Angesichts dessen, was sich gerade weltweit und an den Grenzen der EU und ihrer Staaten abspielt, neigen manche dazu, das Problem der Armut in Deutschland zu vergessen.
Oder man spricht von einem Luxusproblem oder gar vom Jammern auf hohem Niveau. Doch nichts könnte falscher sein. Einmal weil es schlicht falsch ist, ein Elend angesichts eines Anderen zu relativieren oder gar das Eine gegen das Andere auszuspielen.
Und andererseits, weil sich das Problem weiter verschärft und immer größere Bevölkerungsteile sich sprichwörtlich warm anziehen müssen. Auch und gerade im vermeintlichen Schlaraffenland Deutschland.
Im Moment und in den nächsten Wochen werden Sie von diesem ungeliebten Thema so gut wie nichts mitbekommen. Denn Regierung und Parteien sind schon jetzt, knapp ein Jahr vor der Bundestagswahl, im Wahlkampfmodus und werden ihr Versagen so gut wie möglich ausblenden (Scharfe Kritik an Merkel: Kanzlerin hält Millionen Deutsche absichtlich in Armut (Video)).
Das gleiche gilt EU-weit, denn die Brüsseler Kommission wird sicher nicht gern an ihre vollmundigen Versprechen erinnert, bis 2020 die Zahl der von Armut bedrohten Menschen drastisch zu senken. Denn bislang hat sie genau das Gegenteil erreicht: die Quote der von sozialer Ausgrenzung und Armut bedrohte EU-Bürger lag 2014 bei 24,4%, während sie 2010 noch bei 23,8 % lag.
Insgesamt gibt es in Europa etwa 122 Millionen Menschen, die weniger als 60 % des landesweiten „medianen Äquivalenzeinkommens“ verdienen und somit von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen oder bedroht sind. In Deutschland liegt dieses Einkommen bei etwa 930 € pro Kopf.
Hier, in einem der reichsten Länder der Welt, steigt diese “relative Einkommensarmut” seit vielen Jahren kontinuierlich an: waren 2010 noch 16 Millionen Bundesbürger von Armut betroffen, so ist deren Zahl bis 2014 um eine halbe Million gewachsen.
Damit befindet sich mehr als ein Fünftel der deutschen Bevölkerung im Dunstkreis der Armut. Besonders betroffen sind bekanntermaßen Arbeitslose, Geringverdiener, Alleinerziehende, Rentner, chronisch Kranke, Behinderte und Migranten. “Die Gründe sind kein oder nur ein geringes Einkommen, unsichere Wohnverhältnisse, Schulden, soziale Ausgrenzung oder chronische Krankheiten und psychische Probleme. Hinzu kommt: Je geringer die Bildung, desto mehr steigt das Risiko, in Armut zu geraten.”
Dass Armut nicht erst dort beginnt, wo gehungert und gefroren wird, muss man heute hoffentlich niemandem mehr erklären. Armut fängt dort an, wo an “zentralen Lebensbereichen wie Wohnen, Bildung, Gesundheit, Arbeit, Einkommen, Kleidung, Ernährung, Transport und Kommunikationsmöglichkeiten” nicht oder nur eingeschränkt teilgenommen werden kann.
Denn dieser Ausschluss belastet auf Dauer die körperliche und geistige Gesundheit und senkt mit zunehmender Dauer auch die Chancen, aus den diversen damit verbundenen Teufelskreisen wieder herauszukommen. Vor allem bei Kindern können die Folgen verheerend sein: Mangelernährung, hohe Krankheitsanfälligkeit, soziale Isolation und Suchtprobleme.
Laut Guido Grandt würden viele Bedürftige in Deutschland ohne die bundesweit aktiven Tafeln, “die qualitativ einwandfreie Nahrungsmittel” verteilen, “die bei Lebensmittelproduzenten, in Supermärkten, Hotels, Restaurants oder auf Wochenmärkten nicht mehr verkauft” bzw. weggeschmissen werden, tatsächlich „hungern“. Mittlerweile gibt es bundesweit mehr als 2.100 Tafel-Läden und Ausgabestellen. “60.000 HelferInnen engagieren sich ehrenamtlich dafür. So werden bis zu 1,5 Millionen bedürftige Arme regelmäßig unterstützt. Darunter 23 % Kinder und Jugendliche, 53 % Arbeitslosen- oder Sozialgeld-Empfänger, Spätaussiedler und Migranten. Und etwa 24 % Rentner.”
Die Ursachen für überall steigende Massenarmut sind hinlänglich bekannt und lassen sich vor allem unter dem Schlagwort Neoliberalisierung zusammenfassen. Damit ist keine freie marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung bezeichnet, sondern eine alles andere als freie Ideologie, die den Begriff des Liberalismus entfremdet und pervertiert hat (Deutschland: Armutsbericht widerlegt Propaganda vom sozialen Aufschwung).
Sie führte auch zu dem rasant wachsenden Dumpinglohnsektor (seit 1991 rund 140% Wachstum), in dem Menschen auch in Vollzeit nicht mehr “von ihrer Hände Arbeit” leben können. Und als Rentner nicht ansatzweise genug Geld aus den Pensionskassen zurückbekommen oder angespart haben.
Die Wortführer dieser Entwicklung kommen dann mit Lösungsvorschlägen wie dem Renteneintrittsalter von 85 Jahren. Rentner werden hier zum “„Kollateralschaden“ einer europäischen und damit auch deutschen Finanzpolitik, die die Sparguthaben, die Altersvorsorge (Lebensversicherungen, Bausparverträge etc.), die Rente, sprich das gesamte Vermögen vernichtet.”
Warum ist es eigentlich so schwer, wieder herauszukommen, wenn man einmal in die Armuts- und Prekariatsfalle geraten ist? Neben den gängigen Erklärungen wie abnehmende Gesundheit und Energie liegt dies wohl auch an sozialen Ängsten und emotionalen Problemen. Denn wer lässt sich schon gern entwürdigend durchleuchten oder setzt sich schiefen Blicken der lieben Mitmenschen aus?
Die Angst vor den Urteilen Anderer dürfte ein wichtiger und unterschätzter Lähmungsfaktor sein. Niemand will als “schwach” und “abhängig” gesehen werden, weshalb man sich im schlimmsten Fall lieber zurückzieht und dem “Schicksal” ergibt, als sich angreifbar und sichtbar zu machen und alle verfügbaren Hilfen in Anspruch zu nehmen. Sich von dieser Angst zu befreien, kann ein Generalschlüssel zu Freiheit auch in anderen Bereichen sein. An dieser Freiheit kann und sollte man am besten schon arbeiten, BEVOR ein finanzieller und/oder sozialer Abstieg droht. Denn leider ist kaum anzunehmen, dass sich die Trends in den nächsten Jahren umkehren werden.
Im Gegenteil, es wird auch von immer mehr Menschen, die momentan noch auf deutlicher Distanz zur “offiziellen Armut” sind, immer mehr Kreativität abverlangt werden, um sich nur auf dem aktuellen Niveau zu halten. Denn ob arm oder reich, für alle gilt, dass die “Ausgaben fürs Leben” in Deutschland seit 2010 um 15 % gestiegen sind und weiter steigen werden. Das sagen nicht die Stammtische, sondern das Statistische Bundesamt. Diese “wahre Inflation” betrifft die Preise für Miete, Dienstleistungen und Konsumgüter und liegt sehr viel höher als die offiziellen, wohlklingenden 1 bis 2%.
Wie Geolitico sehr treffend feststellt, ergibt sich für viele Arbeitnehmer “aus steigenden Lebenshaltungskosten ein ganz banales Problem: Sie brauchen mehr Geld.” Tja, so einfach ist das, jetzt muss man nur noch an etwa 15% mehr davon rankommen. Dazu Geolitico weiter:
“Wer schon eine Gehaltsverhandlung hinter sich hat, weiß aber: Es gibt wenig unangenehmere Dinge im Berufsleben, als den Chef um eine Lohnerhöhung zu bitten. Geld ist nach wie vor ein heikles Thema, sodass es sehr viel Überwindung kostet, diesen Schritt zu machen.”
Zu recht, denn nicht selten gibt es statt besserer Entlohnung nur ein abgekühltes Verhältnis zum Chef. “Stattdessen kann man seinen Chef aber auch nach sogenannten Zusatzleistungen fragen. Das sind zweckgebundene monatliche Freibeträge, die das Einkommenssteuergesetz erlaubt. Arbeitnehmer profitieren davon insofern, als dass sie diese komplett behalten können und sie in den Bereichen, in denen sie vorgesehen sind, erhebliche Einsparungen bedeutet.”
Arbeitgeber können diese Leistungen als Betriebskosten abschreiben und haben mit hoher Wahrscheinlichkeit zufriedenere Mitarbeiter, die bereitwillig bessere Leistung abliefern.
Im Geolitico-Artikel finden Sie die möglichen Zusatzleistungen detailliert aufgezählt. Sie betreffen Ausgabenposten wie Fahrt- und Reisekosten, Essen in der Kantine, Kinderbetreuung, Computer und Geräte für den Haushalt und Gesundheitsförderung wie Rückentraining oder Antistress-Training.
Ein kluges Zusatzleistungskonzept kann den Arbeitnehmer so weit entlasten, dass es einer deutlichen Gehaltserhöhung gleichkommt, während es für den Arbeitgeber eine deutlich geringere Zusatzausgabe bedeutet als die entsprechende Erhöhung des Bruttogehalts. Geolitico verlinkt praktischerweise auch gleich auf ein Buchhaltungsprogramm, dass die korrekte Abwicklung garantiert und Probleme mit dem Fiskus verhindert.
Wir haben uns in diesem Artikel auf die Situation in Deutschland konzentriert. Es dürfte klar sein, dass die Armen in den südeuropäischen Ländern mit all diesen Problemen in nochmals verschärfter Form konfrontiert sind. In der Wohlfühloase Deutschland wird vermutlich bis zur Bundestagswahl weiterhin alles getan werden, damit Sie möglichst nur Meldungen über “Rekordbeschäftigung, Rekordsteuereinnahmen, Rekordwettbewerb, Rekordkonjunktur” lesen (Altersarmut: Fast 1 Million Rentner brauchen Minijob zum Überleben).
So will Bundeskanzlerin Merkel laut Guido Grandt “das Rentendebakel aus dem Bundestagswahlkampf tunlichst heraushalten. Dazu ist sie bereits auf die anderen Parteien zugegangen. Ihre Begründung: Ein „Rentenwahlkampf“ würde nur zur „Verunsicherung von Millionen Menschen“ führen”.”
Besser Sie lassen sich davon nicht blenden. Spätestens nach der Wahl wird sich das gezeichnete Renten- und Armuts-Bild auch in der offiziellen Medienlandschaft drastisch ändern.
Literatur:
Deutschland am Abgrund: Wir schaffen das… von Sarah Wagner
Steueroase Deutschland: Warum bei uns viele Reiche keine Steuern zahlen von Markus Meinzer
Armut in einem reichen Land: Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird von Christoph Butterwegge
Quellen: PublicDomain/krisenvorsorge.com am 07.09.2016
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Während meiner Radtour bin ich gestern von den Landungsbrücken HH zur Reeperbahn hochgeschoben und habe dort unter der großen Brücke ein Lager von ca. 20 Obdachlosen
gesehen, Die Brücke ist sehr breit, waren zwar gerade nicht alle dort aber die Struktur des Lagers ließ darauf schließen.
Die „Neuen“ von wo anders werden wohl nicht dabei gewesen sein, denn die bekommen ja wenigstens einen Turnhallenplatz.