Der Libor Skandal in London weitet sich aus: Es tut sich ein Sittenbild auf, demzufolge die britische Regierung, die Bank of England und die Banken sich gegenseitig die Ver-antwortung für jahrelange Manipulationen zuschieben.
Der Rücktritt von Barclays-Chef Bob Diamond (Foto) war offenbar nur der erste Akt zu einem Enthüllungsdrama, bei dem es, wie immer bei Finanzprodukten, auf den ersten Blick sehr kompliziert zugeht.
Der Libor ist ein etwas merkwürdig ermittelter Zinssatz: Banken geben in einem Panel Schätzungen ab, für wie hoch sie einen angemessenen Marktzins halten. Danach legt die Londoner Bankenvereinigung BBA einen Mittelwert fest. Dieser hat unmittelbar Auswirkungen auf jeden Bankkunden – für Studenten-, Auto- oder Immobilienkredite. Der gesamte Markt, der von dem Libor betroffen ist, beträgt weltweit etwa 400 Billionen Euro.
Während der Krise haben die Banken offenbar in einer Art Kartellabsprache die Zinsen manipuliert. Der Grund: Keine Bank wollte zugeben, dass sie selbst unter Druck ist und nur gegen hohe Zinsen Geld aufnehmen kann. Hohe Zinsen sind ein Zeichen des Misstrauens gegenüber der Bonität von schlechten Schuldnern. Nun ermitteln die Aufsichtsbehörden gegen alle Banken, die am Panel beteiligt sind. Darunter befindet sich auch die Deutsche Bank, deren neuer Chef Anshu Jain als damaliger Chef des Investmentbankings maßgeblich für die Libor-Meldungen verantwortlich war. Bereits Ende März wurde eine Reihe zivilrechtlicher Klagen gegen die Deutsche Bank gemeinsam mit anderen Geldhäusern in den USA wegen angeblicher Libor-Manipulationen eingereicht.
Als erstes hat es nun die Londoner Barclays Bank erwischt, notabene ihren Chef Bob Diamond. Nachdem die Bank von den britischen und amerikanischen Regulierern zu einer Strafe von 290 Millionen Pfund verurteilt wurde, mussten Diamond, sein COO Jerry del Missier und der Chairman Marcus Agius zurücktreten.
Doch der in der City wegen seiner exorbitanten Gehälter missgünstig beäugte Diamond schlägt nun zurück. Diamond, der seit 2005 etwa 120 Millionen Pfund bei Barclays verdient hat und nach seinem Abtritt ein Trostpflaster von bis zu 20 Millionen Pfund erhalten dürfte, veröffentlichte nur wenige Stunden nach seinem Rücktritt eine Aktennotiz aus dem Jahr 2008. Die Notiz ist eine Art Memo, in welchem Diamond ein Telefonat mit dem stellvertretenden Gouverneur der Bank of England, Paul Tucker aufzeichnet (siehe Faksimile am Ende des Artikels). Aus diesem Memo geht ziemlich unmissverständlich hervor, dass Tucker Diamond motivieren wollte, die Zinsmeldung von Barclays niedrig zu halten. Er soll gesagt haben, dass er die Anweisung zu dieser Anweisung von ganz oben erhalten habe – also von Politikern aus dem Umfeld des damaligen Labour-Premiers Gordon Brown.
In London hat daraufhin, wie bei jedem guten Edgar Wallace-Krimi, die fieberhafte Suche nach dem Mörder dem Politiker oder der Politikerin begonnen, die dafür in Frage kommen könnte. Alle Betroffenen weisen die Anschuldigungen entrüstet zurück und können sich beim besten Willen nicht daran erinnern, jemals mit Mr. Tucker gesprochen zu haben.
Die NZZ weist zu Recht darauf hin, dass die Manipulationen beim Libor-Skandal wesentlich geringere Auswirkungen auf die Stabilität der Finanzmärkte gehabt haben als das jahrelange hemmungslose Gelddrucken der Zentralbanken, wie der Fed.
Allerdings kommt der Skandal zu einem ungünstigen Zeitpunkt für alle Beteiligten: Die Banken stehen wegen der hemmungslosen riskanten Wetten ihrem maroden Kerngeschäft mit dem Rücken zur Wand. Hier lehnen sie Seit‘ an Seit‘ mit den Politikern, die sich gerade beim globalen Schulden-Roulette auf der Verliererstraße sehen. Beide – Banken und Politiker – versuchen, sich gegenseitig die Schuld in die Schuhe zu schieben für die aktuelle Misere. Daher wird der Ton rauer. Dass ein Banker wie Diamond so ein Memo herauszieht und dass er es NACH seinem Rücktritt tut, ist ungewöhnlich und riecht ein wenig nach Endkampf.
Der staunende Betrachter lernt aus den jüngsten Vorfällen: Die Banken haben im Interesse ihrer Leverage-Mission nicht die geringsten Hemmungen, die ihnen anvertrauten Vermögen als Faustpfand einzusetzen. Die Regierungen und die ihnen willfährigen ergebenen Zentralbanken intervenieren schamlos bei den Banken und mischen sich die Märkte ein, als gäbe es kein Morgen. Wenn Diamond nun das Memo als Entlastung verstehen will, indem er bedeutet: Seht her, ich konnte nicht anders, auf mich wurde politischer Druck ausgeübt, so muss man sich fragen: Wozu hat der Mann 120 Millionen Pfund Gehalt kassiert? Für das Geld kann man eigentlich auch mal Nein sagen.
Auf jeden Fall ist das Verhältnis zwischen Politik und Finanzwirtschaft gestört. Daher ist es nur allzu verständlich, dass die Regierung in London nun Ordnung und Transparenz möchte. Ihre erste, vertrauensbildende Maßnahme: Paul Tuckers Chancen auf die Nachfolge von Mervyn King als Zentralbank-Gouverneur sind auf Null gesunken. Die Regierung möchte nun unbestechliche und geradlinige Mitarbeiter an der Spitze der Bank of England. Die aussichtsreichsten Kandidaten, bei denen angeblich bereits informell angefragt wurde: Der Gouverneur der kanadischen Notenbank Mark Carney und der Finanzstratege Jim O’Neill. Beide kommen aus einem Stall, in dem man lernt, wie das ist, wenn Politik auf Banken trifft: Carney war 13 Jahre lang bei Goldman Sachs, O’Neill ist immer noch einer der führenden Leute von Goldman Sachs. So hat eben jede Krise auch immer ihr Gutes – zumindest für einige wenige.
Quelle: Deutsche-Wirtschafts-Nachrichten vom 04.07.2012