Souveränität in der EU – Der wahre Daseinszweck der Union

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Von Berlin nach Athen sind es 2000 Kilometer. Wer diese Strecke zurücklegt, kommt in einer anderen Welt an. Kultur, Sprache und politisches System unterscheiden sich nicht erst seit Ausbruch der grossen Krise grundlegend. Wer hingegen von Moskau nach Magadan im äussersten Osten Sibiriens fliegt, befindet sich nach einer Reise über acht Zeitzonen und Tausende von Kilometern noch immer im selben Land: derselbe Präsident, dieselbe Korruption, dieselben Leninstatuen. Der Westen Europas und das nachsowjetische Russland verkörpern zwei sehr unterschiedliche Entwicklungspfade, ein buntes Flickwerk kleinerer und mittlerer Staaten gegen ein zentralistisches Imperium. Wenngleich dies angesichts galoppierender Staatsschulden und kollabierender Banken momentan nicht recht einzuleuchten scheint, sind Europa und die EU ein Erfolgsmodell. Dieses ist allerdings bedroht – wirtschaftlich, aber mehr noch durch einen politischen Irrweg.

Angst vor der Kernschmelze

Europa verdankt den Erfolg seiner Vielfalt. Portugiesische und spanische Seefahrer dehnten einst den europäischen Einfluss über den Globus aus. Als sich Karavellen und Konquistadoren überlebt hatten, zementierte Grossbritannien diese Vormachtstellung mit seinen Dampfmaschinen. Wettbewerb und Konkurrenz waren stets die Triebfedern, und so ist die Geschichte Europas eine Chronik von Aufstieg und Niedergang einzelner Länder. Auch politisch und religiös ist der Kontinent ein Mosaik, geprägt von der Reformation und der Entstehung der Nationalstaaten. Der Wunsch, anders zu sein, gebar blutige Kriege, aber auch den Toleranzgedanken und die moderne Verfassung. Der Wurmfortsatz der eurasischen Landmasse war trotz seiner geringen Grösse nie eine monolithische Einheit. Selbst die zu Unrecht als Moloch verschriene EU ebnet Gegensätze nicht einfach ein, sondern hält Spannung aus. Komplizierte Verfahren mit vielen Vetomöglichkeiten sorgen dafür, dass nationale Interessen und Eigenarten berücksichtigt werden. Die europäische Einigung hat aus den Griechen keine Sirtaki tanzenden Deutschen gemacht.

Nun aber bewegt sich ein Teil Europas weg von seinem lebendigen Patchwork in Richtung postsowjetischen Zentralismus. Um die Währungskrise einzudämmen, arbeitet der EU-Rats-Präsident Van Rompuy auf Geheiss der Staats- und Regierungschefs eine Reihe von Vorschlägen aus. Sie zielen in ihrem Kern auf ein Kompensationsgeschäft, auf die von den Südländern herbeigesehnte Vergemeinschaftung der Schulden gegen eine umfassende Haushaltskontrolle durch Brüssel. Die Mitglieder der Euro-Zone verlören damit ihre finanzielle Selbständigkeit. Die Budgethoheit der nationalen Volksvertretungen, das Königsrecht des Parlamentarismus, wäre perdu. Selbst Kanzlerin Merkel plädiert inzwischen für die Verlagerung von Kompetenzen nach Brüssel. Aus Angst vor einer Kernschmelze – der Ansteckung Italiens und Frankreichs und dem Zerfall der Währungsunion – scheint man bereit, bisher sakrosankte Prinzipien zu opfern.

Angst ist kein guter Ratgeber. Da die Währungsunion und die Methode der beständig fortschreitenden Integration nicht recht funktionierten, soll die Integration erst recht vertieft werden. Ein Paradox, der Panik geschuldet. Zugleich will man den Kardinalfehler von Maastricht wiederholen. Weil François Mitterrand fürchtete, das wiedervereinigte Deutschland werde sich zum Hegemonen aufschwingen, erzwang er das Ende der Deutschen Mark. Mit den Instrumenten der Ökonomie versuchte er, ein politisches Problem zu lösen. Nun will man mit politischen Mitteln des Mangels an Haushaltsdisziplin und Wettbewerbsfähigkeit Herr werden. So wie sich François Mitterrand und Helmut Kohl wenig um die wirtschaftlichen Auswirkungen scherten, ignoriert man jetzt die politischen Risiken und Nebenwirkungen ökonomischer Entscheidungen.

Die Mehrheit der EU-Bürger lehnt eine weitere Übertragung von Befugnissen an die EU ab, Umfragen belegen dies. Die Quelle der Legitimation sind nach wie vor die nationalen Parlamente. Alle Aufwertungen des EU-Parlaments in den letzten Jahrzehnten konnten daran nichts ändern. Pläne einer politischen Union laufen daher Gefahr, durch Referenden gestoppt zu werden. Schon der zu Beginn des Jahrtausends auf den Weg gebrachte Verfassungsvertrag scheiterte am Nein der Franzosen und der Niederländer, obwohl er sich weitgehend auf Symbolisches beschränkte. Die Verfassung blieb eine Schimäre, weil es kein europäisches Staatsvolk, keine gesamteuropäische Öffentlichkeit und keine gemeinsamen Parteien gibt. Aus diesem Grund traten die Staaten der Union auch nie Hoheitsrechte ab, die sie zum Kernbestand ihrer Souveränität zählen. Es wäre daher falsch, den Einstieg in eine Entwicklung zu wagen, welche die EU von Grund auf umgestaltete und aus einem Staatenbund einen Bundesstaat machte, nur weil man in der Not nach jedem Strohhalm zu greifen bereit ist. Im schlimmsten Fall finden sich alle in einer Zwangsgemeinschaft wieder, während es den Haushaltssündern trotzdem gelingt, Sparauflagen trickreich zu unterlaufen.

Unterschiedliche Lehren aus der Geschichte

Befürworter einer politischen Union erinnern warnend daran, dass der Kollaps deutscher Banken Ende der zwanziger Jahre zur Weltwirtschaftskrise und zum Aufstieg Hitlers führte. Historische Analogien leiten oft in die Irre, vor allem wenn sie aus dem Kontext gerissen werden. Zur Geschichte des 20. Jahrhunderts gehören auch die Friedenskonferenzen von Versailles und Potsdam, die im Versuch, den Kontinent am grünen Tisch umzugestalten, Unheil stifteten. Viele Deutsche wählten Hitler, weil sie sich von ihm ein Ende der Wirtschaftsmisere wie der in Versailles oktroyierten Bedingungen versprachen. Der Wunsch nach Selbstbestimmung mündete in der Katastrophe, 1989 hingegen wurde zum Triumph der Freiheit: Der Osten Europas entledigte sich der in Potsdam besiegelten sowjetischen Vormundschaft. Die Europäer haben also Übung darin, ihnen aufgezwungene Ordnungen abzuschütteln. Der EU gelang dann, woran Versailles und Potsdam gescheitert waren. Der freiwillige Zusammenschluss befriedete den Kontinent und schuf einen dank der Vielfalt stabilen Rahmen. Dies ist der Daseinszweck der Union und nicht Umverteilung zulasten des Nordens, kombiniert mit der strengen Erziehung der Südeuropäer. Die Euro-Eliten setzen dieses Erbe aufs Spiel, wenn sie mit den europäischen Traditionen brechen und sich für fiskalische Uniformität und politische Einheitskost entscheiden. Werden die auf ihrer Eigenständigkeit beharrenden Völker überfordert, dann steht am Ende dieses Prozesses nicht mehr Integration, sondern Spaltung und Zerfall.

Quelle: PRAVDA-TV/Neue Zürcher Zeitung vom 17.06.2012

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