Pharmakonzerne, Wissenschaftler und Fachmagazine veröffentlichen kaum Misserfolge in der Forschung. Die Ergebnisse vieler Studien bleiben unbekannt.
Es ist eine lange Liste von Ausreden, die der Pharmakonzern Roche den Forschern der Cochrane Collaboration vorlegte. Roche hatte versprochen, alle Daten zur Wirksamkeit des Grippemedikaments Tamiflu zur Verfügung zu stellen, doch ein Team um den Grippeexperten Peter Doshi wartet bis heute auf deren Vollständigkeit.
Die Begründungen, warum die Daten den Forschern nicht überlassen werden können, wirken teilweise surreal. So sei es nicht möglich, den Forschern Zugang zu den Daten zu geben, da bereits andere Wissenschaftler an einer Analyse arbeiteten. Außerdem, so Roche, habe man Vorbehalte, weil einige der beteiligten Forscher sich in der Vergangenheit öffentlich über Tamiflu kritisch geäußert hätten.
Das Beispiel Tamiflu zeigt, wie schwer es Wissenschaftler oft haben, Zugriff auf medizinische Studienergebnisse zu erhalten. Zum einen werden oft nur Zusammen-fassungen publiziert, aber nicht die detaillierten Protokolle, die für unabhängige Reanalysen von Studienergebnissen notwendig sind.
Zum anderen werden nur etwa die Hälfte aller medizinischen Studien, die durchgeführt werden, später auch veröffentlicht. Besonders problematisch: Studien mit positiven Ergebnissen werden häufiger publiziert – und Medikamente erscheinen wirksamer, als sie sind.
Weitgehend nutzlos
Deutlich zeigte sich das etwa am Beispiel von Antidepressiva. Eine Untersuchung betrachtete alle Studien, die zu zwölf sogenannten selektiven Serotoninwiederaufnahme-hemmern bei der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA angemeldet wurden. Von 38 Studien mit einem positiven Ergebnis wurden 37 veröffentlicht. Hingegen gab es 36 Studien mit einem negativen Ergebnis – davon schafften es nur drei in die wissenschaftliche Fachliteratur.
Als dies bekannt wurde, führte ein Team der Cochrane Collaboration eine erneute Analyse mit allen Studiendaten durch: Bei leichten und mittelschweren Depressionen sind die Antidepressiva weitgehend nutzlos, lediglich bei starken Depressionen konnte ein Effekt nachgewiesen werden.
Das Phänomen, dass lediglich Studienergebnisse mit einem bestimmten Ergebnis veröffentlicht werden, ist in der Wissenschaft als Publikationsbias bekannt. Derartige Verzerrungen aufzudecken ist schwer und macht Forschern wie denen der Cochrane Collaboration, die Metaanalysen durchführen, die Arbeit nicht leicht. Bei einer Metaanalyse wird versucht, alle in der Vergangenheit durchgeführten Studien zu einem Thema zusammenzufassen.
Die Praktiken der Pharmaunternehmen hat der britische Guardian-Journalist und Arzt Ben Goldacre in seinem neuen Buch „Bad Pharma“ zusammengefasst. Die von Goldacre beschriebenen Möglichkeiten zur Verfälschung von Studiendaten sind vielfältig. So enthalten etwa Verträge zwischen Medikamentenherstellern und Wissenschaftlern häufig Klauseln, die dem Unternehmen die Hoheit über die Studiendaten garantieren. Ohne Zustimmung dürfen die Studienergebnisse nicht publiziert werden.
Studienregister
Auch das Veröffentlichen der Vereinbarung selbst ist den beteiligten Forschern und Universitäten meist untersagt. Eine Lösung für das Problem des Publikationsbias könnten Studienregister sein, bei denen Studien vor ihrem Beginn registriert werden müssen. Somit ist gewährleistet, dass negative Daten nicht unter den Tisch fallen.
Ein solches Register gibt es bereits in den USA. Durch den FDA Amendments Act 2007 sind Forscher – theoretisch – verpflichtet, medizinische Studien zu registrieren und spätestens ein Jahr nach ihrer Fertigstellung zu veröffentlichen.
„Der FDA Amendments Act fordert nur die Veröffentlichung von Studien nach 2008“, erklärt Ben Goldacre die Probleme der US-Regelung. „Wir brauchen aber alle Studien, die an Menschen durchgeführt wurden, inklusive älterer Studien, für alle Medikamente, die aktuell im Einsatz sind.“
Eine Untersuchung im Fachmagazin British Medical Journal sah sich die in den USA registrierten Studien im Jahr 2011 an. Nur rund ein Viertel der gemeldeten Studien wurden in der geforderten Zeit publiziert. Von der Pharmaindustrie finanzierte Studien schnitten dabei mit 40 Prozent im Vergleich noch deutlich besser ab als die unabhängig von der Industrie finanzierte Forschung, die nur in 9 Prozent der Fälle rechtzeitig veröffentlicht wurden.
Verheerende Ergebnisse
Trotz dieser verheerenden Ergebnisse wurden bislang in keinem einzigen Fall Strafzahlungen beteiligter Unternehmen oder Forscher verfügt. Der demokratische Kongressabgeordnete Ed Markey brachte kürzlich einen Gesetzentwurf in die Diskussion, der die Lücken in der bisherigen Regelung schließen soll. Insbesondere soll auch für Studien im Ausland, wenn sie für die Medikamentenzulassung herangezogen werden, eine Registrierungspflicht bestehen.
„Während es in den USA zumindest kleine Fortschritte gibt, fehlt in Deutschland ein entsprechendes Gesetz bislang völlig“, erklärt Gerd Antes, Direktor des deutschen Cochrane-Zentrums, der taz. „Zumindest die Registrierung aller medizinischen Studien sollte eine Selbstverständlichkeit sein.“
Das British Medical Journal, eine der wichtigsten medizinischen Fachzeitschriften, hat auf Goldacres Buch reagiert und angekündigt, ab 2013 nur noch solche Studien zu veröffentlichen, aus denen sämtliche Studiendaten, darunter auch die umfangreichen Studienprotokolle und die anonymisierten Daten über einzelne Studienteilnehmer, Wissenschaftlern zur Verfügung gestellt werden.
Außerdem drängt die Zeitschrift darauf, dass die Cochrane Collaboration von Roche alle gewünschten Daten zu Tamiflu erhält. Es geht um viel Geld: Viele Länder, darunter auch Deutschland, haben Tamiflu auf Vorrat gekauft, um es im Falle einer Grippepandemie einzusetzen. Läuft die Mindesthaltbarkeit ab, muss entschieden werden, ob diese Vorräte erneuert werden.
Quelle: taz.de vom 06.01.2013
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