Gewissenlose Pharmafirmen testen Medikamente an nichtsahnender indischer Bevölkerung

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Über Forschungsagenturen lassen westliche Pharmakonzerne Medikamente in Indien testen. Viele Probanden sind Analphabeten und ahnen nicht, dass sie ein Placebo erhalten – oder ein Medikament, das noch nicht zugelassen ist.

Wenn Ameena lächelt, entblößt sie die klaffenden Lücken in ihrem Mund. Sie hat nur noch einzelne, schief stehende Zähne. Bei ihrem Mann sieht es nicht anders aus. „Unser Geld reicht geradeso für das Essen“, sagt Ameena. Extras wie ein Zahnarztbesuch sind da nicht drin. Die 62-Jährige und ihr Mann leben in Pithampur, einer kleinen Siedlung aus notdürftig mit Plastikplanen und Lehm geflickten Hütten. Die Toilette ist das freie Feld hinter dem Dorf. Ihr ganzer Stolz ist ihre Kuh und einige Ziegen, die sie züchten, um von dem Ertrag irgendwie zu überleben.

Als Ameena vor ein paar Jahren krank wurde und Probleme mit dem Herzen bekam, brachte ihr Mann sie mit dem Bus in das staatliche Krankenhaus der Millionenstadt Indore, ungefähr eine Autostunde vom Dorf entfernt. Dort erhofften sie sich bezahlbare Hilfe. Der Arzt verordnete Ameena Tabletten.

„Was das für Tabletten waren, weiß ich nicht“, erzählt sie. Der Arzt bat sie, einige Papiere zu unterschreiben. „Aber ich kann nicht lesen und schreiben, deshalb weiß ich nicht genau, was das war. Ich habe meinem Arzt vertraut, dass er mich heilen kann.“ Einige Papiere habe sie deshalb mit ihrem Daumenabdruck abgezeichnet.

Jetzt ist Ameenas Name nach Recherchen des WDR auf einer brisanten Liste aufgetaucht: Es handelt sich um eine interne Aufstellung der indischen Polizeibehörde. Auf dieser Liste stehen Namen und Adressen von 81 Menschen, die an medizinischen Versuchen im Raum Indore teilgenommen haben – für die unterschiedlichsten Pharmafirmen und Medikamente. Aus der Liste geht hervor, dass Ameena eine Versuchsperson in einer klinischen Studie des Pharmakonzerns Bristol-Myers Squibb war, die in Zusammenarbeit mit dessen KonkurrentenPfizer durchgeführt wurde.

Eingeklemmt unter dem Wellblechdach, damit das Papier bei der nächsten Flut trocken bleibt, hat Ameena eine zerknitterte Medikamentenschachtel verwahrt. Auf ihr klebt noch ein Siegel von Bristol-Myers Squibb und es findet sich die Aufschrift: „Vorsicht neues Medikament. Laut US-Gesetz nur für den Test-Gebrauch bestimmt“. Auch die Versuchsnummer CV 185-048 ist zu lesen.

Mithilfe dieser Nummer ist die Arzneimittelstudie im amerikanischen Register schnell gefunden. Denn nur Studien, die dort zu Beginn registriert werden, können anschließend für die Zulassung des getesteten Medikaments in den USA verwendet werden. Im Register ist zu erfahren, dass die Studie immer noch andauert und nachweisen soll, ob der Gerinnungshemmer Apixaban bei Patienten mit Vorhofflimmern einen Schlaganfall effektiver verhindert als Acetylsalicylsäure, besser bekannt unter dem Markennamen Aspirin.

„Außerdem soll die Sicherheit dieser Behandlung getestet werden“, heißt es weiter in der Studienbeschreibung. In den USA läuft der Zulassungsantrag gerade auf der Basis eines anderen Versuchs – wurde aber erneut aufgeschoben, weil die US-Zulassungsbehörde FDA im Juni von Bristol-Myers Squibb und Pfizer weitere Informationen verlangt hat. In Europa ist der Wirkstoff zwar zugelassen, aber nur, um nach dem Einsatz eines künst-lichen Knie- oder Hüftgelenks Thrombosen zu verhindern; nicht jedoch bei Vorhof-flimmern.

Bristol-Myers Squibb erklärt auf Nachfrage zu dem Fall von Ameena: „Wir legen hohe Maßstäbe in Bezug auf unser ethisches Verhalten. Unsere Medikamente entsprechen den von den (indischen) Zulassungsbehörden vorgeschriebenen Anforderungen.“ Ameena aber bleibt bei ihrer Aussage: Ihr Arzt habe sie nie darüber aufgeklärt, dass sie bei einem Versuch mitmache. „Ich bin wütend, dass der Arzt das mit meiner Frau gemacht hat“, sagt ihr Mann.

Der Arzt erklärt, momentan zwei verschiedene Versuche zu Herzmedikamenten durch-zuführen. Für welche Firmen will er aber nicht offenlegen. Analphabeten würde er dabei so gut wie nie einbeziehen. „Und wenn doch, dann muss jemand dabei sein, der den Patienten alles genau erklärt.“ Auf die Vorwürfe angesprochen, dass Patienten be-haupten, nicht richtig aufgeklärt worden zu sein, reagiert er unwirsch. „Das sind falsche Anschuldigungen.“

Ein Jahresgehalt als Vorabzahlung 

Tatsache ist: Indische Ärzte verdienen an solchen Tests mehr als durch ihre Tätigkeit in einem staatlichen Krankenhaus. Aus internen Unterlagen geht hervor, dass ein Mediziner für einen Versuch allein als Vorabzahlung schon mal 3500 Euro bekommt. Das entspricht in etwa einem Jahresgehalt für junge Ärzte an staatlichen Krankenhäusern in Indien. Aus weiteren Unterlagen gehen angebliche Geschäftsreisen hervor, zu denen die Mediziner von westlichen Pharmafirmen eingeladen wurden, der Arzt von Ameena zum Beispiel nach Frankreich.

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So gut wie alle großen Pharmafirmen testen mittlerweile Medikamente außerhalb von Europa und den USA, etwa in Indien. Bayer war dabei im Jahr 2011 ins Gerede geraten, weil die Firma in fünf Fällen Entschädigungen gezahlt hatte, als Menschen während Versuchen von Bayer in Indien gestorben waren – umgerechnet rund 4000 Euro pro verstorbener Person.

Damit Medikamente in Europa oder den USA zugelassen werden können, müssen sie verschiedene Testphasen durchlaufen, die die Sicherheit und Wirksamkeit nachweisen sollen. Das verschlingt Zeit und Geld. Dabei laufen die Firmen oft ein Wettrennen gegen den Ablauf des Patentschutzes, der bereits mit der Entdeckung des Wirkstoffs beginnt. Jeden Tag, den eine Firma ein Medikament früher auf den Markt bringen kann, bedeutet deshalb bares Geld.

Tests in Indien sind dabei billiger als in der westlichen Welt. Auch gibt es mehr potenzielle Versuchsteilnehmer. Die Forschungsagentur Quintiles, eine „Contract Research Organization“, kurz CRO, die für viele große Pharmaunternehmen Tests in Indien durchführt, wirbt auf ihrer Internetseite damit, dass es in Indien „große Bevölkerungsgruppen mit weit verbreiteten oder auch speziellen Krankheitsprofilen gibt“. Dies erlaube eine „schnelle Patientenrekrutierung und einen schnelleren Studien-Start“.

Damit Tests zur Zulassung in Europa oder auch den USA verwendet werden können, unterliegen sie strengen Richtlinien. Diese fußen auf der Helsinki-Deklaration des Weltärztebundes. Dort steht unter anderem, dass die Versuchspersonen, egal wie arm oder ungebildet, über den Versuch aufgeklärt werden müssen.

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Vijay hat in seinem Leben noch nie etwas von der Helsinki-Deklaration gehört. Der Mann, dessen Name hier geändert ist, steht ebenfalls auf der internen Untersuchungsliste der indischen Polizei und lebt in Indore. Wegen seines chronischen Lungenleidens (COPD) wollte er sich am staatlichen Zentrum für Thoraxerkrankungen behandeln lassen.

Sein dortiger Arzt habe ihn angesprochen, ob er nicht in seine private Klinik kommen möchte. „Er sagte mir, dass sie Medizin für mich hätten, die mich heilen könnte. Tabletten aus dem Ausland. Kostenlos. Man forderte mich dann auf, ganz viele Papiere zu unterschreiben. Aber der Arzt sagte mir: Das sind nur Formalitäten, sonst nichts.“ Auch er wurde nicht misstrauisch. Tabletten aus dem Ausland – das klang für ihn gut.

Heute sieht Vijay das anders. Denn auch er war eine Versuchsperson – für die Firma Boehringer Ingelheim. Auch Vijay hat noch eine Packung der Tabletten, die er nahm, im Haus. Auf der Schachtel das Boehringer-Ingelheim-Logo, die englische Aufschrift „clinical trial“ für klinische Studie und wieder die Versuchsnummer, unter der die Studie zu finden ist. Auf dem Beipackzettel in der Schachtel steht: Die Tabletten enthalten entweder das bereits zugelassene Mittel Formoterol oder ein Placebo.

„Grundsätzlich werden die Patienten per Zufallsprinzip den einzelnen Studienarmen zugeordnet“, so Boehringer Ingelheim. Das heißt, Vijay hätte unter Umständen monatelang mit einem Placebo, also einer wirkungslosen Attrappe, behandelt werden können. Und das alles ohne sein Wissen, wenn es stimmt, was er behauptet: dass sein Arzt ihm nichts davon gesagt hat.

Boehringer erklärt auf Nachfrage, dass von dem betreffenden Patienten eine unter-schriebene Einverständniserklärung vorliege und die Firma bei allen Versuchen weltweit den Regeln von „nationalen, regionalen und internationalen Behörden“ und der guten klinischen Praxis folge, welche wiederum auf der Helsinki-Deklaration fußen. Boehringer verweist außerdem darauf, dass die zuständige lokale Ethikkommission in Indore dem Versuch zugestimmt habe. Bei der Ethikkommission handelt es sich um eine so genannte unabhängige Ethikkommission, die in einem Diabetes-Institut in Indore ansässig ist.

„Man zahlt an die Kommission, und man bekommt den Stempel.“

Dem indischen Arzt und Medizinjournalisten Chandra Gulhati sind die unabhängigen Ethikkommissionen ein Dorn im Auge. Er war selbst jahrelang Mitglied einer solchen Kommission. „Einfach jeder kann in Indien eine unabhängige Ethikkommission gründen und Zulassungspapiere ausstellen“, so Gulhati. „Man zahlt an die Kommission, und man bekommt den Stempel. So einfach ist das.“

Die Patientenrechte würden viele Ethikkommissionen in Indien leider nicht schützen, so Gulhati. „Alle machen Geld: Die Pharmafirma, der Arzt, das Krankenhaus. Auf Kosten des Patienten.“ Den ausländischen Pharmafirmen sei dies bewusst. „Genau deshalb kommen sie ja nach Indien“, sagt Gulhati.

Mittlerweile testen allerdings die meisten Pharmafirmen nicht mehr selbst. Sie lassen testen – eben von den Forschungsagenturen, den CROs. Diese organisieren die Studien, führen sie durch und werten sie bei Bedarf auch gleich aus. Eine der weltweit größten Agenturen ist die international operierende Firma Quintiles. Sie betreibt auch ein großes Büro in Mumbai. In den Jahren 2006 bis 2010 war Quintiles laut ihrer Webseite an mehr als 1500 Studien mit insgesamt 750 000 Patienten beteiligt, hat geholfen, 48 von den weltweit 50 bestverkauften Medikamenten mit auf den Markt zu bringen. Einer dieser Versuche ist der an dem lungenkranken Vijay.

Der indische Arzt und Menschenrechtler Amar Jesani beobachtet diesen Trend kritisch. Bereits mehrmals hat er gemeinsam mit der niederländischen Nichtregierungs-organisation Wemos auf die Missstände bei klinischen Versuchen in Entwicklungsländern aufmerksam gemacht und fordert schärfere Kontrollen. „Was in der Folge passiert ist? Die Pharmafirmen haben viel von der Drecksarbeit, die sie früher selbst gemacht haben, an die CROs abgegeben“, so Jesani. „Trotzdem bleiben die Pharmafirmen weiterhin verantwortlich.“

Dieser Meinung ist auch Peter Sawicki, der das Institut für Qualität und Wirtschaftlich-keit im Gesundheitswesen geleitet hat und heute an der Universitätsklinik Köln lehrt. Dass Pharmafirmen ihre Studien teilweise ins Ausland verlagern, sei allein nicht ver-werflich, so Sawicki. „Allerdings sind die Firmen dafür zuständig, die Qualität und die Durchführung solcher Studien zu verantworten.“

Patienten und Angehörige nicht darüber aufzuklären, dass ein medizinischer Versuch stattfindet, sei „schlicht kriminell“, so Sawicki: „Ich hätte nicht geglaubt, dass es so etwas im Jahr 2012 noch gibt.“ Solche Studien dürften wegen des Verstoßes gegen die Helsinki-Deklaration in Europa gar nicht für eine Zulassung verwendet werden, sagt er. Die europäische Arzneimittelzulassungsbehörde EMA hat sich jedoch zu den konkreten Fällen trotz mehrmaliger Nachfrage nicht geäußert.

Für Kamla Bai und ihre Familie kommen solche Diskussionen zu spät. Auch der Name ihres Mannes steht auf der Untersuchungsliste. Mannalal war Teil eines medizinischen Versuchs für das Herzmittel Prasugrel von der Pharmafirma Eli Lilly. Er starb am 27. April 2009, noch während er an dem Versuch teilnahm. Das Medikament, um das es ging, wurde wenige Wochen vor Mannalals Tod in Europa zugelassen – auf der Basis eines anderen Versuchs, der eher abgeschlossen wurde.

Die Firma Eli Lilly betont, von Mannalal eine unterschriebene Einverständniserklärung zu haben. Die Firma halte sich an alle geltenden Richtlinien für die Durchführung von Studien, so auch an die Helsinki-Deklaration. Der Tod von Mannalal habe zudem nichts mit dem Versuch zu tun, wie eine Untersuchung des unabhängigen Klinikkomitees ergeben habe, schreibt Eli Lilly.

Kamla Bai hingegen betont, ihr Mann habe nichts von einem Versuch gewusst. Von der Firma Eli Lilly, sagt sie, hat sie noch nie etwas gehört.

Eine ausführliche Reportage sendete der WDR am Montag um 22:00 Uhr: „Die Story: Pharma-Sklaven.“

Quellen: PRAVDA-TV/de.sott.net/sueddeutsache.de/WDR vom 13.09.2012

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