Weltweit schmelzen die Gletscher – so auch im Himalaja. Doch gleich in der westlichen Nachbarschaft, im Karakorum, wachsen sie. Warum?
Von den Eismassen des „Dritten Pols“ hängt die Wasserversorgung von 1,4 Milliarden Menschen ab: Rund um das Hochland von Tibet, an den Hängen des Himalajas und seiner Gebirgsnachbarn, entspringen viele der mächtigsten Flüsse Asiens, welche die Lebens-adern Indiens, Pakistans oder Chinas sind. Viele der Gletscher, deren Schmelzwasser die Oberläufe von Jangtse, Mekong oder Indus speist, schmelzen jedoch rasch dahin – in welchem Ausmaß ist jedoch immer noch nicht genau verstanden.
Yao Tandong von der Chinesischen Akademie der Wissenschaften in Peking und seine Kollegen haben deshalb die bislang wohl umfangreichste Datenauswertungen zum Thema durchgeführt und dabei bedeutende regionale Unterschiede festgestellt. Denn ihre Satellitenbildauswertung der Länge und Fläche von mehr rund 7100 Gletschern zeigt, dass nicht alle Eiszungen während der letzten 30 Jahre an Masse verloren haben.
Dieser Verlust betrifft vor allem das zentrale Himalaja mit dem Hochland von Tibet, in dessen Bereich allerdings der größte Anteil der insgesamt etwa 100.000 Quadratkilo-meter großen Eisflächen des „Dritten Pols“ liegt. Je weiter die Forscher allerdings ins Innere des Hochplateaus und nach Westen blickten, desto kleiner fiel die Schrumpfung aus – im Gegenteil wuchsen viele der untersuchten Gletscher des Pamir- und Karakorumgebirges sogar noch.
Temperaturunterschiede sind allerdings nach den Erkenntnissen von Tandongs Team dafür nicht allein verantwortlich: Die Durchschnittstemperaturen stiegen fast überall in der Region in den letzten Jahrzehnten an. Stattdessen hängt die Massenbilanz vor allem auch davon ab, welchen großräumigen atmosphärischen Strömungsregimen die Eiskörper unterworfen sind, so die Forscher. Pamir und Karakorum erhalten demnach ihre Nieder-schläge vor allem durch die Westwindzirkulation, die wiederum hauptsächlich im Winter feuchte Luftmassen gegen die Gebirge führt.
Zwar sind auch die Temperaturen in der kalten Jahreszeit angestiegen, doch liegen sie weiterhin deutlich unter Null Grad Celsius: Der resultierende Schnee lagert sich auf den Gletschern ab, verdichtet sich und wird im Laufe der Zeit zu Eis. Dieser winterliche Massenzuwachs sorgt dafür, dass die meisten der regionalen Eiszungen wachsen.
Die Gletscher im zentralen Abschnitt des Himalajas hingegen werden vom Monsun beeinflusst, der sommerliche Niederschläge bringt. Schon eine moderate Erwärmung sorgt dafür, dass sie dann eher als relativ warmer Regen denn als Schnee fallen, was das Abtauen noch beschleunigt.
Zudem hat sich der Monsun während des Untersuchungszeitraums abgeschwächt; es wird zudem also auch noch prinzipiell weniger Feuchtigkeit gegen das Gebirge geführt – die Westwinde haben sich dagegen zum Vorteil des Karakorums verstärkt. Wie sehr sich die Region verändert, zeigen zudem die Gletscherseen vor Ort: Parallel zur Abnahme der Eisbedeckung nahmen sie an Zahl und Ausdehnung zu – seit 1970 um etwa ein Viertel.
Diese neuen Erkenntnisse der Geowissenschaftler nähren Zweifel, ob Gravitations-messungen durch die GRACE-Satelliten aussagekräftig genug sind, um die tatsächliche Massenbilanz der Gletscher in Asien exakt zu erfassen: Vor wenigen Monaten deuteten Auswertungen dieser Daten an, dass der Eisverlust im Himalaja nur ein Zehntel des Werts betragen soll, der ursprünglich angegeben wurde.
Die Gletscher sollten also deutlich langsamer schmelzen, als befürchtet worden war. Da GRACE aber nur Schwerkraftunterschiede erfassen kann, unterscheidet die Mission nicht zwischen Eis und Schmelzwasser – größere Gletscherseen können also fälschlicherweise auch als Zuwachs der Eiszungen interpretiert werden. Nur echte Satellitenbilder und Untersuchungen vor Ort können dieses Dilemma beheben.
Die neu entstandenen Gewässer verzögern zumindest den direkten Abfluss des Schmelz-wassers und fungieren damit ebenfalls als Puffer. Allerdings erhöht sich auch die Gefahr für unterhalb gelegene Anrainer, denn Schmelzwasserspitzen können dafür sorgen, dass natürliche Seedämme brechen und Flutwellen talabwärts rasen.
Quelle: Spektrum vom 16.07.2012
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