Ist das Gottesteilchen nun endlich entdeckt? In mehreren Blogs kursieren entsprechende Gerüchte – und sogar konkrete Zahlen. An den Messungen beteiligte Physiker wollen die Entdeckung jedoch nicht bestätigen.
Ein Higgs-Boson findet man nicht alle Tage. Kein Wunder, dass Gerüchte über den Nachweis des rätselhaften Teilchens in den Blogs von Wissenschaftlern schnell die Runde machen. Schließlich geht es um ein äußerst mysteriöses und zugleich enorm wichtiges Teilchen, denn das Higgs-Boson verleiht Materie Masse. So zumindest die Theorie.
Peter Woit, Mathematiker an der Columbia University, hat die Spekulationen nun mit einem Blogeintrag angeheizt. Er war gerade zu einer mehrtägigen Wandertour im Grand Canyon unterwegs, als er von den neuen Messdaten aus Genf erfuhr. „Verlässliche Gerüchte können nicht warten“, tippte er in sein Smartphone, der Text landete umgehend auf seiner Blog-Seite. Neue Messdaten bestätigten Ergebnisse aus dem Vorjahr, nur diesmal mit höherer statistischer Sicherheit. Es gebe starke Hinweise auf das Higgs-Boson im Massebereich von 125 Gigaelektronenvolt (GeV).
Woits Informationen stammen offenbar aus erster Hand – von Wissenschaftlern, die an den Experimenten Atlas und CMS beteiligt sind. Beide finden am LHC bei Genf statt, dem größten und leistungsstärksten Teilchenbeschleuniger der Welt am Kernforschungszentrum Cern. „Ich höre von beiden Experimenten, dass es eine Vielzahl von Daten gibt, welche die Signifikanz des Signals erhöhen“, schreibt Woit.
Über erste konkrete Hinweise auf die Entdeckung des Higgs-Boson im Bereich von 125 GeV hatten die Physiker zuletzt im Dezember berichtet. „Die statistische Signifikanz reicht jedoch noch nicht aus, um definitive Aussagen zu machen“, sagte CMS-Sprecher Guido Tonelli damals. Was man beobachtet habe, könne sowohl mit Hintergrund-Fluktuationen, also dem Zufall, oder der Existenz des Higgs-Boson erklärt werden. Man benötige mehr Daten, um die Signifikanz der Ergebnisse zu erhöhen, erklärten die Wissenschaftler.
Diese Messdaten liegen nun offensichtlich vor. Ein deutscher Forscher bestätigte dies in einer E-Mail an SPIEGEL ONLINE: „Sie haben sicher Gerüchte zur Higgs-Suche gelesen. In der Tat haben wir letzte Woche am Freitag in die Daten geschaut und wurden nicht enttäuscht.“ Nähere Informationen könne er aber nicht geben, auch weil die Daten erst noch vollständig ausgewertet werden müssten.
Higgs-Gerüchte? Kein Kommentar!
Die Forscher stecken in einem Dilemma: An den Messungen und der Datenauswertung sind Hunderte Physiker beteiligt. Jedes Einzelexperiment wird von einem Sprecher koordiniert, aber die Entdeckung eines Teilchens wird stets dem gesamten Team zugeschrieben und nicht etwa einzelnen Kollegen. Wenn einzelne Wissenschaftler nun aber spektakuläre Zwischenergebnisse über Blogs in die Welt posaunen, bevor diese im großen Team geprüft und abgesegnet sind, kommt das bei vielen Forschern gar nicht gut an.
Tommaso Dorigo, selbst am CMS-Experiment beteiligt, zeigt sich wenig erfreut über die neuen Higgs-Gerüchte: „Ich kann diese nicht kommentieren und verlinke nicht mal darauf“, schreibt er in seinem Blog A Quantum Diaries Survivor. Unter seinen Kollegen gebe es immer mehr „empfindliche Reaktionen“ auf derartige Meldungen.
Ein anderer Teilchenphysiker redet seinen Kollegen im Collider Blog regelrecht ins Gewissen: „Wollt ihr Gerüchte verbreiten?“ lautet die rhetorische Frage – und zumindest für den Blogger, der ebenfalls am Cern forscht, lautet die Antwort: nein. „Als Mitglied der CMS-Kollaboration weiß ich genau, wo wir stehen“, schreibt er. Seine Loyalität gelte den Kollegen, die jetzt gerade arbeiteten, Daten analysierten und Ergebnisse verifizierten. „Etwas Furore in einem Blog ist es nicht wert, all diese Menschen zu verärgern.“
Aber selbst wenn der Großteil der Forscher es ablehnt, zum jetzigen Zeitpunkt über Zwischenergebnisse zu reden – irgendjemand wird es immer tun. Vor allem, wenn Hunderte oder gar Tausende an den Experimenten beteiligt sind, wie am Teilchenbeschleuniger LHC.
Auf die seriös ausgewerteten Messdaten muss die Welt freilich noch etwa drei Wochen warten. Anfang Juli wollen die Wissenschaftler neue Ergebnisse auf der 36. International Conference on High Energy Physics (Ichep 2012) im australischen Melbourne vorstellen.
Glaubt man Peter Woit, dann erreicht die Kombination der Messdaten aus dem Vorjahr mit aktuellen Werten eine höhere Signifikanz als bislang möglich war. Ende 2011 lag dies für den Wert von 125 GeV bei drei Sigma, nun sollen es bereits vier Sigma sein. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Messungen Zufall sind, ist damit deutlich gesunken. Richtig zufrieden werden die Teilchenphysiker aber erst sein, wenn die Signifikanz bei fünf Sigma liegt.
Quellen: CERN/AFP/Der Spiegel vom 18.06.2012
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