Die Zahl der Kinder aus Unterfranken, die wegen psychischer Störungen eine Behandlung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie brauchen, ist in den letzten Jahren stark gestiegen. „Die Situation ist dramatisch. Wir können uns nicht retten vor Anfragen“, sagt der Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Uniklinikum Würzburg, Professor Marcel Romanos. „Wir behandeln hier nur die schwersten Fälle, bei denen die stationäre Aufnahme unbedingt notwendig ist – rund 500 Patienten im Jahr.“ Dennoch könne die Kinderpsychiatrie Würzburg bei weitem nicht alle Patienten aufnehmen, bei denen die Aufnahme geboten sei. „Jährlich müssen wir deshalb rund 200 junge Patienten an die psychiatrischen Kliniken in Lohr und Werneck abgeben – obwohl diese Kliniken eigentlich nur für die Behandlung Erwachsener ausgelegt sind.“
Der Ärztliche Direktor des Bezirkskrankenhauses Lohr, Dr. Dominikus Bönsch, bestätigt, dass pro Jahr rund hundert Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren in seiner Lohrer Klinik landeten – manchmal für eine Nacht, manchmal für sechs Wochen. Entsprechend einer Absprache zwischen den Psychiatrischen Kliniken Unterfrankens würden nach Lohr und Werneck nur zwangseingewiesene Jugendliche geschickt, die dann auch „geschlossen“ untergebracht würden.
Typischerweise kommen diese Jugendlichen am Wochenende. Bönsch: „Oft ist das so, dass ein Konflikt in der Familie eskaliert, dass dabei ein Jugendlicher droht, sich umzubringen oder anderen etwas anzutun. Die Familie ruft die Polizei; die Polizei bringt den Jugendlichen nach Lohr.“ Bönsch sagt, dass sich die Zahl der minderjährigen Patienten in Lohr in den letzten fünf Jahren verdoppelt habe.
Während es in Lohr und Werneck – aufgrund der Zwangseinweisungen – keine Wartezeit für eine Behandlung gibt, müssen junge Patienten auf einen Therapieplatz in der Würzburger Kinder- und Jugendpsychiatrie oft lange warten – laut Klinikleiter Romanos bis zu sechs Monaten. Dies gilt für die rund 500 stationären Patienten genauso wie für die 2500 ambulanten.
Dass die Zahl der psychisch kranken Kinder in Unterfranken dramatisch steigt, bestätigt auch der Kinderpsychiater Dr. Klaus-Ulrich Oehler, der in Würzburg eine Gemeinschaftspraxis leitet. Vor zehn Jahren habe seine Praxis pro Jahr 2000 bis 3000 Kinder behandelt; derzeit seien es 7000 bis 8000. „Auch der Schweregrad der Erkrankung unterscheidet sich wesentlich von dem vor zehn Jahren; wir sehen bei Kindern häufiger Anfälle, Psychosen und schwere Depressionen mit Suizidgefahr“, so Oehler. In allen kinderpsychiatrischen Praxen Unterfrankens zusammen werden Oehlers Schätzungen zufolge pro Jahr rund 15 000 bis 20 000 Kinder ambulant behandelt – die Patienten in den Kliniken nicht mit eingerechnet. Was kann der Grund sein für rund 20 000 psychisch kranke Kinder pro Jahr in Unterfranken?
„Immer mehr instabile Familienverhältnisse ohne feste Strukturen“ nennt Oehler als Ursache der Zunahme psychischer Erkrankungen – und ist sich hierbei mit Bönsch und Romanos einig. Alle drei Kinderpsychiater sehen als ursächlich auch den Leistungsdruck in der Schule und durch die Eltern an.
Dringend fordern Bönsch, Romanos und Oehler den Ausbau der kinderpsychiatrischen Versorgung in Unterfranken. Romanos: „Wir brauchen mehr Klinikplätze in Würzburg.“ Bönsch: „Wir brauchen mehr geschlossene Plätze in der Region.“ Oehler: „Wir brauchen mehr niedergelassene Kinderpsychiater.“
Quelle: mainpost.de vom 20.07.2012
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