Usbekistan: Wo Lehrer und Ärzte zu Baumwoll-Sklaven werden

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Bei der Baumwollernte in Usbekistan werden jedes Jahr Millionen Menschen zur Arbeit gezwungen. Statt Schulkindern sind es jetzt Lehrer, Ärzte und Beamte, die in Schulen und Kliniken fehlen.

In Usbekistan ist es gefährlich, über Baumwolle zu sprechen. Vor allem, wenn man wie Umida Tschirikowa (Namen von der Redaktion geändert) meint, dass die Erntehelfer aufs Feld gezwungen werden. Sie redet nicht mehr öffentlich darüber, weil sie Angst hat. Der Geheimdienst ist hinter ihr her.

Buchara, eine Oasenstadt in der Wüste Kisilkum auf der alten Seidenstraße. Die Nach-mittagssonne lässt die Backsteine der Kuppeln und Minarette golden schimmern. Es duftet nach Sommer und frisch gebackenem Brot. Tschirikowa sitzt im Schatten eines Maulbeerbaumes auf dem Hauptplatz Labi-Hauz. Auf ihrem T-Shirt steht in Englisch: „Ich habe es satt, von Luft zu leben.“ Sie hat die SIM-Karte aus ihrem Handy genommen, weil sie davon überzeugt ist, der Geheimdienst wähle sich irgendwie in ihr Telefon ein, um sie zu kontrollieren.

Im vergangenen Jahr ist die Bürgerrechtlerin und Journalistin auf die usbekischen Baumwollfelder gegangen. Sie hat fotografiert und darüber geschrieben. Der Regierung in Taschkent hat das nicht gefallen. „Ich wurde verhaftet, verhört, geschlagen.“

Tschirikowa hat seitdem genug vom Adrenalin, das sie früher so liebte. Sie arbeitet inzwischen an etwa drei Abenden in der Woche als Ansagerin bei Hochzeitsfeiern. „Ich darf die Braut vorstellen, den Bräutigam, das Kind, den Hund.“ Sie lacht zaghaft über den versuchten Witz. Als Tschirikowa geht, folgen ihr zwei Männer in Lederjacken. Zwei andere folgen den Reportern. Wenn Usbeken mit Besuchern über Baumwolle reden, machen sie sich den Staat zum Feind.

Das Land wird mit harter Hand regiert

Usbekistan, seit zwei Jahrzehnten unabhängig von Moskau, ist ein staubiges, in Furcht erstarrtes Land. Präsident Islam Karimow regiert mit harter Hand seit 21 Jahren. Die größten Geldscheine sind nur noch ein paar Cent wert, selbst in Taschkent fällt beinahe täglich der Strom aus. Es gibt zwei Dinge, die dieses siechende Land am Leben erhalten. Eines findet sich unter der Erde – Erdgas. Das andere wächst auf wogenden Feldern, wo immer die Bewässerungsleitungen hinreichen: Baumwolle. Zwei Drittel der land-wirtschaftlichen Fläche werden zum Anbau genutzt. Usbekistans Wappen umkränzt rechts ein Bund Getreide, links eine Baumwollpflanze.

1919 hatte Wladimir Iljitsch Lenin angeordnet, Mittelasien müsse den gesamten Baumwollbedarf der Sowjetunion decken. Die Usbeken gehorchten. Das Wasser für den Anbau nahmen sie aus den Flüssen Amurdaja und Syrdaja – den größten Zuflüssen des Aralsees; in der usbekischen Sprache wird er gar als Aralmeer bezeichnet.

Wegen der Baumwolle ist er heute aber eher eine Aralwüste. Ein weißer Belag aus Pestiziden und Salzen liegt auf dem ehemaligen Seeboden. Umweltschützer sehen in der Austrocknung des Aralsees eine der größten ökologischen Katastrophen unserer Zeit.

Schulkinder mussten auf die Felder

Usbekistan gehört neben den USA und Indien zu den Top Drei der Baumwollexporteure weltweit. Für diesen Spitzenplatz zwang der Staat viele Jahre lang Schulkinder auf die Felder. Bis zu zwei Millionen Kinder ab neun Jahren wurden jeden Sommer und Herbst statt in die Klassenzimmer auf die Felder geschickt. Im vergangenen Jahr war erstmals alles anders.

Oppositionelle Journalisten und Bürgerrechtler wundern sich, sind sich aber einig: Es gab 2012 – von wenigen Ausnahmen abgesehen – keine Kinderarbeit auf usbekischen Baumwollfeldern. Am 19. Oktober zog Präsident Karimow ein vorläufiges Fazit – von Pathos getränkt. 3,35 Millionen Tonnen Roh-Baumwolle seien bereits von den Feldern. Ein „Sieg der Arbeit“, eine „Übererfüllung des Fünfjahresplans“. Aber wer hat die Millionen Tonnen gepflückt, wenn es nicht die Kinder waren?

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Ein Baumwollfeld in der Nähe der Provinzhauptstadt Dschizzak, etwa 200 Kilometer südwestlich von Taschkent. Die braune Landschaft hat alle anderen Farben verschluckt, am Horizont falten sich die Hügelketten des Nurota-Gebirges. Samenbüschel hängen an hüfthohen Sträuchern, weiße Fetzen, zart, als könne sie der Steppenwind jeden Moment fortwehen. Auf diesem Feld schuftet die Hälfte der Belegschaft der 8. Sekundarschule von Dschizzak.

„Jeder ist freiwillig hier“

Da ist der Sportlehrer Oyser. Ein Held auf dem Feld, seit er einmal 100 Kilogramm Baumwolle an einem Tag sammelte. Die Norm liegt bei der Hälfte. Buchron, der Lehrer für Arbeitskunde, erklärt seinen Schülern normalerweise, wie Pflugscharen funktionieren und wie ein Haus gebaut wird. Jetzt zeigt er, wie man den Leinensack, in dem die Baum-wolle gesammelt wird, tief um die Hüfte schlingt, damit am Ende des Tages der Rücken von der kiloschweren Last nicht allzu sehr schmerzt.

Und da ist Gulasal, die Hort-Erzieherin. Sie bringt den Frauen ihrer Arbeitsgruppe Melonenstücke zur Erfrischung. Gulasal singt gern russische Kinderlieder, und ihr strahlendes rundes Gesicht lässt keinen Platz für Zweifel, als sie sagt: „Jeder ist freiwillig hier. Die Ernte ist Ehre und Pflicht.“

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Am Rande des Feldes geht ein Mann im Trainingsanzug auf und ab. Er ist der Schul-direktor. Erst später am Tag erzählen die Erntehelfer, dass es in der Nacht eine Versammlung gegeben habe. Die Kreisverwaltung ist unzufrieden, also ist jetzt auch der Direktor unzufrieden. Das Kollektiv erfüllt die Norm nicht. Wer nicht härter arbeitet, hat er gedroht, wird entlassen.

Der Arbeitseinsatz reißt Lücken

Wer auch immer im Staatsdienst tätig ist, kann zur Arbeit auf dem Feld herangezogen werden: Lehrer, Ärzte, Krankenschwestern, Postboten, Arbeiter im Wasserwerk. In Schichten von zehn oder 15 Tagen arbeiten sie als Baumwollpflücker. Eine Berufsgruppe, die schon das sowjetische Fernsehen zu Erntezeiten allabendlich mit einem Lied anheizte: „1000 Mal lebt hoch ihr Baumwollpflücker, lebt hoch, ihr Arbeiter des Goldes!“

Der Arbeitseinsatz reißt woanders Lücken: Eltern, die mit ihrem kranken Kind in die Kinderklinik kommen, werden an das allgemeine Krankenhaus verwiesen. Denn die Spezialisten sind auf dem Feld. Chirurgen organisieren postoperative Behandlungen am Telefon. In den Kleinstädten hat manch eine Poliklinik gleich ganz geschlossen. Auf den Fensterscheiben kleben Zettel, darauf steht nur ein Wort: „Baumwolle“.

In Dschizzak herrscht Ausnahmezustand. Nicht mal Gemüse kann man vor 17 Uhr kaufen. Erst dann kehren die ersten Händler vom Feld zurück zu ihren Marktständen. Dass einzelne Gemeinden ihre Bürger zum organisierten Ernteeinsatz rufen, ist nichts Neues. Wer nicht mitmacht, bekommt das irgendwie zu spüren.

Tagsüber blockiert die Polizei die Hauptverkehrswege von Dschizzak, indem sie alte Ladas querstellt. Niemand soll sich in der Stadt frei bewegen können, so lange noch ein Fetzen „weißes Gold“ auf den Feldern ist. „Manchmal fängt die Polizei einfach Leute auf der Straße ab, bringt sie aufs Feld und zwingt sie, zehn Kilogramm zu pflücken“, berichtet ein Aktivist aus dem Ort. Auch die Colleges, in denen Schüler ab 15 Jahren lernen, stehen leer. Sie gelten als Erwachsene und sind im Ernteeinsatz. An anderen Schulen sind zwar die Schüler da, aber es findet sich niemand mehr, der sie unterrichtet.

Schulen ohne Lehrer

Mit beiden Füßen trampelt Buchron auf seinen Sammelbeutel ein, er schafft Platz für noch mehr Baumwolle. Der Arbeitskunde-Lehrer ist ein magerer Mann mit einer Reihe von Goldzähnen, die blitzen, wenn er lächelt. Und er lächelt oft. Manchmal sieht es so aus, als stütze der volle Beutel den kleinen Mann und nicht umgekehrt. Buchron arbeitet ohne Pause.

Bückt sich, steht auf, bückt sich, steht wieder auf. Jedes Mal die Hand voll weißer Flocken. 200 Sum, umgerechnet acht Cent, bekommt er pro Kilogramm. Er muss das Mittagessen bezahlen und den Bus, der die Truppe aufs Feld gefahren hat. Am Ende des Tages hat er etwa drei Euro verdient.

Viele seiner Kollegen schlingen sich Tücher um Kopf und Gesicht, sie tragen dicke Wollhandschuhe. Sie schützen sich so vor der Sonne, die fast weiß und grell vom Himmel brennt, vor den spitzen Zweigen der Sträucher, die stechen und kratzen, und den Resten der Herbizide, mit denen das Feld aus der Luft besprüht wurde, damit die Blätter von den Pflanzen fallen und die Pflücker besser an die Büschel herankommen. Der jahrzehnte-lange Einsatz der Pestizide rächt sich. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen leiden 97 Prozent aller Frauen in der Aralsee-Region an Blutarmut.

Wegen der schlechten Wasserqualität und Schadstoffen in der Muttermilch sterben deutlich mehr Mütter und Säuglinge als im Landesdurchschnitt. Die Baumwolle mag Usbekistan Devisen bringen, aber sie bringt auch Tuberkulose, Krebs, Allergien und Infektionen. Vor diesen Krankheiten schützen keine Tücher. Buchron pflückt sowieso ohne. Natürlich sei die Chemikalie gefährlich, sagt er. „Aber das hier ist Baumwolle, unser Brot, unser Gold.“ Und wer unterrichtet die Kinder in ihrer Schule. „Die Alten machen das“, sagt Buchron. „Die Kranken“, ruft Oyser herüber.

Der Staat kauft die Ernte auf

Der Staat ist in Usbekistan der übermächtige Akteur im Baumwollgeschäft. Auch wenn die ehemaligen Kolchosen in Privatbetriebe umgewandelt wurden, so bleibt die Kontrolle über Boden und Produktion doch bei der Taschkenter Zentralregierung. Die Bauern dürfen weder darüber bestimmen, was sie anbauen, noch, an wen sie verkaufen.

Die gesamte Baumwollernte wird zu einem willkürlich niedrig festgesetzten Preis vom Staat aufgekauft. Der schreibt den Gebietsverwaltungen Quoten vor, die diese dann mithilfe der öffentlich Angestellten zu erfüllen versuchen. Kein unfreier Bauer kann es sich leisten, seine zwangsbestellten Felder von regulär beschäftigten Mitarbeitern abernten zu lassen. Das wäre viel zu teuer. In Usbekistan gibt es nach internationalen Schätzungen 3,3 Millionen Arbeitslose. Aber die zwangsverpflichteten Lehrer, Ärzte und Krankenschwestern bekommen nur ein paar Cent pro Kilogramm Rohbaumwolle. Der Weltmarktpreis für Baumwollfasern liegt bei etwa 1,50 Euro pro Kilo.

Zu den größten Abnehmern usbekischer Baumwolle gehören Bangladesch, China, Russland, Südkorea und Indien. In diesen Ländern betreiben viele europäische und US-amerikanische Textilfirmen ihre Nähereien. Zwar wächst seit Jahren die Zahl der Firmen, die Baumwolle aus Usbekistan offiziell boykottieren – zu den mehr als 80 Unterzeichnern des Boykotts gehören Tesco, H&M, Adidas, C&A, Walmart, Levi Strauss, Marks & Spencer und Gucci. Doch praktische Konsequenzen ergeben sich daraus kaum. Denn auch die Zulieferer der Textilfirmen haben Zulieferer. Die Baumwollfasern gehen von der Spinnerei in die Weberei und dann in die Näherei. Bis an den Anfang dieser Kette reicht der Einfluss der Firmen nicht.

Usbekistan und das alte Griechenland

Dmitri Kossjakow ist Bürgerrechtler in Taschkent. Er gehört zu jener Gruppe, die Informationen über die Zustände auf den Feldern außer Landes schmuggelt. Es sind Einzelkämpfer, aufgerieben vom ständigen Druck der Sicherheitsbehörden. Kossjakow vergleicht Usbekistan gern mit dem alten Griechenland. Nicht wegen der Demokratie oder der Architektur. „Ein Sklavenhandel wie im antiken Griechenland ist das hier“, sagt er.

Und wie immer überschlägt sich seine laute Stimme, wenn er sich empört. Er lacht höhnisch, als er erzählt, dass er zuletzt zu umgerechnet 1200 Euro Geldstrafe verurteilt wurde, weil er eine Demonstration vom Straßenrand aus verfolgte. Im eigenen Wohn-zimmer senkt er die Stimme, aus Furcht vor Richtmikrofonen. Dmitri Kossjakow sitzt nicht gern, und wenn er steht, dann nie still.

Eigentlich ist der 52-Jährige Flugzeugingenieur. Vor sieben Jahren wurde ihm gekündigt, weil er sich bei der Stadtverwaltung über seinen korrupten Chef beschwerte. Seitdem repariert er Autos. Einen richtigen Job findet er nicht mehr. Er sagt, jedes Mal, wenn eine Firma ihn nehmen wolle, funke der Geheimdienst dazwischen und untersage die An-stellung. „Sie machen einen nicht immer mit physischer Gewalt und Gefängnis fertig. Sie sorgen dafür, dass du keine Arbeit hast, und drücken dich so zu Boden.“

Er filmt versteckt auf den Feldern

Kossjakow setzt seine Fähigkeiten nun anders ein. Er hat eine Saftpackung so umge-staltet, dass er darin eine Videokamera verstecken kann. Er sitzt im Beiwagen am Motorrad seines Freundes Sergej und filmt, was immer ihm auf den Baumwollfeldern vor die Linse kommt. Die Festplatte seines Computers ist voller verwackelter Videos und unscharfer Szenen. Aber es sind diese Bilder, die weltweit von NGO’s veröffentlicht werden. Kossjakows Stimme beruhigt sich, als er sagt: „Vielleicht war es tatsächlich auch unser Verdienst, dass 2012 keine Kinder auf den Feldern waren.“

„Aber“, und schon überschlägt sich die Stimme wieder, „unser Kampf wird weitergehen, solange es Zwangsarbeit auf den Feldern gibt.“ Dann zeigt Kossjakow auf den jungen Mann, der im Sessel in seinem Wohnzimmer Platz genommen hat. „Solche Geschichten wie die von Abdulkosim wollen wir verhindern.“

Abdulkosim Latipow ist schon seit einigen Wochen wieder zu Hause in Taschkent. Doch die Baumwolle hat Spuren hinterlassen. Seine Hände sind rau und aufgeplatzt vom Kontakt mit den Herbiziden, die Haut will nicht heilen. Er ist vor wenigen Tagen aus dem Krankenhaus entlassen worden. Dort wurde er wegen einer hartnäckigen Bronchitis behandelt. Die hat sich der Physiotherapeut eingefangen, als er zwei Wochen lang in einem geräumten Kindergarten irgendwo in der usbekischen Provinz auf dem kalten Fußboden schlafen musste.

„Warst Du im Konzentrationslager?“

Abdulkosim Latipow ist Anfang 20. Der Chefarzt des Krankenhauses, in dem Latipow arbeitet, sagte, wenn er nicht zur Ernte fahre, schmeiße er ihn raus. Latipow ist jung, viel jünger, als die anderen Physiotherapeuten in seiner Abteilung. Er dachte, er würde es schaffen. Er schaffte es nicht. Zum Frühstück gab es heißes Wasser und einen Kanten Brot, erzählt Latipow. Wasser zum Waschen gab es nicht. Seine Brigade musste um vier Uhr morgens aufstehen und zehn Kilometer zum nächsten Feld wandern. Sie pflückten bei 40 Grad in der Sonne. Sie ekelten sich vor dem dreckigen Brunnenwasser, das in Tanks am Feldrand stand. Irgendwann war es ihnen egal, sie tranken einfach.

Anfangs pflückte Latipow 37 Kilogramm am Tag. Als der Husten anfing, waren es nur noch 15. Keiner aus seiner Gruppe wurde bezahlt, sagt er. Und als er nach Taschkent zurückkehrte, schlug seine Mutter die Hände vors Gesicht und sagte: „Wo warst du denn? Im Konzentrationslager?“ Wenn man ihm von den Lehrern in Dschizzak erzählt, die von „Pflicht und Ehre“ in der Baumwollernte sprechen, lächelt er schüchtern. „Das sind vielleicht Patrioten, aber ich glaube nicht, dass auch nur ein Einziger diese Arbeit gern macht.“ Er zuckt mit den Schultern. Wie die Lehrer in Dschizzak weiß auch er schon genau, was er im Herbst tun wird. Baumwolle ernten.

Quellen: dpa/WeltOnline vom 02.06.2013

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