Zwei Expeditionen erforschen zur Zeit die sich dramatisch verändernde Arktis. Am Montag wurde dort eine geringere Eismenge gemessen als je zuvor.
Zwei deutsche Forschungsschiffe sind derzeit in der Arktis unterwegs. Westlich von Spitzbergen kreuzt die in Rostock beheimatete Maria S. Merian. Wissenschaftler des Kieler Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung, ehemals IFM/Geomar, untersuchen dort mit dem Tauchboot Jago und akustischen Methoden den Austritt von Methan aus dem Meeresboden.
Am 13. August ist die Maria S. Merian aus dem Hafen der isländischen Hauptstadt Reykjavik ausgelaufen. In den Wochen davor kreuzte das Schiff vor der grönländischen Küste. Die dortigen Gletscher sind in diesem Sommer erstmals in der jüngeren Geschichte nicht nur in den niedrigeren Küstenlagen angetaut, sondern zeitweise bis hinauf zu den Gipfeln.
Welche chemischen Veränderungen das Schmelzwasser in den Fjorden verursacht, untersuchen Forscher des Bremerhavener Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung (AWI) mit Kollegen aus den USA. »Das Gletschereis schmilzt momentan in einem Tempo, wie man es nie zuvor gesehen hat«, erklärte der wissen-schaftliche Leiter der Expedition, Allan Cembella vom AWI, nach der Ankunft in Reykjavik. »Auf diese Weise werden Süßwasser und Inhaltsstoffe freigesetzt, die über Jahrhunderte, wenn nicht sogar Jahrtausende hinweg im arktischen Eis eingeschlossen waren.«
Bis in eine Tiefe von 700 Metern haben die Wissenschaftler in den Fjorden die Wassertemperatur gemessen. »Eine erste Analyse unserer Meßdaten aus der Disko-Bucht zum Beispiel hat vorhergehende Untersuchungen bestätigt«, berichtete Cembella. »Demnach ist die Wassertemperatur in einer Tiefe von 200 Metern durch Änderungen der Meeresströmungen in den 90er Jahren deutlich angestiegen. Dieses warme Wasser gelangt vermutlich unter die Gletscherzungen und kann dort die Gletscherschmelze zusätzlich antreiben.«
Cembella weiter: »Wir gehen davon aus, daß sich die Lebensräume vieler Meeres-lebewesen im Zuge der Erwärmung verschieben werden. Dieser Wandel wird besonders jene Arten treffen, die in den flachen Küstengewässern leben, denn deren Sommer-eisdecke taut neuerdings immer auf.
Das heißt, Fischbestände werden ebenso betroffen sein wie das Plankton, die vielen am Meeresboden lebenden Arten, die Seevögel und die Meeressäuger – und letztendlich auch der Mensch.« Eine Befürchtung ist, daß der Nährstoffeintrag durch schmelzende Gletscher künftig zu gesundheitsgefährdenden Algenblüten führt. »Unsere aktuellen Untersuchungen«, so Cembella, »werden uns helfen zu verstehen, ob und inwiefern großflächige Gletscherschmelzen die chemischen und physikalischen Grundlagen für solche Blüten bilden.«
Das zweite deutsche Forschungsschiff, das zur Zeit im Nordmeer kreuzt, ist die als Eisbrecher gebaute »Polarstern«. Am 2. August ist sie im nordnorwegischen Tromsø aufgebrochen. Zunächst führte ihr Kurs Richtung Norden in die Gewässer östlich von Spitzbergen. Von dort geht es dann weiter nach Osten vor die sibirische Küste.
Die ebenfalls vom AWI organisierte Expedition soll das Meereis biologisch, chemisch und physikalisch unter die Lupe nehmen. Vor allem geht es dabei um die Auswirkungen seines Rückgangs auf die Verteilung von Nährstoffen und den Austausch mit dem Atlantik. Besonderes Augenmerk wird auf Lebensgemeinschaften unterm Eis und am Meeresboden gerichtet.
In gewisser Weise geht es um Bestandsaufnahmen in letzter Minute. In dieser Woche wurde einmal mehr deutlich, wie dramatisch die Veränderungen im hohen Norden sind. Das Meereis hat sich in diesem Jahr erneut weiter als je zuvor seit Menschengedenken zurückgezogen.
Nach Angaben der Polar Research Group von der University of Illinois in Urban-Champaign (USA) maß die Eisfläche am Montag nur noch 2,844 Millionen Quadrat-kilometer. Damit wurde bereits in der zweiten Augusthälfte ein neuer Minusrekord aufgestellt. Voraussichtlich wird sich das Eis noch mindestens drei Wochen lang weiter zurückziehen.
Der bisherige Rekord betrug 2,9 Millionen Quadratkilometer und wurde Mitte September 2011 aufgestellt. Im Vergleich zu den 90er Jahren zieht sich das Eis heute im Sommer um fast 50 Prozent weiter zurück. Es wird dabei auch immer dünner. Einige Forscher vermuten, daß das Polarmeer in zehn Jahren im Sommer nahezu gänzlich eisfrei sein könnte.
Diese Entwicklung wirkt sich auf das Wetter in Europa, aber auch auf das globale Klima aus. Zum einen erwärmt die im Sommer nördlich des Polarkreises rund um die Uhr scheinende Sonne Land und Meer erheblich stärker. Zum anderen sind in den gefrorenen Böden an Land und unter dem Meeresgrund gewaltige Mengen an Methan gespeichert, die durch die Erwärmung freigesetzt werden könnten.
Das Vertrackte daran: Methan würde den Treibhauseffekt und damit die globale Erwärmung als sehr effektives Klimagas verstärken, sofern es in größeren zusätzlichen Mengen in die Atmosphäre gelangte.
Aber wie groß ist diese Gefahr? Die erwähnten Expeditionen tragen Puzzle-Steine zusammen, die zum besseren Verständnis der Prozesse beitragen sollen. Bisher ist weder bekannt, in welchen Mengen Methan aus dem Meeresboden austritt, noch weiß man, wieviel es vor der Erderwärmung war. Unklar ist auch, zu welchen Anteilen das Gas im Wasser gelöst wird bzw. in die Atmosphäre gelangt. Man wird diese Gefahren erst in einigen Jahren abschätzen können, müßte ihnen aber wohl heute schon entgegentreten.
Quellen: Foto: Stefan Hendricks / AWI / jungeWelt vom 23.08.2012
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