Amerikas schwindende Mittelschicht

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In seinem fünften Jahr im Weißen Haus muss sich Barack Obama einer bitteren Erkenntnis stellen: Gegen das Zerbröseln der amerikanischen Mittelschicht ist auch der Präsident ziemlich machtlos. „In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war die Mittelschicht der Motor unseres Wohlstandes“, sagte Obama vergangene Woche zum Auftakt einer zweimonatigen Kampagne für seine Wirtschaftspolitik. „Doch mit der Zeit hat dieser Motor zu stottern begonnen.“

Und zwar ganz gewaltig. Zwischen 39.418 und 118.255 Dollar: Wenn eine dreiköpfige Familie ein verfügbares Jahreseinkommen zwischen diesen beiden Werten hat, zählt es nach der gängigen Definition des Pew Research Center und den aktuellsten verfügbaren Zahlen zur amerikanischen Mittelschicht. Im Jahr 1971 fanden sich noch 61 Prozent der Amerikaner in dieser Gruppe der Bevölkerung. Vierzig Jahre später sind es nur mehr 51 Prozent. Jedes sechste Mitglied der Mittelschicht ging also binnen einer Generation verloren – und nur die wenigsten schafften den Aufstieg in höhere Einkommensschichten.

Das vergangene Jahrzehnt hat den Kern von Amerikas Gesellschaft noch weiter ausge-höhlt. Rund 85 Prozent der Mittelschicht-Amerikaner sind laut einer Pew-Umfrage vom August 2012 der Meinung, dass sie es heute schwerer haben als vor zehn Jahren, ihren Lebensstandard aufrechtzuerhalten.

Konservative Totalopposition

Obama muss zur Kenntnis nehmen, dass er den Abstieg der Mittelschicht von Monat zu Monat weniger auf die große Rezession und seinen Amtsvorgänger George W. Bush schieben kann. Auf seiner zweimonatigen Werbetour mit mehrfachen wöchentlichen Redeauftritten rührt der Präsident nun die Werbetrommel für sein „besseres Angebot für Amerikas Mittelschicht“.

Er schlägt vor, die Schlupflöcher in der Körperschaftsteuer zu schließen, den Steuersatz dafür von 35 auf 28 Prozent zu senken (25 Prozent für produzierende Betriebe) und den einmaligen Mehrerlös aus dieser Steuer in marode Straßen, Brücken und Schulgebäude zu investieren. Er möchte die Finanzwirtschaft zur Beteiligung an Anleihen mit dem schrillen Namen „America Fast Forward“ animieren und zu einer „Rebuild America Partnership“. Im Kern sind das privat-öffentliche Finanzierungsvereinbarungen, die durch buchhalterische Kniffe die Verschuldung der USA nicht erhöhen sollen.

Doch diese mit viel Pomp, Trara und eindrucksvollen Internetpräsentationen lancierten wirtschaftspolitischen Vorhaben sind aus drei Gründen ziemlich zweifelhaft.

Erstens sind sie eine politische Totgeburt. Die Republikaner blockieren im Kongress jedes neue Gesetz, das neue Staatsausgaben mit sich bringen würde. Derzeit ist im Licht dieser konservativen Fundamentalopposition nicht einmal sicher, ob die US-Regierung ab 1. Oktober ein Budget haben wird. Obamas Angebot, den Satz der Körperschaftsteuer zu senken, wenn gleichzeitig die Einmalerlöse daraus in die öffentliche Infrastruktur investiert werden, kostete die Republikaner nicht einmal ein müdes Lächeln. Je näher der 4. November 2014 rückt – der Tag der Zwischenwahlen zum Kongress –, desto unwahrscheinlicher wird es, dass Obamas Vorhaben jemals Gesetz werden.

Zweitens wirkt sein Bekenntnis zur Mittelklasse bei genauerem Hinsehen ziemlich fragwürdig. Am Dienstag etwa trat Obama in einer Lagerhalle des Versandhandels-konzerns Amazon in Tennessee auf. Mit der Wahl dieses Ortes für seine Rede wollte er dem Konzern dafür Anerkennung zollen, dass er die Schaffung von 5000 neuen Arbeitsplätzen in 17 Betriebsstätten angekündigt hat.

Verschwiegene Steuererhöhung

Doch in den Augen vieler kleiner Einzelhändler – klassischer Angehöriger der Mittel-schicht – ist Amazon mit seiner quasimonopolistischen Marktmacht, seinem mageren Stundenlohn von elf Dollar und seinen fragwürdigen Arbeitsbedingungen ein rotes Tuch. „Amazon ist die Verkörperung all dessen, was in unserer Wirtschaft falsch läuft“, ent-rüstete sich der Verband der unabhängigen Buchhändler in einem offenen Brief.

Drittens verschweigen der Präsident und seine Propagandisten, dass sie gleich zu Jahres-beginn die Steuerlast der Mittelklasse ordentlich erhöht haben. Im Zug der Einigung mit den Republikanern über die Fiskalklippe, also ein wirres Bündel an Einnahmener-höhungen und Ausgabensenkungen, ließ es Obama zu, dass die Lohnsteuer des Bundes von 4,2 auf 6,2 Prozent stieg (dazu kommen, je nach Bundesstaat, lokal unterschiedliche weitere Steuern). Laut Berechnungen des neutralen Tax Policy Center bedeutet das heute fast 1200 Dollar mehr an Steuern für alle Amerikaner, die zwischen 75.000 und 100.000 Dollar verdienen: jene Mittelschicht also, der Obama eigentlich ein „besseres Angebot“ machen will.

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Quelle: diepresse.com vom 05.08.2013

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