Profit über alles: Für Jean Ziegler ist der Hunger in der Welt die Folge grenzenloser Habsucht räuberischer Oligarchen des globalisierten Finanzkapitals und der Weltwirtschaftsordnung (NWO). Alles nicht neu. Doch bemerkenswert in seinem aktuellen Buch über „die Massenvernichtung in der Dritten Welt“ beschrieben.
Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren – in einer Welt, die einen irrwitzigen Überfluss produziert und eigentlich viel mehr Menschen ernähren könnte. Für Jean Ziegler ist Welt-Hunger vor allem ein Verteilungsproblem, ein Systemfehler, eine Schande, ein Skandal, ein organisiertes Verbrechen, ein Massenmord, den es augenblicklich zu beenden gilt. Wer wollte da widersprechen?
Lange braucht Ziegler auch in diesem Buch nicht, um die Schuldigen zu benennen. Auf Seite 17 ist es so weit: Schuld am Hunger ist die grenzenlose Habsucht der räuberischen Oligarchen des globalisierten Finanzkapitals. Schuld ist die erdumspannende Macht der transkontinentalen Agrokonzerne und Hedgefonds, die auf Lebensmittelpreise speku-lieren. Schuld ist die Wirtschaftsordnung, die den Profit über das Wohlergehen der Menschen stellt. Schuld sind Freihandel und Biotreibstoff und Landgrabbing.
Schuld ist: die Gier.
Das alles ist nicht überraschend. Zieglers Feindbilder sind bekannt: Der Neoliberalismus ist für ihn ein unzähmbares Monster, der Humus für jene CEOs, die in ihren durch-gestylten Führungsetagen über Leben und Tod entscheiden.
Natürlich kann einer wie er über Hunger unendlich viel erzählen. Er kennt den Kalorien-bedarf der Menschen in jeder Altersklasse, er kennt die Hirnschäden und Behinderungen, mit denen Kinder auf die Welt kommen, deren Mütter unterernährt sind. Er weiß, was Hunger anrichten kann: die Auszehrungen, die Mundparasiten, die infizierten Atemwege, die sich selbst aufzehrenden Muskeln, die Schmerzen. Und schlimmer noch: Er weiß, wie wenig es braucht, um all das zu verhindern.
Genug Einblicke, um fassungslos zu sein
Jean Ziegler, Bürger der Republik Genf, Soziologe, emeritierter Professor, ehemaliger Abgeordneter im Eidgenössischen Parlament, ehemaliger Sonderberichterstatter der UN für das Recht auf Nahrung, ehemaliges Mitglied der UN-Task-Force für humanitäre Hilfe im Irak, ist heute Vizepräsident des beratenden Ausschusses des UN-Menschen-rechtsrats. Er hat genug Einblicke, um fassungslos zu sein.
Er beobachtet das große Geschacher lange genug von innen, er hat gesehen, wie schmierige Deals immer zugunsten der Reichen ausgehandelt werden, wie sich Länder vor ihrer Verantwortung drücken, wie Politiker lieber die Hände aufhalten, als sie zu benutzen, wie Staaten willenlos herumlavieren. Er hat die Ministererklärung zur Auf-hebung der Exportsubventionen gelesen und dann beobachtet, wie die Verhandlungen nie über das Stadium von Absichtserklärungen hinausgingen.
Während in Dritte-Welt-Ländern wie Haiti oder Sambia unter dem Diktat des Inter-nationalen Währungsfonds den dortigen Bauern die Subventionen schon vor Jahren gestrichen wurden. In Haiti müssen die ruinierten Reisbauern jetzt den Reis der Amerikaner kaufen, zum Weltmarktpreis. In Sambia ist die Kindersterblichkeit seitdem explodiert.
Gerechtigkeit? Ziegler hat Weltgipfel für Ernährungssicherheit miterlebt, bei denen sich die westlichen Staatschefs nicht mal die Mühe machten, so zu tun, als interessiere sie der Welthunger. Er kennt all die Oxfam-Studien und FAO-Grafiken – Zahlenkolonnen, die alles beziffern, aber nichts bewirken. Warum sollte er diplomatisch sein, ausgewogen oder gar gerecht?
Jean Ziegler stand in der Hitze Nigerias und musste mit ansehen, wie Schwestern der Mutter Teresa in einem Ambulatorium verhungernde Mütter mit ihren sterbenden Kindern zurück in die Savanne schickten, weil sie nicht genug Mittel hatten, um alle zu retten. Er hat gesehen, wie sich die Hungerkrankheit „Noma“ durch Kindergesichter frisst, und auch, mit welcher Gleichgültigkeit World Health Organisation und Staatschefs darauf reagierten. Ziegler sagt: Hunger ist Politik, kein Schicksal.
Hedgefondsmanager betrachtet er als „schäbiges Raubgesindel“, transkontinentale Privatkonzerne als „Kreuzritter des Neoliberalismus“. Die G-8/G-20-Länder seien „fulminante Heuchler“, World Trade Organisation, Internationaler Währungsfonds und Weltbank die „drei apokalyptischen Reiter des Hungers“. Und die Vereinten Nationen seien ein „bürokratischer Dinosaurier“, angeführt von einem „untätigen und farblosen“ Südkoreaner.
Fakten, Anekdoten und ein paar Indiskretionen
All das schreibt Jean Ziegler, unterlegt mit Fakten und Anekdoten und ein paar Indiskretionen. Er wurde so oft von so vielen verklagt, und ein bisschen Gepolter verkauft sich einfach besser. Diesmal sind vor allem die Nahrungsmittelspekulanten dran, die er „Tigerhaie“ nennt, weil Spekulant und Hai die Opfer über viele Kilometer aufspüren und dann vernichten.
Für Verfechter der Totalliberalisierung des Marktes ist das Kinderkram. Für Jean Ziegler, den alten Kämpfer, ist es eine Frage des Anstands, sich aufzulehnen gegen ein System, das der Mehrheit keine Chance gibt.
Er betritt eine brasilianische Zuckerrohrfarm nicht von vorne, durch die protzigen Büros der Zuckerbarone, sondern von hinten, durch die ärmlichen Siedlungen der Zucker-rohrschnitter, die selber mal Bauern waren, nicht reich, aber satt. Jetzt kaufen sie, was sie früher selbst angebaut haben. Sie sind der Menschenschrott, der übrig bleibt, wenn riesige Agrobetriebe und Zuckerrohrbarone ehemaliges Staatsland unter sich aufteilen, um abzusahnen bei der gigantischen Agrotreibstoff-Zockerei – von der Regierung abgesegneter Landraub.
Jean Ziegler tingelt schon so lange als Globalisierungsgegner durch die Welt, dass sein Spekulanten-Bashing fast schon zu erwartbar ist. Andererseits: Wenn nicht einmal mehr Leute wie er aufschreien würden, wer dann?
Quellen: PRAVDA-TV/sueddeutsche.de vom 30.04.2013
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