Es ist die hässliche Seite des deutschen Gesundheitssystems: Eine Kasse verweigert einer schwer depressiven Frau Krankengeld und Versicherungsschutz, weil sie nicht rechtzeitig zum Arzt konnte. Solche Fälle häufen sich, sagen Experten.
Der Anruf platzte in eine Zeit, als Sandra Wagner* gerade wieder Hoffnung schöpfte. „Die Reha in Bayern tat mir gut“, erzählt die 41-Jährige. „Ich war motiviert, wollte wieder arbeiten.“ Doch dann brach ihre Welt erneut zusammen. Am Telefon war der Sachbe-arbeiter ihrer Krankenkasse, der BKK Mobil Oil. Wagner konnte kaum fassen, was er sagte: Sie habe sich einen Tag zu spät bei ihrer Ärztin gemeldet. Sie verliere nun alles – ihren Anspruch auf Krankengeld und ihren Versicherungsschutz.
Wagner wirkt immer noch erschüttert, wenn sie von dem Anruf erzählt. Sie leidet unter schweren Depressionen, verbunden mit Sehstörungen und Ohnmachtsanfällen. Seit April vergangenen Jahres ist sie arbeitsunfähig. „Die Kasse wollte mich raus haben“, sagt sie, „weil ich zu teuer bin.“ Sie solle sich gesundschreiben lassen, habe der Sachbearbeiter gesagt, und sich beim Arbeitsamt melden.
Wagner erleidet einen Rückfall. Das bestätigt ihre Psychiaterin in einem Schreiben an die BKK, das SPIEGEL ONLINE vorliegt. Das „sehr fragwürdige Vorgehen“ der Kasse habe den Zustand der Patientin verschlimmert, „so dass die Therapie erneut forciert werden muss“.
Was Wagner erzählt, klingt unglaublich. Sie ist aber kein Einzelfall. Die Beschwerden über den Umgang der Kassen mit psychisch Kranken haben deutlich zugenommen. Die Unabhängige Patientenberatung (UPD) schreibt in ihrem Jahresbericht: „Psychische Erkrankungen sind die Einzeldiagnosen beim Beratungsthema ‚Krankengeld‘, die mit Abstand am häufigsten dokumentiert werden – insbesondere depressive Episoden und Störungen.“ Die Berater hätten „überdurchschnittlich häufig“ Hinweise auf Probleme – also „unberechtigte Ablehnung und Einstellung von Krankengeld durch die Krankenkasse“.
Wie es dazu kommt, erklärt Rolf Rosenbrock, Gesundheitsökonom und Chef des Paritätischen Wohlfahrtsverbands: „Das hat vor allem zwei Gründe. Erstens verbessert jedes eingesparte Krankengeld sofort die Bilanz der Kasse.“ Für den zweiten Punkt muss der Experte etwas ausholen. Es ist kompliziert: Seit 2009 bezieht sich der Risiko-strukturausgleich (RSA), der die Finanzen der Kassen ausgleichen soll, nur noch auf die Ausgabenseite.
Für besonders teure, chronisch erkrankte Versicherte bekommen die Kassen einen Ausgleich. Doch ausgerechnet psychische Krankheiten wie Depressionen, die in den vergangenen Jahren stark zugenommen haben, werden laut Rosenbrock „nicht hinreichend ausgeglichen“. Laut DAK sind in Deutschland jährlich 2,2 Millionen Menschen wegen psychischer Krankheiten arbeitsunfähig. In den vergangenen 15 Jahren nahm die Zahl der Fälle um 142 Prozent zu.
„Die psychisch Kranken stellen also einen Kostenfaktor für die Kassen dar“, sagt Gesund-heitsexperte Rosenbrock. Bedrängen gesetzliche Krankenversicherungen also gezielt depressive Menschen, um ihre Bilanz zu verbessern? Rosenbrock hält das für vorstellbar: „Solange chronisch Kranke ein finanzielles Risiko sind, gibt es für die Kassen einen Anreiz, ihnen Leistungen vorzuenthalten“, warnt er.
Jobcenter rät zur Klage
Für Sandra Wagner begann mit dem Anruf ihrer Kasse Ende Juni ein Alptraum. Dabei hat sie noch Glück, sagt sie heute: Ihr Freund hilft ihr beim Kampf gegen die BKK. „Ohne ihn hätte ich das wohl nicht geschafft.“ Der Freund klapperte die Behörden ab: Arbeits-agentur – nicht zuständig, Jobcenter – nicht zuständig, Sozialamt – nicht zuständig. Am nächsten Tag dann noch einmal ins Jobcenter. Dort riet man ihm, Hartz IV zu beantragen und Strafanzeige gegen die Kasse zu stellen.
Die BKK Mobil Oil ist die größte Betriebskrankenkasse, sie hat rund eine Million Ver-sicherte. Wagner und ihr Freund folgten dem Vorschlag des Jobcenters und zeigten den Sachbearbeiter und dessen Chefs an – wegen Nötigung. Die BKK teilte auf Anfrage von SPIEGEL ONLINE mit, die Vorwürfe sehr ernst zu nehmen und intern zu prüfen. Sollte der Sachbearbeiter sich wie von Wagner beschrieben geäußert haben, sei das „nicht in unserem Sinne, nicht Stil unseres Hauses und nicht tragbar“.
Währenddessen verschlechterte sich Wagners Zustand rapide: Die 41-Jährige hat schwere Anfälle, weigert sich aber zum Arzt zu gehen – wegen der ungeklärten Ver-sicherung. Dazu kommt die Angst um die 14-jährige Tochter. Diese ist über sie familienversichert – hat sie also auch keinen Versicherungsschutz?
Die Kasse weist das auf Anfrage zurück. „Frau Wagner und ihre Tochter waren zu keiner Zeit ohne Versicherungsschutz und konnten über den gesamten Zeitraum ärztliche Leistungen in Anspruch nehmen.“ Hintergrund sei „eine Auffangpflichtversicherung, die zum Tragen kommt, wenn die vorrangigen Versicherungstatbestände nicht greifen“.
Für Wagner klang das aber vor sechs Wochen noch ganz anders: In einem Schreiben der BKK vom 28. Juni heißt es: „Die Weiterführung Ihrer Versicherung hat nur fortlaufenden Bestand, wenn Ihre Arbeitsunfähigkeit durchgehend bescheinigt wird.“ Sie habe sich aber erst zwei Tage nach der Reha bei ihrer Ärztin gemeldet – „also nicht innerhalb der bis-herigen Arbeitsunfähigkeitszeit“. Und dann, in einem separaten Schreiben: „Ihre Ver-sicherung ab 19. Juni ist ungeklärt.“
Im Klartext: Weil Wagner nicht sofort nach der Reha, sondern erst am darauffolgenden Tag zum Arzt ging, sollte sie nicht nur ihr Krankengeld verlieren, sondern auch einen neuen Antrag zur freiwilligen Versicherung stellen.
Wagner und ihrem Freund reichte es. Sie schalteten eine Anwältin ein. Diese legte Be-schwerde gegen den Bescheid ein und beantragte einstweiligen Rechtsschutz. Das Ziel: Ein Richter soll entscheiden, dass Wagner versichert ist und die BKK ihr unrechtmäßig Krankengeld vorenthält.
Kasse verweist auf gesetzliche Vorgaben
Auch jetzt stellte sich die BKK stur: Wagner habe ihre Pflicht nicht erfüllt, eine durch-gehende Arbeitsunfähigkeit nachzuweisen. In einem Schreiben der Rechtsabteilung heißt es: „Auch von psychisch kranken Versicherten wird erwartet, dass diese sich regelmäßig bei einem Arzt vorstellen und sich weitere Arbeitsunfähigkeit rechtzeitig bescheinigen lassen.“ Dass der Lebensgefährte sie am Tag nach der Reha nicht zum Arzt bringen konnte, sei kein Argument: Es sei „nicht nachvollziehbar, dass die Antragsstellerin (Wagner) nicht auf den Hausbesuch eines Arztes und notfalls des Notarztes bestand“.
Dass es am Wohnort keine öffentlichen Verkehrsmittel gebe, falle „in den Verant-wortungsbereich der Antragsstellerin“ und sei „nicht der Antragsgegnerin (BKK Mobil Oil) anzulasten“.
Auf Nachfrage von SPIEGEL ONLINE begründet die Kasse ihr Vorgehen mit gesetzlichen Vorgaben, die „sehr strikt“ seien. Die BKK verweist dann auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts. Dieses habe zuletzt im Mai 2012 festgestellt, dass Versicherte die ununterbrochene Arbeitsunfähigkeit rechtzeitig bescheinigen müssen.
Dennoch zeigt die Kasse plötzlich ein Einsehen: „Aufgrund der vorgetragenen Ohn-machtsanfälle“ nehme man zugunsten von Frau Wagner einen Ausnahmefall an, nutze „Ermessungsspielräume“ und gewähre „Krankengeld rückwirkend ab dem 19. Juni 2013“. „Wir hoffen, dass wir Frau Wagner mit dieser Entscheidung entlasten und den weiteren Heilungsverlauf positiv unterstützen können.“
Sandra Wagner und ihr Freund können sich über diese Nachricht kaum freuen. „Der Schaden ist immens. Mein Freund konnte zum 1. Juli einen neuen Job nicht antreten, wir mussten ein Auto verkaufen und Hartz IV beantragen.“ Die beiden wollen die BKK Mobil Oil jetzt auf Schadensersatz verklagen.
Quellen: dpa/SpiegelOnline vom 08.08.2013
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