Weniger, lokaler und fröhlicher: Eine neue Form der Arbeit ist möglich, meint der Sozialphilosoph Frithjof Bergmann, wie in der einstigen Industriestadt Detroit. Heute werden Fabrikgelände in Beete und Äcker verwandelt. Gesunde Nahrung, eine kommunikative Gemeinschaft und ein natürliches Leben im Einklang mit der Umwelt.
taz: Herr Bergmann was ist neu an der „Neuen Arbeit“?
Frithjof Bergmann: Die alte Arbeit ist die Arbeit, die man tun muss, und die Neue Arbeit ist die Arbeit, die man wirklich wirklich tun will. Sie ist menschenentwickelnd statt menschenverzweifelnd. Sie ist die Arbeit, die Kraft gibt und sinnstiftend ist. Und – das möchte ich besonders betonen – sie findet vor Ort, lokal statt. Die Menschen produzieren vor Ort.
Wieso ist das so wichtig?
Ziel ist die Entwicklung eines neuen Arbeitssystems – und dafür ist es allerhöchste Zeit. Ein Teil ist die Entwicklung einer Grundwirtschaft am Ort. Heute ist es möglich, nahezu alles, was man zum Leben braucht, vor Ort herzustellen; also nicht nur Obst und Gemüse, Butter und Käse.
Man kann am Ort auch Elektrizität selbst herstellen, Zement und Möbel – und sogar Kühlschränke, Mikrowellen, Autoersatzteile und medizinische Hilfsmittel. Statt auf kolossale Fabriken setzen wir auf kleine Werkstätten. Das Ziel dabei ist wirtschaftliche Unabhängigkeit.
Sie sagen, zwanzig Stunden Arbeit sind genug. Reicht das wirklich, um damit seinen Lebensunterhalt decken zu können?
Das ist eine Frage, die immer als Erstes gestellt wird. Die Lohnarbeit teilt sich auf in zehn Stunden Grundarbeit und zehn Stunden einer Arbeit, die man tun will. Und gemeinsam – ich möchte betonen: gemeinsam –, nicht allein, kann man so viel herstellen, dass die Kosten zum Leben sehr gedrückt werden können.
Das Modell geht davon aus, dass die Menschen gemeinsam kleine Werkstätten aufbauen und parallel dazu neue Unternehmen gründen, die sich vor allem dadurch unterscheiden, dass man dort nur zehn Stunden arbeiten kann. Aber für diese zehn Stunden wird man gut bezahlt.
Wie lange braucht eine Gesellschaft, um dieses Modell leben zu können, und wie weit ist die Umsetzung Ihrer Vision?
Das ist auf jeden Fall ein Prozess. Er hat schon begonnen, auch in Deutschland. Die Idee einer neuen Wirtschaft findet immer mehr Anhänger. Am weitesten in der Umsetzung ist derzeit die Stadt Detroit (Titelfoto) – besonders bekannt sind dabei die urban gardens von Detroit: Überall in der Stadt wird Gemüse angebaut, die Stadt ertrinkt schon fast in dem vielen selbst hergestellten Gemüse.
Ein wichtiger Schritt sind auch andere Wohnformen. Auch hier gibt es viele Modelle. Ein Modell ist das sogenannte co-housing, wo die Menschen in Gemeinschaften leben, aber trotzdem ihre Individualität erhalten.
Wie sähe die Welt aus, wenn alle Gesellschaften nach Ihrem Modell leben würden?
Die Welt würde sich verändern. Nicht nur unsere Gesellschaft. Da die Menschen alles vor Ort selbst herstellen könnten, bräuchten sie ihre Länder und Kontinente nicht mehr zu verlassen. Auch Landflucht würde aufhören. Die Spaltung in Arm und Reich könnte überwunden werden. Die Menschen, die jetzt von Armut bedroht sind, weil sie sich nicht selbst helfen können, würden völlig neu motiviert, sich selbst zu versorgen.
Auch das Internet ist bei dieser Entwicklung hilfreich. Es ermöglicht neue Formen des Lernens – sogenanntes long-distance-learning.Schon heute verfügt unser Netzwerk über eine Vielzahl von Koryphäen, die gern in der Wissensvermittlung tätig werden. Und ich glaube, das Modell der Neuen Arbeit würde dazu beitragen, dass die Menschen fröhlicher werden, weil sie das tun können, was sie wirklich wollen.
Frithjof Bergmann, 82, ist emeritierter Professor für Philosophie und Anthropologie an der University of Michigan in Ann Arbour. 1984 gründete er die Bewegung „New Work – New Culture“, zunächst um den vielen Menschen, die nach der Schließung mehrerer Automobilwerke ihren Job verloren hatten, eine neue Perspektive zu geben. Im Zentrum steht die Forderung nach einem sinnerfüllten und selbstbestimmten Leben, bei dem die Menschen dort, wo sie leben, dezentral die Arbeit tun, die sie wirklich tun möchten.
Das von Bergmann postulierte Modell der Neuen Arbeit geht davon aus, dass die heutige Arbeitswelt mit dem Zwang, Geld verdienen zu müssen, eine Folge des auf Wachstum ausgerichteten Wirtschaftssystems ist.
(Foto: Patrick Crouch, der Leiter der Earthworks Farm, erklärt Freiwilligen, was zu tun ist)
Gärten in Detroit – Hier wächst die Hoffnung
An der Decke der Fabrik haben sich Tropfsteine gebildet. Der Wind fegt durch die Produktionsräume, die Splitter in den Fensterrahmen beginnen zu klingen. Durch die eingeschlagenen Fenster kann man eine Wiese sehen: Kräftige Bäume stehen um ein Stück freigelegter Erde. Ein kleiner Garten, noch im Winterschlaf. Jemand hat ein Schild aufgestellt: Anderson Community Garden. In ein paar Wochen wird hier, gegenüber der Fabrikruine Fisher Body 21, frisches Grün sprießen. Verfall und Wachstum sind in Detroit Nachbarn.
Speramus Meliora – Wir hoffen auf Besseres – steht auf der Flagge der Stadt. Wie einst die Fabriken sind es heute die Gärten, die Besuchern das Gefühl geben, dass Detroit eine Zukunft hat. Seit den neunziger Jahren hat bei Fisher Body 21 niemand mehr gearbeitet. Früher wurden hier Cadillac-Karosserien gebaut. Die Autoindustrie war Detroits wichtigster Wirtschaftsfaktor. In den fünfziger Jahren schienen die Förderbänder der Fabriken bares Geld zu transportieren.
Detroit stand für Chrom und kraftvolle Motoren. Heute stehen in der Stadt mehr Ruinen als in Rom oder Athen: leere Wolkenkratzer und Kinos, Wohn- und Gotteshäuser. Rund eine Million Menschen haben „Motortown“ seit der Blütezeit verlassen. Ganze 713.777 Einwohner hat die Stadt heute noch. Das Stadtgebiet jedoch ist so groß wie San Francisco, Boston und Manhattan zusammen.
Willie Spivey ist einer von denen, die geblieben sind. Er arbeitet auf der Earthworks Farm, einem gemeinnützigen Gartenprojekt in Detroits Eastside, nur fünf Minuten Fahrtzeit von den Hochhäusern in Downtown entfernt. Zwei Morgen Land, etwas mehr als 8000 Quadratmeter, gehören zu der Farm, die mithilfe von Freiwilligen Obst und Gemüse in Bioqualität anbaut. In der näheren Umgebung der Felder ist der Verfall besonders deutlich. Viele der Häuser haben vernagelte Fenster. Manche sind abgebrannt. Es gibt einige Gewerbegebäude, eine Tankstelle. Dazwischen liegt Brachland. Und ein Franziskaner-Kloster mit akkurat gestutzten Bäumen.
„Bevor ich anfing, bei Earthworks zu arbeiten, stand ich für mein Essen in der Suppenküche des Klosters an.“ Willie Spivey ist 56 Jahre alt. Früher hat er sich als Hilfsarbeiter verdingt. Im Jahr 2009 reichte das nicht mehr, um Essen zu kaufen. Es war das Jahr der Finanzkrise. In Detroit gab es drei Mal mehr Arbeitslose als in jeder anderen amerikanischen Stadt: Ganze 22 Prozent der Bevölkerung waren ohne feste Stelle. Was in Detroit auch bedeuten kann: Ohne Zugang zu gesunder Nahrung. Die Nahrungskette in der Stadt ist gerissen.
Quelle: zeit.de (inkl. Videos) vom 05.05.2011
Gärten zwischen Ruinen
Entvölkerte Wohngebiete – Detroit ist eine urbane Wüste in der Größe von San Francisco. Selbst in scheinbar schönen Straßen sind viele Häuser vernagelt, so zum Beispiel auch das Haus einer Legende der Stadt: von Grace Lee Boggs. Die heute 92-jährige Aktivistin hat mit allen Größen der Bürgerrechtsbewegung, wie etwa Malcolm X, zusammengearbeitet.
Und sie hat die Hoffnung für Detroit nicht aufgegeben. Sie sagt: „Wir haben Platz, mit dem wir etwas anfangen können. Und das bietet eine Chance. Das ist so toll daran, dass ich so lange in dieser Stadt und in diesem Haus gewohnt habe. Ich kann das Ganze als Niedergang einer Stadt sehen – oder als die Geburt einer ganz neuen Art von Stadt.“
Zum Beispiel einer grünen Stadt. Boggs arbeitet mit zahlreichen Gruppen wie „The Greening of Detroit“ zusammen, die die posturbanen Flächen der Stadt als Chance begreifen. Wenn viele Grundstücke von der Natur zurückerobert werden, warum nicht gleich ein richtiger Anbau? Inzwischen gibt es inmitten von Detroit Hunderte von Gärten, auf denen Landwirtschaft betrieben wird – eine fruchtbare Alternative für viele Arbeitslose, wie Marilyn Barber von „Greening of Detroit“ erklärt: „Auch wenn es das alte Motown nicht mehr gibt: Hier wohnen immer noch Menschen, die essen müssen. Es ist eine neue Einkommensquelle.“
Das ist ganz im Sinne von Grace Lee Boggs, die mit Vorträgen und Kommentaren uner-müdlich für ihre Vision einer lebenswerten Stadt des 21. Jahrhunderts kämpft. Und sie gibt sich optimistisch: „Wir sind heute viel weniger polarisiert. Der Grund dafür liegt vor allem darin, dass wir heute mehr daran denken, wie wir die Stadt wieder aufbauen. Das bedeutet, dass es wichtiger ist, Verbündete zu finden, mit denen man zusammenarbeiten kann. Und Leute schauen eher, wer ihnen helfen kann, und nicht nach der Rasse.“
Quelle: 3sat.de vom 07.01.2008
Zweiteilige Dokumentation in englischer Sprache:
Quellen: PRAVDA-TV/Reuters/taz.de vom 04.01.2013
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