Griechenland schlittert ins Regierungschaos, ein Austritt des Landes aus der Euro-Zone wird wahrscheinlicher. Fitch-Chef Taylor hält das Risiko für vertretbar. Im Interview erläutert er, warum Deutschland den Rest der Währungsunion jederzeit retten würde.
Europa blickt bang nach Griechenland. Kaum jemand rechnet noch damit, dass nach der Parlamentswahl vom Sonntag eine Regierung zustande kommt. Schon stehen die Zeichen auf Neuwahlen. Es mehren sich die Zweifel: Was passiert, wenn die Euro-Retter das nächste Mal nach Griechenland reisen und feststellen, dass das Land seine Sparversprechen nicht mehr einhalten kann? Was, wenn sie ihre Milliardenhilfen nicht mehr auszahlen?
Seit der Denkzettel-Wahl vom Sonntag wird der Austritt Griechenlands aus der Währungsunion wahrscheinlicher. Erstmals muss sich Europa die Frage stellen: Was passiert wirklich, wenn ein Land die Euro-Zone verlässt? Wie groß ist der Vertrauensschaden an den Märkten? Wird es einen Dominoeffekt geben, der andere hoch verschuldete Länder wie Portugal auch aus dem Euro drängt?
„Scheitert Griechenland, scheitert der Euro“, behaupten manche Wirtschaftsexperten. Paul Taylor, der Chef der Rating-Agentur Fitch, sieht das anders. SPIEGEL ONLINE hat den Manager auf dem Wirtschaftssymposium von St. Gallen getroffen. Im Interview erklärt er, warum er einen Austritt einiger Länder aus der Währungsunion für verkraftbar hält. Er warnt zudem vor allzu großen Hoffnungen in eine europäische Rating-Agentur – und wehrt sich gegen den Vorwurf, sein Unternehmen habe die Krise mit undurchsichtigen Bonitätsbewertungen verschärft.
Das komplette Interview im Wortlaut.
SPIEGEL ONLINE: Herr Taylor, kennen Sie den Rating-Reflex?
Taylor: Nein, was ist das?
SPIEGEL ONLINE: Wenn Sie und Ihre Rating-Kollegen ein Land mit der Bestnote Triple-A beglücken, brüstet sich die Regierung: „Hurra! Wir sind Triple-A.“ Wenn Sie es herabstufen, heißt es plötzlich: „Ach, diese Ratings. Völlig überbewertet.“
Taylor: Ja, diese Reaktion ist mir bekannt.
SPIEGEL ONLINE: Solch beliebiger Umgang mit ihren Noten spricht nicht gerade für ein hohes Ansehen ihrer Branche in der Politik. Stecken Rating-Agenturen in der Vertrauenskrise?
Taylor: Der Reflex ergibt keinen Sinn. Unsere Bewertungen sind ein technisches Werkzeug für die Finanzmärkte. Etwas für Profis, die die Grenzen von Ratings begreifen.
SPIEGEL ONLINE: Politiker begreifen Ihre Ratings nicht?
Taylor: Politiker haben keine Macht über die Ratings ihrer Länder. Sie suggerieren aber manchmal, dass es so wäre. Oder sie nutzen Ratings für populistische Zwecke. Beides sollte aufhören.
SPIEGEL ONLINE: Verstehen kann man den Unmut aber schon. Es wirkt so, als verkündeten Rating-Agenturen ihre Hiobsbotschaften meist ausgerechnet dann, wenn die Euro-Zone gerade wieder ein bisschen Hoffnung schöpft. Für Außenstehende sind Ihre Entscheidungen oft nicht nachvollziehbar.
Taylor: Die Wahrnehmung ist verzerrt. Beispiel Frankreich: Wir haben nur gesagt, dass wir das Land möglicherweise in den kommenden Monaten von der Top-Note AAA auf eine immer noch sehr gute Note herunterstufen. Schon das provozierte einen Sturm der Entrüstung.
SPIEGEL ONLINE: Ende Januar stuften Sie auf einen Schlag fünf Länder der Euro-Zone herab. Waren die Reaktionen darauf auch übertrieben?
Taylor: Sehen Sie sich einmal an, wie die Ratings der Euro-Zonen-Länder sich seit dem Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2007 entwickelt haben. Die Werte verändern sich sehr langsam. Es gab signifikante Anpassungen, aber in den allermeisten Ländern keine dramatischen.
SPIEGEL ONLINE: Viele Europäer haben es dennoch satt, dass US-Firmen die Deutungshoheit über die finanzielle Lage in Euro-Ländern haben. Jetzt soll eine europäische Rating-Agentur entstehen. Was halten Sie von der neuen Konkurrenz?
Taylor: Ich habe nichts gegen Wettbewerb. Ich wundere mich nur darüber, wie viele Anhänger eine solche Agentur hat. Es scheint die Hoffnung zu geben, dass eine europäische Agentur bessere Ratings für Europa vergibt. Ich glaube nicht, dass ein solch patriotischer Ansatz Vertrauen schafft.
SPIEGEL ONLINE: Ihr Geschäftsmodell schafft auch nicht gerade Vertrauen. Ihre Agentur lässt sich von denjenigen bezahlen, deren finanzielle Situation sie bewertet.
Taylor: Unser Geschäftsmodell ist unproblematisch. Finanzen und Ratings sind strikt getrennt. Die Einhaltung dieser Trennung wird streng überwacht.
SPIEGEL ONLINE: Die europäische Rating-Agentur will selbst den leisesten Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit vermeiden. Sie will sich von Investoren finanzieren lassen.
Taylor: Ich glaube nicht, dass man mit diesem Geschäftsmodell die Mittel zusammenbekommt, um im globalen Wettbewerb konkurrieren zu können.
SPIEGEL ONLINE: Kritiker werfen Ihrer Agentur und Ihren US-Kollegen außerdem Inkompetenz vor. Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble bezweifelt, dass Sie wirklich begriffen haben, was Europa schon alles an Reformen auf den Weg gebracht hat.
Taylor: Ich bin Europäer. Und ich bin für mehr Europa. Wäre die Euro-Zone ein einziges Land, würde sie von uns ein Triple-A-Rating bekommen.
SPIEGEL ONLINE: Das überrascht. Woher kommt dieser plötzliche Vertrauensbonus?
Taylor: Wir gehen davon aus, dass Europas stärkste Wirtschaft die Euro-Zone weiter stützen wird – und im Gegenzug strukturelle Reformen vorantreibt. Das hat bislang gut funktioniert. So kaufte die Europäische Zentralbank mit deutschem Segen italienische Staatsanleihen. Gleichzeitig drängte Deutschland auf ein italienisches Sparpaket. Die Zinsen für italienische Staatsanleihen sanken, Italien sparte – und bekam einen sparwilligeren Regierungschef.
SPIEGEL ONLINE: Dieser Kurs stößt gerade an seine Grenzen. Bei den Wahlen in Athen und Paris haben die Spar-Falken an Macht verloren.
Taylor: Richtig ist, dass die Unmutsrhetorik steigt. Das bedeutet aber nicht, dass sich auch die Politik ändert. Auch ein Präsident François Hollande wird sich den Sachzwängen unterordnen.
SPIEGEL ONLINE: Griechenland schlittert in die Unregierbarkeit. Ein Austritt des Landes aus der Euro-Zone wird immer wahrscheinlicher. Wäre das das Ende der gemeinsamen europäischen Währung?
Taylor: Nein. Griechenlands Austritt bedeutet nicht das Ende des Euro. Vor allem Deutschland hat ein fundamentales Interesse, dass die gemeinsame Währung erhalten bleibt. Würde die D-Mark wieder eingeführt, würde sie im Vergleich zu anderen Währungen stark aufwerten. Die Exportindustrie, sprich: der Motor der deutschen Wirtschaft, würde geschädigt. Das wird Deutschland nicht zulassen – selbst wenn ein oder mehrere Länder den gemeinsamen Währungsraum verlassen.
SPIEGEL ONLINE: Wäre es nicht besser, zu stark überschuldeten Ländern einen Teil ihrer Verbindlichkeiten zu erlassen – so wie in Griechenland geschehen?
Taylor: Nein. Dieser Schuldenschnitt hatte katastrophale Folgen. Investoren wurde versprochen, dass die Währungsgemeinschaft ihre Mitglieder stets stützt. Das Versprechen wurde gebrochen, das Vertrauen in die Euro-Zone tief erschüttert. Nun fragen sich ausländische Investoren: „Und was passiert demnächst in Portugal oder Spanien?“ Viele ziehen ihr Geld ab.
Quellen: Reuters/Der Spiegel vom 08.05.2012