Die amerikanische Investorin Janet Tavakoli glaubt, dass nur die strafrechtliche Verfolgung von Verbrechen in der Finanzbranche dazu führen kann, die zahlreichen Betrugs-Delikte an den Finanzmärkten zu unterbinden. Dazu müssten die Anständigen den Druck auf die politische Führung signifikant erhöhen. Sie zweifelt jedoch, dass es dazu kommt – und rechnet daher mit einem Crash des Systems.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Frau Tavakoli, Sie sind seit langem eine Kritikerin des Derivate-Geschäfts. Sie nennen Derivate eine pure Spekulation. Werden die Derivate die Finanzmärkte in die Luft sprengen?
Janet Tavakoli: Ich habe einige Bücher über Derivate geschrieben, das erste davon 1997 mit dem Titel „Kredit-Derivate“. Natürlich haben diese Instrumente einen gewissen Sinn. Aber dieser Sinn ist durch Spekulanten komplett korrumpiert worden. Mittlerweile dominieren die Spekulanten diesen Markt in einer Weise, dass Derivate oft vollkommen nutzlos und als Absicherungen sogar kontraproduktiv geworden sind. So habe ich im Jahr 2007 der SEC einen Brief über Produkte geschrieben, die sich „Constant Proportion Debt Obligations“ (CPDOs) nennen. Sie haben Absicherungen, die Pensionsfonds gegen riskante Unternehmenskredite abgeschlossen haben, durch wüste Spekulationen nutzlos gemacht. Dazu haben sie CPDOs als Triple A-Papiere forciert, obwohl diese Papiere Schrott waren. Dadurch haben die Pensionsfonds enorme Verluste einstecken müssen. Die Rating Agenturen haben erst ein Jahr nach meinem Brief an die SEC die CPDOs als Schrott eingestuft. Anleger, die in die CPDOs investiert haben, haben 90% ihres Investments verloren. Und doch hat es keine Strafe für die Ratingagenturen gegeben, ebenso wenig wie eine sinnvolle Reform jener Banken gegeben hat, die diese korrupten Produkte erfunden haben.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Was ist das größte Problem mit den Derivaten?
Janet Tavakoli: Zu etwa gleichen Teilen sind das Betrug, Mangel an Wissen über die Schwächen der Modelle und die Möglichkeit, das System auszutricksen. Durch die Hebelwirkung kommt es zu einer sehr volatilen und destruktiven Kombination, wenn es einmal falsch läuft. Solange alles gut geht, behaupten die Leute, sie seien Genies, und sie machen nichts anderes als Bilanzen zu hebeln.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: In Ihrem neuen Buch „The New Robber Barons“ (Die neuen Raubritter) behaupten Sie, es gäbe eine Oligarchie in den Finanzmärkten. Einige wenige Leute betrügen andere und verdienen wie verrückt damit. Was meinen Sie damit?
Janet Tavakoli: Ich bedaure, wenn ich den Eindruck erweckt habe, dass nur einige wenige in betrügerische Geschäfte in den USA verwickelt sind. Es müsste tausende Anklagen wegen Betrugs geben.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sie fordern, dass mehr Investment-Banker ins Gefängnis gehen sollen. Warum?
Janet Tavakoli: Mehr Leute ins Gefängnis? Wie wäre es, wenn überhaupt einmal jemand im Gefängnis landet?
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wie steht es um die Verantwortlichkeit? Wie kann es geschehen, dass jemand wie Jon Corzine von MF Global Milliarden der Anleger verzockt und dann damit durchkommt, dass er einfach sagt: „Sorry Leute, ich weiß einfach nicht, wo das Geld ist.“
Janet Tavakoli: Corzine hat viel Geld gesammelt für den damaligen Senator Barack Obama und seine Kampagne. Er hat auch viel Geld für die Demokraten gesammelt. Wenn man in Amerika viel Geld für eine der beiden Parteien sammelt, bekommt man einen Freibrief – eine „get-out-of-jail free card“. Beide Parteien in den USA lieben Menschen, die Geld für sie sammeln. Die Haltung ist: Wir dürfen diese Leute nicht verärgern, indem wir ihnen klarmachen, dass sie bestraft werden könnten.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Warum werden die führenden Köpfe nie zur Verantwortung gezogen? Jamie Dimon von JP Morgan hat seinen Leuten doch auch Druck gegeben, damit sie mehr und riskantere Wetten abschließen…
Janet Tavakoli: Jamie Dimon hat seinen Leuten Druck gemacht, damit sie mehr Geld für die Bank machen. Aber alle Modelle, die dafür verwendet werden, haben Schwächen, die alle kennen. Diejenigen, die die Grundannahmen der Modelle manipulieren, haben einen Anreiz, gute Zahlen und geringes Risiko zu melden. Diese Leute haben sehr viel Kontrolle über die Profite und Verluste, die sie melden. Und was ist ihr Anreiz? Die Millionen-Bonuszahlungen, die ihnen Dimon im vergangenen Jahr bezahlt hat. Ja – da gab es keine Kontrolle. Und das ist die Verantwortung von Jamie Dimon.
Jamie Dimon ist zur lustigsten Figur an der Wall Street geworden. Er erschien in der TV-Sendung „Meet The Press“, einer sehr populären Fernsehsendung am Sonntagmorgen. Es ist zunächst sehr erstaunlich, dass der ahnungslose Journalist die Antwort akzeptierte, die Dimon ihm gab. Die Frage an Dimon lautete: Wie konnte das passieren? Und Dimon antwortete: „Zunächst einmal, es gab da ein Warnsignal. Wenn man heute zurückblickt, gab es auch andere Warn-Zeichen. Aber im Hinblick auf diese eine Warnung, wissen Sie, wir haben einen Fehler gemacht. Wir gerieten in die Defensive, und die Leute begannen, alles zu rechtfertigen, was wir taten. Wissen Sie, im Leben hat man den Vorteil zu sagen: Vielleicht hast du einen Fehler gemacht, lass uns das mal genauer ansehen. Und der Fehler ist eine Zeitlang geköchelt, so es war eigentlich nicht nur eine Sache.“ Das hat Dimon wirklich wörtlich gesagt, ich übertreibe nicht. Ich bin versucht zu fordern, man müsste eine neue Form der Finanzmarkt-Regulierung einführen: Wenn ein CEO korrupt ist, dann muss er zumindest unterhaltsam sein!
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Warum scheitert jede ernsthafte Regulierung?
Janet Tavakoli: Vor allem, weil sie nichts erzwingt und stafrechtlich verfolgt.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Was kann geschehen, damit das globale Schneeballsystem beendet wird?
Janet Tavakoli: In Gesellschaften, in denen Schneeball-Systeme allgemein als illegal eingestuft warden, muss es eine Strafverfolgung für alle Täter geben.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Ist die europäischen Staatsschulden-Krise auch nichts anderes als ein Schneeballsystem?
Janet Tavakoli: Ich möchte sehr präzise sein, wenn ich von einem Schneeball-System („Ponzi scheme“) spreche: Es handelt sich um ein solches System, wenn neues Geld von neuen Investoren dazu verwendet wird, um alte Investoren auszubezahlen, die ihr Geld bereits in einem gescheiterten Investment verloren haben. Die Sache mit dem Betrug ist: Wenn man einmal damit begonnen hat, wird alles zum Betrug, was darauf aufbaut. Und dann entstehen vielfache Formen von Betrug innerhalb eines einzigen großen Betrugs. Davon handelt mein Buch „The New Robber Barons“. In dem Buch behandle ich auch die europäischen Staatsschulden-Krise, aber ich nenne sie kein Schneeball-System. Ich möchte die verschiedenen Probleme nicht falsch einordnen.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Der US-Finanzminister kommt von Goldman Sachs, ebenso der Chef der Europäischen Zentralbank, ein anderer ist Regierungschef in Italien. Der spanische Wirtschaftsminister ist ein ehemaliger Lehman-Banker. Warum gehen diese Leute in die Politik?
Janet Tavakoli: Es gibt keine bessere Möglichkeit, Zugriff auf die Staatskasse zu erhalten, als in die Politik zu gehen.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sie sind Investorin und Investment-Beraterin: Wie stehen Sie zu Staatsanleihen?
Janet Tavakoli: Ich berate keine Einzelpersonen. Ich verwalte mein eigenes Geld. Mein Fokus ist auf Risko-Management und ich berate Banken, wenn sie untereinander über Risiko-Bewertung streiten. Ich habe mich mit Leuten unterhalten, die sich gegen Risiken bei Staatsanleihen mit Derivaten absichern wollen. Wir wollten das Risiko senken, dass Leute die Vertragstexte manipulieren. In erster Linie schaue ich aber auf die Kreditwürdigkeit.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sie schreiben, dass Inflation Vermögen zerstört. Erwarten Sie in Europa massive Inflation in den kommenden Jahren?
Janet Tavakoli: Europa wird vermutlich eine Stagflation erleben. Preise für Assets werden nach unten gehen, da wird es Deflation geben. Aber die Preise für die Dinge des alltäglichen Lebens, die man kaufen möchte und kaufen muss, werden steigen, weil immer mehr Geld gedruckt werden muss, um die Löcher in den Bilanzen der Banken zu stopfen.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: In Europa werden wir bald den ESM haben – einen permanenten Bailout-Mechanismus ohne Transparenz und Kontrolle. Wird es dadurch neue Spielräume für Finanzjongleure geben?
Janet Tavakoli: Was glauben Sie, was passiert, wenn Sie einem Fremden Kontrolle über eine große Summe Geldes geben, ohne Transparenz und Kontrolle? Darüber hinaus hat dieser Fremde bisher bereist beobachten können, dass Diebe und Leute, die über Geld und Risiken lügen, niemals Strafverfolgung erlebt haben und schon gar nicht jemals dafür ins Gefängnis gekommen sind. Sie fallen niemals bei den Medien in Ungnade, ihre Gesichter finden sie immer noch auf den Titelseiten der Hochglanzmagazine. Schmeichler stehen bei ihnen Schlange, um ihnen zu sagen, wie brillant sie sind. Viel Glück mit Ihrem ESM – ich bin sicher, der wird sehr gut gemanagt. Oder?
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Soll Deutschland aus dem Euro raus?
Janet Tavakoli: Lustig – ich dachte, Sie werden fragen, ob Griechenland aus dem Euro rausgehen sollte. Deutschland wird vielleicht gar keine Wahlmöglichkeit haben.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Glauben Sie, dass es einen Crash geben wird?
Janet Tavakoli: Wenn die anständigen Leute von unseren politischen Führern nicht mit Nachdruck fordern, dass sie endlich Anstand zeigen – was glauben Sie, wie das Ganze enden wird?
Janet Tavakoli ist Gründerin und Präsident von Tavakoli Structured Finance. Das in Chicago ansässige Unternehmen berät Banken, institutionelle Anleger und Hedge Fonds in Fragen des Risiko-Managements, vor allem bei Derivaten. Sie hat mehrere Bücher zu Themen der Finanzmärkte und dem Derivate-Handel verfasst.