Eine halbe Milliarde Chinesen sind im Internet. Auch wenn die Behörden dieses scharf kontrollieren, entwickelt diese Masse eine Macht, vor der KP-Funktionäre mit Faible für Korruption und Luxus eingehen. „Bruder Uhr“ ist das jüngste Beispiel dafür.
Alles wäre anders gekommen, wenn KP-Funktionär Yang Dacai nur nicht so gegrinst hätte. Wenn er kein Faible für wertvolle Armbanduhren, Markengürtel oder teure Designerbrillen gehabt hätte. Und wenn es nicht Chinas Millionenarmee von Bloggern gäbe, die sich als selbsternannte Gegenöffentlichkeit verstehen. Aber so ist es mit der Karriere des Direktors der Behörde für Unfallsicherheit in der Provinz Shaanxi vorbei. Der 54-jährige Kommunist, der mit 18 Jahren der Partei beitrat, muss froh sein, wenn er nicht für Jahre in Haft landet.
Yangs Spießrutenlauf durchs Internet eines Landes, wo nach jüngsten Zahlen 538 Millionen Menschen online sind und 274 Millionen Mikroblogs schreiben, begann am 26. August. Er wurde an diesem Tag zu einem grässlichen Unfall eines mit Methanol be-ladenen Tankwagens mit einem Reisebus gerufen, bei dem 36 Passagiere starben. Auf Fotos vom Unglücksort, wo wie Reporter schrieben, „alle nur entsetzt und geschockt herumliefen“, steht Yang da und grinst in die Kamera.
Chinas Blogger können dickliche KP-Kader nicht ausstehen. Sie witterten sofort Arroganz, Ignoranz und einen Abgrund an Korruption. Sie riefen zu ihrer bisher größten virtuellen Hatz über die “ Menschenfleischsuchmaschine“ auf, ein zynischer chinesischer Ausdruck für eine gleichzeitig in Gang gesetzte Massenrecherche nach einer Person durch Millionen Onlinenutzer. Ohne Rücksicht auf Gesetze und im Bruch der Privatsphäre Yangs versuchten sie so viel wie möglich über ihn in Erfahrung zu bringen. Innerhalb kurzer Zeit wussten sie, wer er ist, wo er herkommt und wie er aufstieg. Vor allem sammelten sie Hunderte seiner Online-Fotos. Dann zoomten sie sich in die Details.
Virtuelle Enthüllungslawine
Yangs Leidenschaft für Markenuhren wurde ihm zum Verhängnis. Die Blogger entdeckten mehrere Luxusuhren, die er sich von seinem Beamtengehalt nie hätte leisten können, fanden die Markennamen und Preise heraus. Chinesische Funktionäre kaufen keine Fakes. Das machen nur Ausländer. Yang trat dann die Flucht nach vorn an und gestand dann den Besitz von fünf Uhren im Gesamtwert von 15.000 Euro ein. Er hätte sie sich von seinem Gehalt gekauft. Beim Unfall habe er „gelächelt“, aber nur aus Verlegenheit. Das tue ihm nun leid.
Der Funktionär redete sich um Kopf und Kragen. Denn seither ist kein Tag vergangen, dass neue Fotos mit weiteren Uhren entdeckt wurden. Bisher sind es elf. Das teuerste Stück darunter bezifferten User mit einem Kaufpreis von 400.000 Yuan, rund 50.000 Euro. Am Wochenende meldete sogar die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua diesen Vorwurf. Nachdem die Blogger ihre virtuelle Enthüllungslawine losgetreten hatten, kannten die offiziellen Medien auch kein Halten mehr. Dutzende von Magazinen und Zeitungen rechnen nun auch mit „Biaoge“ (Bruder Uhr) ab.
Yang dient als Lachnummer der Nation und steht am Pranger. Wie aber kommt er an soviel Geld wollen die Ermittlungsbehörden der Partei wissen. Die Blogger interessiert viel mehr, bei wieviel Sicherheitsprüfungen neuer Projekte er einst die Augen zugedrückt hat. Studenten stellten Anträge an die Provinzregierung von Shaanxi, Yangs Einkünfte offenzulegen.
Kleine „Korrumpel“
Die Schwäche für Luxus bringt inzwischen jede Woche über die virtuellen Suchmaschinen einen andern Beamten zu Fall. Die Partei wagt kurz vor ihrem 18. Parteitag nicht, das Ventil für den Volkszorn über die ständig neuen Enthüllungen zur endemischen Korruption unter ihren Amtsträgern zu verschließen. Ohnehin sind es nur die kleinen „Korrumpel“, die über das Internet erwischt werden. An die großen Paten in den Reihen der höchsten Funktionäre und deren Familien mit ihren internationalen Beteiligungen und Bankkonten, an die Klasse der Politbürogenossen wie den gerade gestürzten Bo Xilai, kommen Internet-Detektive nicht heran.
Dennoch: Das Internet ist dabei, sich mit Mikroblogs und Suchdiensten zur virtuellen Gegenmacht in China zu entwickeln. Es unterläuft das Informationsmonopol der Partei. Diese kann zwar, wenn sie ihre Herrschaft bedroht sieht, die Enthüllungs- oder Gerüchteküchen des Internet sofort stoppen. Formal kontrollieren Behörden und Internetpolizei große Portale und werden von Zehntausenden Online-Zensoren unterstützt.
Sie lassen immer wieder Online-Dissidenten zur Abschreckung verurteilen. Richtig ist aber auch, dass die Behörden sich immer mehr anstrengen müssen, um die Flut von Mikroblogs zu kanalisieren. Im schlimmsten Fall ziehen sie die Notbremse, wie bei den Unruhen in Xinjiang 2009. Peking nahm die Region für sechs Monate komplett aus dem Internet.
Für das ganze Land ist das allerdings unvorstellbar, erst recht nicht vor dem Hintergrund der Korruption: „Offizielle wie Bruder Yang sind nicht gewöhnt von ‚Niemanden‘ wie einem Blogger herausgefordert zu werden“, kommentierte Xinhua. „Die Entwicklung des Internet setzt eine neue Zäsur.“ Erstmals zählen in China die Massen, seit sie ihre virtuelle Macht gebrauchen.
Quellen: Reuters/derStandard.at vom 27.09.2012