60 Mal mehr Fläche als der Mauna Loa auf Hawaii, der bisher als größter Vulkan der Erde galt. Das Tamu-Massiv lässt sich somit nur mit dem Vulkan Olympus Mons auf dem Mars vergleichen, dem größten unseres Sonnensystems.
Und natürlich zieht eine solch bedeutende Entdeckung weitere Fragen nach sich: Gibt es noch mehr unentdeckte Vulkane auf dem Grund der Ozeane? Müssen wir neu darüber nachdenken, wie der Meeresboden entstanden ist?
Der Fall des Tamu-Massivs bringt auch einer breiteren Öffentlichkeit zu Bewusstsein, dass weite Teile des Meeresbodens noch immer unerforscht sind. Und auch, dass es wohl generell noch mehr solcher sogenannter weißer Flecken auf den Karten der Geologen und Biologen gibt.
Aus dem venezolanischen Regenwald etwa ragen schroffe Felswände empor, tausend Meter hoch, oben abgeflacht: Tafelberge, viele noch von Menschen unbetreten. Biologen vermuten auf ihren Plateaus zahllose unbekannte Tier- und Pflanzenarten.
Video: Das Tamu-Massiv
http://www.youtube.com/watch?v=U_JLIIvr4E8
Die Welt ist noch längst nicht vermessen
Weite Teile der Arktis, Antarktis und Sahara wurden bisher nur von Satelliten aus fotografiert, aber noch nie aus der Nähe in Augenschein genommen. In den Regenwäldern am Amazonas, am Kongo oder auf Papua Neuguinea dringen Forscher immer wieder in bislang unbekanntes Terrain vor.
Im Himalaja wurden zwar die Achttausender schon alle bestiegen – die Gipfel der Sechstausender in Ost-Tibet aber sind weitgehend unberührt. Menschen haben nur wenige der dortigen 250 Gipfel erklommen.
Die Liste ließe sich fortschreiben. Dabei gilt die Welt als längst vermessen und das große Zeitalter der Entdeckungen als vergangen. Im 16. Jahrhundert stand noch Terra incognita auf den Landkarten, als Hinweis auf Gebiete, die noch nie von einem Europäer betreten worden waren. Der Begriff wurde zum Lockruf für Abenteurer und Forscher. Und noch heute lässt die Zuversicht und Risikobereitschaft staunen, mit der Alexander von Humboldt Ende des 18. Jahrhunderts für unbestimmte Zeit nach Südamerika aufbrach. Oder der Mut, der den Naturforscher Heinrich Barth jahrelang durch Nordafrika irren und alle Gefahren überstehen ließ.
Forscher füllen die „blanks of the maps“
Im Jahr 1883 sprach dann der britische Forscher und Präsident der Royal Geographical Society, Sir Clements Markham, zum ersten Mal von „blank of the maps“, was der Asienreisende Sven Hedin ins Deutsche übertrug. Er redete nun von „weißen Flecken“, die gefüllt werden müssten und nutzte das Schlagwort, um Förderer für seine aufwendigen Expeditionen nach Zentralasien zu gewinnen.
Heute sind alle Kontinente bekannt, alle Flüsse, Berge, Hochplateaus und Seen mit Namen versehen. Auf Globen und in Atlanten sind selbst viele Reliefs der Tiefsee faszinierend genau dargestellt, und vor allem in unseren Köpfen ist die Welt, nicht zuletzt durch Internet, Fernreisen und Dokumentationen über Arktis oder Ozeane zu einem Dorf geschrumpft. Wir glauben, alles zu wissen, zu kennen und zu überblicken. Das hat uns den Blick darauf verstellt, dass es Orte gibt, die sich weiterhin unserem Zugriff und unserer Kenntnis entziehen.
„Die Existenz von weißen Flecken ist auch eine Frage des Maßstabs“, sagt Manfred Buchroithner, Professor für Kartografie an der TU Dresden. Satelliten erfassen heute mehrmals täglich die Oberfläche der Erde. Einer der präzisesten, der deutsche TerraSAR-X, kreist auf einer millimetergenau festgelegten Umlaufbahn. Aus 514 Kilometer Höhe löst er unsere Welt in Quadrate von 1×1 Metern Größe auf. Jedes Quadrat ein Punkt auf einem Foto. „Einen Schwarzenegger kann man an seiner Schulterbreite erkennen“, scherzt Buchroithner. Die Fotos sind in der Tat erstaunlich detailliert.
Hochgebirgskartografen erfassen senkrechte Felslandschaften
Gleichwohl lässt sich nicht alles vom Himmel aus erkennen. Ein Pfad auf Felsterrain im Gebirge etwa. Oder das Wegenetz unter dem Blätterdach eines Urwalds. Vor allem übersehen die Satelliten riesige Flächen von Steilwänden im Hochgebirge, Hundert-tausende von Quadratkilometern, schätzt Manfred Buchroithner. Denn eine Steilwand – in den Anden, den Rocky Mountains, den Alpen, im Kaukasus oder im Himalaja – erscheint auf den Bildern von oben nur als Linie, mehr oder weniger breit – und nicht als Fläche.
Manfred Buchroithner kartografierte bereits in den 1970er Jahren unwegsame Schluchten in der Nähe von Faizabad in Afghanistan. Viele nur ein bis zwei Meter breit, aber unauslotbar tief. Niemand im Westen wusste bis dato, wie zerfurcht die Landschaft dort ist. Auf keinem Satellitenfoto waren die Schluchten aufgetaucht.
Seit Kurzem beginnen auch andere Hochgebirgskartografen systematisch, fast senkrechte Felslandschaften zu erfassen – samt Routen, Beschaffenheit und exponierten Stellen. Ganz neu ist eine 3D-Karte des Mount Everest, die vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt und dem Unternehmen 3D RealityMaps erstellt wurde: Sie präsentiert den höchsten Berg der Erde plastisch von allen Seiten. Wer dort in Not gerät, kann fortan seine Position punktgenau an die Bergrettung melden.
Unentdeckte Wüsten – so groß wie Belgien
Doch die Satelliten haben noch mehr blinde Flecken: Sie verraten fast nichts darüber, wie ein Ort aus der Nähe aussieht. Wie seine Geologie beschaffen ist, welche Pflanzen und Tiere dort leben. So existiert also trotz ausgefeiltester Technik nach wie vor Terra incognita. Nicht zuletzt in den Wüsten.
Der Kölner Geologe und Klimawissenschaftler Stefan Kröpelin erkundet seit mehr als 30 Jahren die Sahara. Im Oktober 2005 unternahm er seine bislang letzte Expedition zu einem weißen Wüstenfleck: in das Erdi-Ma, zu Deutsch „Feindesland“, eine Region so groß wie Belgien, eine Ödnis im äußersten Nordosten des Tschad, nahe der Grenze zu Libyen und dem Sudan. Kein Afrikaforscher hat sie je zuvor betreten. „Mich locken solche unerforschten Orte“, sagt Stefan Kröpelin.
Seine Reise beginnt in N’Djamena, der Hauptstadt des Tschad, und führt ihn auf einer 5000 Kilometer weiten Tour durch die Wüste. Kröpelins Begleiter sind ein Geograf, ein Botaniker, eine Ethnologin, ein Schriftsteller und ein Filmteam. Im Gepäck haben sie fünf Liter Wasser pro Kopf und Tag und 2000 Liter Diesel. Bald schon erweist sich die Reise als lebensgefährlich: Nahe ihrer Route überfallen sudanesische Rebellen einen Militär-posten, eine Panzermine zerfetzt einen Lastwagen.
„Ich bin kein Selbstmörder“, sagt Kröpelin, „aber ich nehme Risiken in Kauf, um Neuland zu betreten.“ Seine Position in der Wüste bestimmt er per Satellitennavigation. Eine Route zeigen die Geräte allerdings nicht an. Nach zwei Wochen erreicht die Gruppe die Mourdi-Depression, eine glühende Senke, in der die Hitze von über 60 Grad Celsius die Luft flirren lässt. Jeder trinkt täglich mehr als seine fünf Liter-Ration. Ständig versinken die Geländewagen im Sand und müssen mühsam wieder freigeschaufelt werden.
Video: Erdi-Ma
Run auf Ruhm und Audienz beim Präsidenten
Dann endlich: Erdi-Ma! Eine unwirkliche Marslandschaft aus rotem Sand und Geröll. Keine Pflanzen, kein Wasser. Aber eine hundert Meter hohe Felswand, an deren Fuß sich eine zisternenartige Ausbuchtung befindet. Offenbar wurde das Gestein vor langer Zeit von einem Wasserfall ausgehöhlt. Sie entdecken Zeichnungen im Fels – Krokodile und Kamele. Menschen müssen hier gelebt haben, vor vermutlich 9000 Jahren, als das Klima noch feuchter war.
Stefan Kröpelin füllt seine Notizbücher, macht Tausende Fotos und sammelt: bröckelige Seeablagerungen, Fossilien, Steinwerkzeuge, Splitter von Meteoriten.
Bis heute hat er seine Aufzeichnungen und Funde nicht vollständig aufgearbeitet. Lieber würde er die Reise noch einmal machen als alles niederzuschreiben, sagt er. Manche seiner Fachkollegen halten ihn für den letzten Afrikaforscher, andere nur für einen Abenteurer.
Es ist schwieriger geworden, mit Entdeckungen die Menschen einer ganzen Epoche zu elektrisieren, zu Ruhm und Reichtum zu kommen oder gar von Königen und Präsidenten zur Audienz geladen zu werden. Und doch lässt der Entdeckergeist die Neugierigen und Wissenshungrigen nicht los. Und nicht jeder Forscher verortet weiße Flecken nur am Erdboden – über die Lebenswelt von Insekten, Vögeln und Fröschen in den Baumkronen der Regenwälder ist zum Beispiel fast nichts bekannt, ob auf Madagaskar, den Philippinen, am Amazonas oder im Norden Australiens. Ohnehin zählen die Urwälder noch immer zu den wenig erforschten Regionen der Welt. Sie bergen nicht nur unbekannte große Tiere, sondern auch staunenswerte Naturwunder.
Tödlicher Goldschatz verbarg Wasserfall
Eines entdeckte vor elf Jahren der deutsche Entwicklungshelfer Stefan Ziemendorff im Nordosten Perus, in der Provinz Chacapoyas. Dort, 700 Kilometer von der Hauptstadt Lima entfernt, schlängeln sich zahlreiche Flüsse von den Anden zum Amazonas hinunter.
Der Urwald ist ein Refugium für Brillenbären und Pumas, Tukane, Kolibris und Papageien. Für das Volk der Gocta ist er ein magisches Universum. Die Indios erzählten Ziemendorff von einer weißhaarigen Sirene, die unterhalb eines Wasserfalls einen Goldschatz bewache und jeden in einen Fels verwandle, der sich ihr nähert. Den tollkühnen Juan Mendoza, einen der ihren, habe es schon erwischt. Man solle die Stelle auf jeden Fall meiden.
Die gruselige Geschichte weckte die Neugier des Entwicklungshelfers, er zog los und entdeckte im Urwald schließlich den Felsen, der einst Juan Mendoza gewesen sein soll – und einen gigantischen Wasserfall.
Als er im Februar 2006 mit einem Forscherteam den Wasserfall vermisst, macht das Ergebnis weltweit Schlagzeilen: der Gocta, wie sie ihn benannt haben, ist mit 771 Metern Fallhöhe der dritthöchste Wasserfall der Welt.
Video: Gocta
Ein weißer Fleck ist in der jüngsten Vergangenheit sogar größer geworden. Der Biologe Julian Gutt arbeitet am Alfred-Wegener-Institut und forscht „an allem, was unter dem Schelfeis der Antarktis liegt“. Gletschereis liegt auf der Antarktis und „fließt“ – wie alle Gletscher – langsam zum Rand. Schiebt sich der Eisschild über die Landmasse hinaus, spricht man von Schelfeis. Es hängt über dem Ozean, bis es schließlich abbricht.
Zehn Millionen unentdeckte Arten in der Tiefsee
„Klimabedingt sind seit den 1950er-Jahren rund ein bis zwei Prozent des Schelfeises abgebrochen“, sagt Julian Gutt. Die Fläche würde das Dreieck zwischen Hamburg, Bremerhaven und Hannover füllen. Die Welt unter dem Schelfeis ist ein unerforschter Lebensraum, der über Hunderttausende von Jahren hinweg von einem Eispanzer bedeckt war. Kein Licht konnte ihn durchdringen, keine Alge hier wachsen. Nur in geringen Mengen gelangte Plankton von der Seite her darunter.
Zwei Mal hat Julian Gutt „seinen“ weißen Fleck aufgesucht. „Ich habe zwar keine Alligatoren erwartet, die plötzlich aus dem Wasser springen“, sagt er – aber dann war er doch überrascht, dass dort unten Lebewesen vorkommen, die so groß werden können wie ein Mensch: Schwämme. Fasziniert schaute sich Gutt immer wieder die Unterwasser-bilder an. Und er erkannte neben den Schwämmen andere Arten, die eigentlich sonst nur in der Tiefsee leben – Seegurken, Haarsterne, Schnecken – die jedoch offenbar von 6000 Metern Tiefe auf 300 Meter aufgestiegen waren und sich dem deutlich niedrigeren Wasserdruck dort oben angepasst haben. Rund zwanzig Arten haben dieses Kunststück bisher fertiggebracht.
Die Tiefsee gilt als der größte weiße Fleck überhaupt. Wissenschaftler schätzen die Zahl der dort lebenden, noch unbekannten Arten auf eine bis zehn Millionen. „Über den Meeresboden weiß man faszinierend wenig“, sagt der Erlanger Geologe Karsten Haase. Die Oberfläche des Mars sei im Verhältnis genauer vermessen als die der Erde. Denn unser Planet ist zu rund zwei Dritteln vom Meer bedeckt.
Gigantische Schlucht in Zentral-Grönland
Haase war zuletzt im Juli 2013 im Pazifik unterwegs. An Bord des Forschungsschiffs Sonne erkundete er den Meeresboden um den Inselstaat Vanuatu. Das Inselgebiet liegt nordöstlich von Australien an einer tektonischen Bruchkante: Die Australische Platte schiebt sich dort unter die Pazifische. Entlang dieses Bruchs reihen sich aktive Vulkane aneinander, von denen die meisten unter der Meeresoberfläche liegen und noch niemals untersucht wurden. Seit längerem ist zwar bekannt, dass es in der Region um Vanuatu heiße Quellen am Meeresboden geben müsste. Nicht aber, wo und wie viele.
„Schon in 300 Metern Tiefe entdeckten unsere Kameras den ersten jungen Vulkan“, berichtet Haase. Viel weiter unten, in 1900 Metern Tiefe, stießen sie auf eine unerwartet karge Lebenswelt. Nur zwei heiße Quellen bildeten dort wahre Oasen des Lebens, mit Muscheln, Schnecken, Röhrenwürmern und Krebsen. Haase hatte im Umkreis der Vulkane eigentlich mehr Leben erwartet, wie etwa um die Vulkane vor Tonga, wo er schillernde Fischschwärme beobachten konnte. Warum sich ihm hier, vor Vanuatu, ein vollkommen anderes Bild bot, ist noch ungeklärt. „Erst jetzt habe ich gemerkt, wie wenig wir die tropischen Regionen kennen“, sagt er.
Kurz nach Haases Rückkehr gab im August 2013 ein internationales Forscherteam eine Entdeckung bekannt, die es sozusagen als Beifang gemacht hatte: Eigentlich wollten die Experten die Dicke des Grönland-Eises bestimmen und werteten dazu Radar-Bilder aus, die Nasa-Flugzeuge aus geringer Flughöhe gemacht hatten. Dabei bestimmten sie die Strukturen unter dem Eis und entdeckten: Dort erstreckt sich eine gigantische Schlucht – 750 Kilometer weit von Zentral-Grönland bis an den Nordrand des Schilds.
Wieder konnte ein weißer Fleck getilgt werden. An seiner Stelle wird nun diese Schlucht verzeichnet, die eineinhalb Mal so lang ist wie der Grand Canyon. Entdeckt vor wenigen Monaten, anno 2013.
Video: Schlucht in Grönland
Quellen: AP/SpiegelOnline/natur.de vom 08.12.2013
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