Viele Inder sind unterernährt – zugleich verrotten in dem Land derzeit Millionen Tonnen von Weizen. In Nordindien türmen sich Berge von Getreide, die von Schimmel geschwärzt sind. Grund für das Drama: gute Ernten, zu wenig Lagerkapazität.
Die Situation in Indien trägt bizarre Züge. In dem Land, das voraussichtlich schon bald das bevölkerungsreichste der Welt sein wird, leidet nach Angaben der Weltbank fast jedes zweite Kind an Unterernährung. Während die Regierung versucht, mit Essensprogrammen an Schulen das Problem zu bekämpfen, verrotten anderswo gigantische Mengen an Getreide.
Entlang einer Fernstraße im Norden Indiens türmen sich wahre Berge aus Weizen, die kürzlich von Regen durchtränkt wurden und jetzt von schwarzem Schimmel überzogen sind. Millionen Tonnen Getreide verrotten, weil es in dem Land keine Lagerkapazitäten mehr gibt.
Die Episode illustriert ein Problem, das weltweit gilt: Theoretisch ist die globale Landwirtschaft durchaus in der Lage, die aktuelle Weltbevölkerung zu ernähren – selbst wenn sie noch kräftig wächst. Nur gibt es große Defizite beim Verteilen der Nahrung. Auch Indien kann genügend Nahrung für seine 1,2 Milliarden Bewohner produzieren – scheitert aber daran, sie angemessen zu lagern und zu transportieren. Gewaltige Mengen an Weizen und Reis werden nicht selten auf den Feldern unter einfachen Planen angehäuft, wo sie leicht verderben können.
Weizenberge türmen sich schon seit einem Jahr
Ernährungsminister K.V. Thomas sagte am Donnerstag, die Regierung unternehme „alle notwendigen Schritte“, um die Lagerkapazitäten zu erhöhen. Man versuche, Anreize für Privatunternehmen zu schaffen, in Lagerhäuser zu investieren. Zudem würden bis Jahresende neue Speicher gebaut.
Oppositionsparteien und auch einige Politiker der Regierungskoalition sprachen angesichts der vergammelnden Getreidemassen von einem Skandal. „Während Menschen an Hunger sterben, verrottet Getreide unter freiem Himmel“, sagte Sharad Yadav, ein führender Oppositionspolitiker. „Wir sehen uns einer ernsthaften Nahrungsmittelkrise gegenüber, und der Regierung ist diese kolossale Verschwendung egal.“
Die Weizenberge liegen bereits seit mehr als einem Jahr unter freiem Himmel. Die Plastikplanen, die das Getreide vor der Witterung schützen sollten, wurden mit der Zeit löchrig – und haben Regen, Frost und Sonnenstrahlung den Weg gebahnt. Auf einer Fläche eines Fußballfelds stapeln sich Hunderttausende Weizensäcke fast drei Meter hoch. Einige sind aufgeplatzt, der Weizen ist zu schwarzen Klumpen erstarrt. Zahlreiche Arbeiter sind derzeit damit beschäftigt, das noch essbare Getreide neu zu verpacken und zu verkaufen.
Der Überschuss ist ein Ergebnis von vier reichen Ernten innerhalb der vergangenen fünf Jahre. 2012 wird Indien nach Angaben von Minister Thomas voraussichtlich 253 Millionen Tonnen Getreide produzieren, rund zehn Millionen Tonnen mehr als 2011. Im April hatte die für den Getreide-Einkauf zuständige Behörde vor einem dramatischen Engpass bei den Lagerkapazitäten gewarnt.
Zu einem Export von Getreide in größerem Stil konnte sich die Regierung bisher nicht durchringen – aus Angst vor Protesten, denn die Lebensmittelpreise sind im vergangenen Jahr um zweistellige Prozentzahlen gestiegen. Laut Regierungsangaben wird Indien in diesem und im nächsten Haushaltsjahr lediglich bis zu sieben Millionen Tonnen Reis exportieren. Experten haben auch vor einem verbilligten Verkauf des Getreides an die Armen gewarnt – weil dies das Defizit Indiens vergrößern würde.
Das aber ruft seinerseits scharfe Kritik hervor. „In einem Land mit einer der weltweit größten Quoten an unterernährten Kindern und dem größten Anteil an hungernden Menschen grenzt es an ein Verbrechen, Getreide verrotten zu lassen“, sagte Biraj Patnaik, der das oberste Gericht Indiens in Fragen der Ernährungspolitik berät. Dass das Getreide „allein aus fiskalischen Gründen zurückgehalten wird, ist besonders erschreckend“.
Quellen: AP/Der Spiegel vom 11.05.2012