Noch vor wenigen Monaten hätten vermutlich selbst viele Araber Schwierigkeiten gehabt, die Provinz Mafraq im Norden Jordaniens auf einer Landkarte zu finden. Heute gehen im Niemandsland zwischen Syrien und Jordanien Journalisten, Außenminister und internationale Delegationen ein und aus. Der Grund: Knapp 30.000 Syrer, die seit Anfang Juli hier im Flüchtlingscamp Zaatri Zuflucht gefunden haben.
Zaatri wird immer mehr zum Symbol der Flüchtlingskrise, die den Nahen Osten seit dem Ausbruch der Revolution in Syrien heimsucht. Geschätzt wird, dass hunderttausende Syrer auf der Flucht vor Gewalt sind, viele davon im eigenen Land. Immer öfter ent-schließen sich die Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen. Allein im August flüchteten laut UNHCR 100.000 Menschen in benachbarte Länder. Über 250.000 Syrer sind letzten Zahlen zufolge aus ihren Heimatland geflüchtet.
Türkei
Die meisten davon in der Türkei. Von Anfang an war Syriens nördlicher Nachbar An-laufpunkt für viele Menschen, die Schutz und Zuflucht suchten. Zahlreiche Flüchtlings-camps entstanden, heute sind über 80.000 Menschen in 11 Camps in der Türkei als Flüchtlinge registriert. Viele mehr harren entlang der Grenze aus. Das Einreiseprozedere nimmt soviel Zeit in Anspruch, dass Tausende noch darauf warten, die Grenze zu überschreiten.
Verschärft wird die Situation dadurch, dass die türkischen Behörden an manchen Tagen die Flüchtlinge nur in Kleingruppen die Grenze passieren lassen. Nicht ganz ohne Grund: Zwar ist die Türkei das wirtschaftlich potenteste Land in der Region, doch stellt der enorme Ansturm selbst die dortigen Helfer vor gewaltige Herausforderungen. Die Flüchtlingslager in der Süd-Türkei sind überfüllt, Versorgung und sanitäre Ausstattung sollen teilweise mangelhaft sein.
An und für sich, so Ruth Schöffl von UNHCR Österreich, versuche man Flüchtlinge möglichst nicht in Camps unterzubringen, sondern bei Gastfamilien oder kleineren Anlagen. Denn Flüchtlingscamps bergen auch Probleme wie Kriminalität, Gewalt, Stigmatisierung der Flüchtlinge und die Gefahr von Ausbruch von Krankheiten. „Doch ab einer gewissen Größenordnung ist es anders einfach nicht mehr möglich“, so Schöffl. Allein in den letzten Wochen wurden zwei weitere Flüchtlingslager für 23.000 Menschen in der Süd-Türkei eröffnet. Drei weitere Camps, die je 10.000 Menschen beherbergen können, sollen folgen.
Mittlerweile sollen sich sogar einige Familien dazu entschlossen haben, wieder zurück-zukehren, weil sich einerseits die Sicherheitslage in Teilen Nord-Syriens verbessert habe und andererseits Gerüchte über Plünderungen im Heimatland die Runde in den Flüchtlingscamps machen.
Libanon
Deutlich weniger Syrer flüchten über die Grenze in den Libanon. „Trotzdem sind es hunderte Menschen am Tag“, so Dana Sleiman von der UNHCR in Beirut. Die Reise in die Sicherheit ist dabei selbst an der Grenze noch lebensgefährlich. „Es gibt ständigen Beschuss (an der Grenze, Anm.), speziell im Norden, wo die Situation immer besorgniserregender wird“, so Sleiman.
Anders als in der Türkei, gibt es im Libanon keine Flüchtlingscamps. Die Mehrheit der Flüchtlinge ist bei Gastfamilien untergebracht, die für ihren Einsatz von der UNHCR unterstützt werden. Der Rest lebt in Schulen – bis jetzt. Denn Ende September beginnt im Libanon das neue Schuljahr und die Flüchtlinge müssen die bisher leer stehenden Ge-bäude wieder räumen. Neue Unterkünfte zu finden sei daher das drängendste Problem: „Im Libanon ist das derzeit unser Priorität“, so die UNHCR-Mitarbeiterin.
Die Zusammenarbeit mit den libanesischen Behörden hingegen funktioniere hervor-ragend. Selbst wenn die Zahl der Flüchtlinge weiter steigen sollte, sei man im Libanon bestens aufgestellt und vorbereitet.
Jordanien
Ganz im Gegensatz zu Jordanien. Dort sieht man sich mit einer Flüchtlingswelle bisher unbekannten Ausmaßes konfrontiert. Rund 50.000 Menschen sind von der UNHCR im Königreich als Flüchtlinge registriert worden, Zigtausende warten auf ihre Registrierung. Noch mehr halten sich vermutlich illegal im Land auf, Schätzungen gehen von 100.000 oder mehr aus. Viele der Flüchtlinge leben bei Familien und Flüchtlingsunterkünften im ganzen Land. Aber aufgrund des Ansturms sah man sich gezwungen, auch Flüchtlings-camps entlang der Grenzen Syriens zu errichten.
Das bekannteste und größte ist das Zaatri-Flüchtlingscamp im Norden Jordaniens. Dort, wo noch vor wenigen Wochen außer Sand und Gestein nur Wüstenbewohner aus dem Tierreich lebten, steht heute eine fast 30.000 Einwohner-Zeltstadt. Und täglich kommen hunderte Zelte hinzu. Man hat sich eingerichtet: Einige Kinder wurden bereits geboren, am Wochenende fand die erste Hochzeit statt. Trotzdem sind die Bedingungen harsch und unwirtlich und bei den Hilfsorganisationen beginnen bereits die Vorbereitungen für den Winter.
Zwar ist in Jordanien nicht mit Schnee zu rechnen, doch schon im Herbst können die Temperaturen in der Nacht drastisch sinken. Zur Zeit werden pro Tag rund 30 vorge-fertigte Häuser errichtet. Ob das ausreicht, bezweifeln selbst Mitarbeiter vor Ort, denn täglich überqueren bis zu 1000 Flüchtlinge die Grenze nach Jordanien. Bis Jahresende könnte die Zeltstadt Zaatri bis zu 80.000 Einwohner haben.
Logistisch sei das machbar, humanitär wäre es problematisch, betonen UNHCR-Vertreter. Bereits zwei Mal ist die Verzweiflung der Flüchtlinge in Gewalt gemündet. Ende August mussten jordanische Sicherheitskräfte Unruhen mit Tränengas auflösen, 28 Soldaten erlitten bei den Ausschreitungen Verletzungen. Entsprechend dringlich sind die Hilfsappelle der jordanischen Regierung. „Die Flüchtlingszahlen sind jenseits unserer Möglichkeiten und Erwartungen und wir befürchten mehr, wenn sich die Situation in Syrien weiter verschlechtert“, sagte der jordanische Premierminister Fayez Tarawaneh Anfang September.
Irak
Sogar der Irak sah einen sprunghaften Anstieg an Flüchtlingen. Während des Irak-Krieges und den Terrorwellen, die danach folgten, war Syrien für viele Iraker An-laufpunkt Nummer 1. Doch das Blatt hat sich gewendet und seit dem Ausbruch der Revolution kehren immer mehr Iraker wieder in ihre Heimat zurück – bislang über 30.000.
Zuletzt stellte die UNHCR auch einen starken Anstieg an syrischen Kurden fest, die Syrien Richtung Irak verlassen haben. Ende August übertraten 500 Kurden die syrisch-irakische Grenze pro Tag, schätzt das UN-Flüchtlingshilfswerk.
Erst vor kurzem stimmte die nordirakische Autonomieregierung der Gründung eines zweiten Flüchtlingscamps auf ihrem Territorium zu. Trotzdem hält sich die Zahl der Flüchtlinge im Vergleich zu anderen Anrainerstaaten in Grenzen. Zuletzt waren im Irak rund 20.000 Menschen als Flüchtlinge registriert.
Helfer brauchen Hilfe
In den letzten Monaten ist die Zahl der Flüchtlinge ständig gewachsen. Zuletzt stieg die Zahl der Hilfesuchenden so stark an, dass selbst Hilfsorganisationen Unterstützung brauchen. Entsprechend dramatisch sind die Appelle: „Uns geht das Geld aus“, meinte etwas der australische UNHCR-Mitarbeiter Andrew Harper gegenüber der Nachrichten-agentur dpa. Die Zustände im Zaatri-Flüchtlingscamp in Jordanien seien „inakzeptabel“, so UN-Flüchtlingskommissar Antonio Guterres Anfang der Woche. Es würden dringend Mittel benötigt, um die Menschen zu versorgen.
Beim UN-Flüchtlingshilfswerk betont man, dass zwar immer Reserven für etwaige Flüchtlingswellen angelegt werden, doch übersteigt das Ausmaß der syrischen Krise die finanziellen Möglichkeiten der UNHCR bei weitem.
Dabei ist man immer mehr auch auf private Spenden angewiesen. So überwies zum Beispiel die Republik Österreich im Jahr 2011 insgesamt rund 2,5 Millionen Euro an die UNHCR. Im selben Zeitraum spendete die gemeinnützige IKEA-Foundation, der größte private Spender des UN-Flüchtlingswerks, 18,4 Millionen Euro.
Quellen: Reuters/derStandard.at vom 13.09.2012