Was als kleiner Aufstand in einem sächsischen Dorf begann, beschäftigt jetzt das Bundesverfassungsgericht: Weil das Land ihre Schule schließen will, organisieren Eltern den Unterricht selbst – unterstützt von Rentnern und Großeltern. Lässt sich so das Schulsterben bekämpfen?
Sophie besucht die fünfte Klasse, jeden Tag sechs Stunden, Unterrichtsausfall gebe es nicht, versichert ihr Vater. Trotzdem standen auf ihrem offiziellen Zeugnis zuletzt 88 Fehltage, unentschuldigt. Ihre Versetzung sei gefährdet.
Eigentlich, sagt Sophie, sei ihre Klasse ganz normal. Bei ihnen komme nur ständig das Fernsehen. Der MDR filmte sie schon, RTL und das ZDF. Die „Bild“-Zeitung berichtete, die „Super Illu“, der SPIEGEL. Denn für ihre Klasse organisiert nicht das Land den Unterricht, sondern die Eltern. Sie holten Lehrer aus dem Ruhestand und baten Großeltern, in der großen Schulpause nach dem Rechten zu sehen.
An Sophies Heimatort Seifhennersdorf lassen sich Probleme veranschaulichen, die ganz Deutschland betreffen. Es geht um Landflucht, eine alternde Bevölkerung und die Frage, wie die Politik damit umgeht, wenn sich ein Dorf in ein Altersheim verwandelt. Mitten-drin die 11-jährige Sophie und ihre Mitschüler, deren Eltern und die Bürgermeisterin. Die sagt, sie habe einen Eid geschworen, stets das Beste für ihre Gemeinde zu tun.
Die Bürgermeisterin Karin Berndt, eine kleine Frau mit großen, schnellen Schritten, wurde vor 56 Jahren in Seifhennersdorf geboren. Damals lebten rund 8000 Menschen in dem Ort an der deutsch-tschechischen Grenze. Wenn sie heute durch die Straßen fährt, zeigt sie auf Häuser und sagt: „Abriss.“ „Abriss.“ „Hier wohnt noch eine Dame.“ Dann wieder: „Abriss.“ „Abriss.“ Es klingt hoffnungslos. Dabei glaube sie an ihren Ort, sagt sie.
Rund 4000 Einwohner hat der Ort heute und drei Schulen: Grundschule, Mittelschule und Gymnasium. Die Mittelschule will Sachsen schließen. Für die Bürgermeisterin kommt das einem Todesurteil gleich. Das Land will der Gemeinde die Zukunft nehmen, so sieht sie das.
Wie der Streit eskalierte
Für Sophie beginnt am Dienstag um 7.30 Uhr der Unterricht. Ihr Klassenzimmer liegt in der ersten Etage, die umliegenden Räume stehen leer. Vor der Tür mahnt ein Plakat: „Auch mit Lügen u. Intrigen lassen wir uns nicht unterkriegen.“ Sophies Lehrerin spricht sehr langsam, geht sehr langsam, vor 16 Jahren hat sie den Schuldienst offiziell verlassen. Jetzt arbeiten sie und die anderen sieben Lehrer ehrenamtlich. Zwölf Schüler sitzen an zwölf Tischen, damit ist die Klasse bis auf einen kranken Schüler vollzählig. Eine Klasse, die es offiziell nicht gibt.
Deswegen hat der Landkreis für jedes Kind schon Bußgeldbescheide verschickt – wegen Schulschwänzen. Die ersten hat ein Amtsgericht bereits kassiert. Es werde anständig unterrichtet, urteilte der Richter. Weitere Verfahren werden folgen. Die Eltern rufen wegen all dieser Gerichtskosten immer wieder zu Spenden auf.
Sie bekommen Zuspruch aus ganz Deutschland, denn sie sind nicht die einzigen, die für ihre Schule kämpfen. Sie rebellieren, weil das sächsische Kultusministerium im August festgestellt hat, „dass das öffentliche Bedürfnis für die Einrichtung der Klassenstufe fünf der Mittelschule Seifhennersdorf im Schuljahr 2012/13 nicht besteht“, so steht es in einem Brief an die Bürgermeisterin.
Wer aber entscheidet, wann eine Schule geschlossen werden muss? Das Land? Der Kreis? Die Gemeinde? Schließlich hat letztere ein Recht auf kommunale Selbstverwaltung, so steht es im Grundgesetz. Seit zwölf Jahren kämpft der Ort schon für die Schule. Es ist ein komplizierter Streit, der im Rathaus 28 Aktenordner füllt. Inzwischen ist er beim Bundesverfassungsgericht angekommen; denn das Verwaltungsgericht Dresden hat den Fall Seifhennersdorf gegen Sachsen im Februar nach Karlsruhe weitergereicht. Das Gericht will im Sommer entscheiden; das Urteil wird auch andere sterbende Schulen interessieren.
Wobei das Kultusministerium daran weniger interessiert zu sein scheint – es hat inzwischen einen Vergleich angeboten: Wenn der Ort alle Klagen fallen lässt, unterstützt das Ministerium eine Schule in freier Trägerschaft. Doch die Bürgermeisterin lehnt ab, so schnell ließe sich kein freier Träger finden.
Mehr als tausend Schulen geschlossen
Sie hat die Aktenordner zum Streit stets griffbereit. Immer wieder geht es darin um den Schulnetzplan, er regelt, wann welche Schule schließen soll. 1995 besuchten in Sachsen noch rund 777.000 Kinder und Jugendliche die Schule, die Zahl hat sich fast halbiert. Etwa 700 Schulen haben seit der Wiedervereinigung geschlossen.
Auch Sophies Schule hätte laut Plan längst keine Schüler mehr aufnehmen sollen. Schließlich sagten die Prognosen für den Ort stark schrumpfende Kinderzahlen voraus. Die Bürgermeisterin sagt, die Realität sehe anders aus: Es gebe Bedarf für drei Schulen – jetzt und in Zukunft. Die Seifhennersdorfer glauben, dass die Politik unehrlich arbeitet. „Als Patient will man doch eine ehrliche Diagnose“, sagt die Bürgermeisterin.
So habe die sächsische Kultusministerin Brunhild Kurth ihr vor Zeugen das Bestehen der fünften Klasse zugesichert. Kurth bestreitet das. Und zum Stichtag im vergangenen Jahr hatten sich 41 Schüler angemeldet. Doch plötzlich zählte das nicht mehr, weil drei Schüler auf Empfehlung noch zum Gymnasium gingen. Damit fehlten zwei Schüler für die erforderliche Mindestzahl. Die 38 Kinder sollten sich auf umliegende Schulen verteilen.
Die Behörden berufen sich auf Beschlüsse, auf Urteile, auf Gesetze, kein Fehlverhalten ihrerseits – nur übersehen sie dabei vielleicht die Menschen, die der jahrelange Kampf zermürbt. Die Kultusministerin sagte bei einer Plenarsitzung im Landtag sogar: Die Seifhennersdorfer stellten eine Gefahr dar für das „friedliche Zusammenleben“ – und alles auf dem Rücken der Kinder.
Tja, die zwölf Kinder.
Von einer so kleinen Klasse träumen viele. Aber kann sich das an Lehrermangel leidende Sachsen so eine komfortable Situation leisten? Geht es hier überhaupt noch um die Schule? Oder wollen Eltern und Bürgermeisterin die Hoffnung nicht aufgeben, dass ihr Ort überlebt? Den Glauben daran, dass es sich lohnt zu kämpfen? Wollen die Politiker mit aller Macht verhindern, dass auch andere Eltern rebellieren? Geht es noch um die Kinder?
Sophies Vater sagt, er frage sich oft, ob die Kinder litten, ob er ihnen mit seinem Kampf etwas Gutes tue. „Ich kann nur sagen: Mein Kind geht gern in die Schule. Solange das so ist, machen wir nichts verkehrt.“
Die Lehrerin sagt, die Kinder seien langsam müde. „Sie merken, dass sie ein Problem darstellen.“ Sophie sagt, sie habe Angst, an einer anderen Schule eine Klasse wiederholen zu müssen, Angst, sich dort zu langweilen.
Auf ihrem inoffiziellen Zeugnis ist sie nämlich eine gute Schülerin mit vielen Einsen, Zweien und zwei Dreien auf dem Zeugnis. Es läuft also. Nur ein paar mehr Schüler wären nicht schlecht. Nur 13 Kinder in einem alten Haus machen auf Dauer eben doch etwas einsam.
Quelle: SpiegelOnline vom 10.06.2013
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Respekt vor den Eltern, Lehrern und Schülern und der BGM`in Frau Berndt!!
Allerdings haben alle noch nicht realisiert, dass ihr Problem nicht eine regionale Entgleisung des „demokratischen Rechtsstaates“ ist, sondern auf einem NICHTVORHANDENSEIN eines Rechtsstaates beruht.
Die Unbildungsinstitute in der BRD glauben noch immer, im kleingeistigen Armdrücken „ihren Überlebensplatz“ zu sichern, statt diese Form der Unbildung generell in Frage zu stellen.
Solange Dorf A sich gegen Dorf B ausspielen lässt und alle Bürger zur Scheinwahl tappseln, dort ihren „demokratischen“ Kandidaten ankreuzen, weil seine Visage etwas modischer inszeniert ist, solange ist das Licht aus in Deutschland.
Wo Kritik ist – soll auch ein Rat nicht fehlen:
Lehrt euren Kindern zuhause nach der Schule die Wahrheit! Überlasst sie nicht den Propagandisten und kümmert euch derweil feige ums Fernsehprogramm oder die Öffnung der überbordernden „Briefpost“ des Systems.
Lasst die Briefe liegen, ignoriert das Regime und kümmert euch lieber um die geistige Hygiene eurer Kinder.
Das sagt euch ein Vater, der den Kampf angenommen hat und dabei Erfolg verzeichnet.
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